Der Ukraine-Konflikt und die veränderten internationalen Beziehungen

Der Westen kann sich die Ablösung der westlichen Hegemonie nur als Rückkehr zur Bipolarität oder als Neuauflage des Kalten Krieges vorstellen

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Im Ukraine-Konflikt hat der Westen sein Feindbild und sein Selbstbewusstsein wieder gefunden. Offen bleibt, welche internationalen Konstellationen sich daraus entwickeln. Beginnt gerade ein neuer Kalter Krieg? Eine Rückkehr zur bipolaren Welt? Erleben wir den Durchmarsch der alleinigen Weltmacht USA? Oder den Beginn eines großen globalen Durcheinanders? Mit seinem harten Vorgehen gegen Russland schweißt der Westen antihegemoniale Bündnisse fester zusammen. Seine internationalen Machtstrategien stoßen zunehmend auf Widerstand. Kleiner Versuch einer Gesamtschau.

Bild: Nasa

Für das Selbstbewusstsein des Westens erweist sich der internationale Konflikt um die Ukraine als reinster Jungbrunnen. Eben noch eine Ansammlung "marktkonformer Demokratien" in EU-Europa und eine westliche Führungsmacht, deren völkerrechtswidrige Kriege und international praktizierte Foltermethoden man mit Grausen zur Kenntnis nahm, wandelte sich der Westen in kurzer Zeit wieder zur "Wertegemeinschaft", die ihre historische Rolle im Kampf gegen die finsteren Mächte der Unfreiheit findet. Leitartikler zögerten nicht, eine Zeitenwende auszurufen, eine neue Ära, die, glauben wir Michael McFaul, dem ehemaligen US-Botschafter in Moskau, eine Ära der Konfrontation mit "Putins Russland" sein müsse. Im Weißen Haus wurde die alte Strategie reaktiviert, Russland weltweit zu isolieren und in einen "Paria-Staat" zu verwandeln. Und auch die Nato hatte wieder ihren Feind gefunden. Die Welt teilte sich nach alter Gewohnheit in Gut und Böse und der Westen konnte seinen Anspruch auf eine globale Führungsrolle wieder legitimieren.

Doch kaum waren die Instrumente der neuen Konfrontationsstrategie im Einsatz, stellte sich heraus, dass sich die Welt tatsächlich grundlegend geändert hat, dass längst eine neue Ära existiert, aber eine, die so gar nicht zu den Vorstellungen des Westens passen will. Russlands Präsident Wladimir Putin konnte zwar problemlos vom G8-Gipfeltreffen ausgeschlossen werden. Doch schon bei der G20 scheiterte dieser Versuch am einhelligen Widerstand der BRICS-Gruppe. Auch die Wirtschaftssanktionen wirken nur begrenzt, weil BRICS-Staaten und eine Reihe weiterer Länder in die Marktlücken sprangen, die von der Sanktionspolitik gerissen wurden.

Der Westen macht im Ukraine-Konflikt die Erfahrung, dass Russland Teil von etwas ist, das sich seiner Kontrolle zunehmend entzieht. Die tektonischen Verschiebungen im internationalen System seit Beginn dieses Jahrhunderts, der Aufstieg neuer Wirtschaftsmächte und die Entwicklung antihegemonialer Allianzen - all das wird nun im Kräftemessen zwischen den Westen und "Putins Russland" manifest. Die Frage nach der neuen Ära muss deshalb anders gestellt werden. Was hat sich im System der internationalen Beziehungen seit Beginn dieses Jahrhunderts verändert? Und wie wirken sich diese neuen Konstellationen auf die Interessen und Perspektiven der am Ukraine-Konflikt beteiligten Staaten aus?

Seidenstraßenstrategien

Die Idee, Russland zu isolieren und zu schwächen, hat im Westen eine lange Tradition. Der lange Zeit führende US-Geostratege Zbigniew Brzeziński hatte in den 90er Jahren sein berühmt gewordenes "Schachbrett"-Konzept entwickelt. Es sollte den USA als Strategie für den Aufbau einer globalen Herrschaftsposition dienen.

Die 90er Jahre waren die Hochphase der von den USA und ihren "Chicago-Boys" ausgehenden neoliberalen Politikkonzepte. Beinahe überall auf der Welt, auch in Russland und China, wurden Märkte geöffnet, Unternehmen privatisiert und staatliche Regulierungen abgebaut. Da schien es naheliegend, dass der geopolitischen Führungsrolle der USA keine Grenzen gesetzt sind. Dafür, so war Brzeziński überzeugt, müssten die USA den eurasischen Kontinent beherrschen. Eurasien war für ihn "das Schachbrett, auf dem der Kampf um globale Vorherrschaft ausgetragen wird". Ein Vordringen des Westens in die zentralasiatische Region war in Brzezińskis Konzept ein zentraler Baustein, die Ukraine stellt dabei einen "geopolitischen Dreh- und Angelpunkt" dar. Sollte es schließlich gelingen, Russland als potentiellen Rivalen zu isolieren, dann könnte das Land in eine wirtschaftlich vom IWF und militärisch von der Nato abhängige Position gebracht werden.

In der Washingtoner Politik wurde auf dieser Grundlage der "Silk Road Strategy Act" ausgearbeitet. Hier definierten die USA ihr Ziel, eine starke wirtschaftliche, politische und militärische Bindung Zentralasiens an den Westen zu erreichen. Der Name nimmt Bezug auf die historische Seidenstraße, einem Netz von Karawanenrouten, die das Mittelmeer mit Ostasien verbanden.

Vermutlich wurden Brzezińskis Bücher und der "Silk Road Strategy Act" auch in Peking zur Kenntnis genommen. Und vielleicht waren sie sogar der Anstoß für China, die Seidenstraße von der anderen Seite her aufzurollen. Im Jahre 2001 wurde auf Betreiben Chinas die Shanghai Cooperation Organisation (SCO) gegründet, zusammen mit Russland, Kasachstan, Kirgisien, Tadschikistan und Usbekistan. Neben Indien, das bald als Mitglied aufgenommen werden soll, sind Pakistan, die Mongolei, der Iran und die Türkei dem Bündnis als Dialogpartner zugewandt.

Ursprünglich als sicherheitspolitische Allianz gegründet, will das Bündnis heute auch die regionalen Wirtschaftsbeziehungen erweitern und vertiefen. M.K. Bhadrakumar, ein ehemaliger indischer Botschafter, glaubt, dass die SCO-Länder "eher früher als später in ihren nationalen Währungen handeln und regionale Finanzinstitutionen gründen werden". Sollte sich der Optimismus Bhadrakumars bewahrheiten, würde die ganze Region mitsamt ihrem Rohstoffreichtum und ihren für das westliche Wirtschaftswachstum unverzichtbaren dynamischen Märkten in China und Indien, entschieden unabhängiger von westlicher Dominanz und wirtschaftspolitischer Erpressung.

Als paradoxes Ergebnis der westlichen Wirtschaftssanktionen gegen Russland hat dieses Projekt einen kräftigen Schub bekommen. Russland und China haben eine Reihe neuer Handelsverträge abgeschlossen. Der bilaterale Handel soll künftig nicht mehr auf Dollar-Basis, sondern mehr und mehr in Rubel und Yuan abgewickelt werden. Das chinesische Kreditkartensystem UnionPay wird zurzeit auf dem russischen Markt eingeführt, um die Abhängigkeit von den beiden US-Anbietern Visa und Mastercard abzubauen. Gleichzeitig arbeiten beide Länder an einem eigenen System für Interbankgeschäfte, um von SWIFT unabhängiger zu werden.

Eine ähnlich dynamische Entwicklung nahm in den vergangenen Jahren die BRICS-Gruppe. Ursprünglich war BRIC nur eine griffige Formel, die Jim O’Nell von der US-Bank Goldman Sachs im Jahre 2001 für die aufsteigenden Schwellenländer Brasilien, Russland, Indien und China prägte. Später kann mit Südafrika noch das S dazu. Aus der Formel wurde eine Allianz, die sich für eine Demokratisierung des internationalen Systems einsetzt, beispielsweise für eine Reform des IWF, in dem die Stimmrechte bisher so verteilt sind, dass die USA zusammen mit ihren Verbündeten immer eine Mehrheit haben. Seit 2010 gibt es zwar einen IWF-Beschluss, der immerhin eine Mini-Reform der Stimmrechte und damit einen ersten Schritt in die richtige Richtung vorsieht. Selbst dieser wird aber bis heute durch den amerikanischen Kongress blockiert.