Total Irre

Betrachtungen zur gegenwärtigen Weltlage

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Wohin man blickt zur Zeit, überall brennt es lichterloh. Im Nahen Osten schlagen sich die Menschen die Köpfe ein - oder ab, auf der Flucht nach Europa ersaufen Hekatomben. Zeitgleich und völlig unbeachtet von der Presse verhungern die Menschen weltweit im Sekundentakt und verrecken an Mangelernährung und Krankheiten, die man ohne weiteres heilen könnte, wenn man nur wollte, das heißt, wenn damit Geld verdienen könnte.

Als wären das nicht schon der Kalamitäten genug, haben wir noch die Krise in der Ukraine, von der wir zwar nicht wirklich wissen, wem es da um was geht und warum. Doch eines wissen wir ganz genau: Wladimir Putin ist schuld an all dem Elend. Und um all das zu toppen, trifft uns noch eine besonders verheerende Nachricht: Die deutsche Wirtschaft wird womöglich nur noch um 1,2% statt um 1,8 % wachsen dieses Jahr. Nun aber flott wieder die Frauenquote abschaffen und den Mindestlohn auf den Mond schießen, auf dass die deutsche Wirtschaft wieder floriere. Edmund Stoiber hat es ja schon im Bundestagswahlkampf 2002 gewusst: Frauen an den Herd, nicht in den Vorstand. Es geht schließlich um die Wirtschaft und nicht um Pille-Palle wie mehr Gleichberechtigung und existenzsichernde Einkommen für die Menschen.

Nicht vergessen werden in der Aufzählung des Schreckens soll die neue Geißel der Menschheit: Ebola. Allerdings hat dieser Schrecken für die Herrschenden der Welt anscheinend nicht genug Brisanz, um tatsächlich sinnvoll etwas dagegen zu unternehmen. Zur Zeit gibt es aber auch Wichtigeres zu tun - siehe die verheerenden Nachrichten oben.

Aus dieser kurzen und unvollständigen Bestandsaufnahme der aktuellen Schrecken der Welt lassen sich einige Schlussfolgerungen ziehen. Sie werfen ein fahles Licht auf die, die derzeit - zumindest formal - das Heft des Handelns in der Hand halten.

Politische Handlungsmuster als Reaktion auf diese Schrecken

Um die Handlungsmuster der westlichen Regierungen erkennen und grob einteilen zu können, muss man sich die Therapien ansehen, die in Anbetracht der verschiedenen Bedrohungen unseres bisher doch so behaglichen Lebens angewandt werden:

  • Symptom: Krieg/Terror. Therapie: Bomben, Cruise Missiles (sind ganz präzise, kein "collateral damage") Ziel: IS, andere Terroristen, vor allem muslimischer Herkunft - sogenannte Heilige Krieger. Problem: eigentlich keins (da Präzisionswaffen). Ertrag: florierende Rüstungswirtschaft, Erprobungen neuer Technologien im Ernstfall)
  • Symptom: innere Unruhen, Wahlen, Protest gegen bestehende Regierungen, zum Beispiel in der Ukraine. Therapie: Waffenlieferungen, schnell Schuldigen finden. Problem: Teilweise auch auf der Seite des "Guten" - also auf unserer Seite - treten extreme Nationalisten und Faschisten auf, die wir ja eigentlich nicht so toll finden sollen; teilweise sind auch die "Guten" Terroristen oder gleichzeitig Geldgeber der "Bösen" => Teufelskreis! Ertrag: florierende Rüstungswirtschaft, praktische Beseitigung des Waffenaltbestandes in der eigenen Armee, Zugang zu und Sicherung von Rohstoffen.
  • Symptom: Massenflucht von Flüchtlingen nach Europa (also den Menschen, die vor dem Terror und den Bürgerkriegen fliehen, auf die wir mit Bomben, Cruise Missiles und Waffenlieferungen reagieren). Lösung: Frontex, Abschiebung und ersaufen lassen von Flüchtlingen oder Zurückschicken in die Kriege. Schließlich haben wir ja Waffen geliefert, die sie gefälligst nutzen sollen, um damit Frieden zu schaffen, anstatt abzuhauen. Feiges Pack. Ertrag: Wir haben unsere Ruhe und ein gutes Gewissen, denn ein paar nehmen wir ja auf und lassen sie in unseren schönen Festzelten und alten Kasernen logieren. Humanismus, westliche Werte und Barmherzigkeit unter Beweis gestellt.
  • Symptom: Menschen verhungern in Heerscharen, schon seit Jahrzehnten. Therapie: wegsehen, ihnen unser Gen-Saatgut zum Kauf anbieten. Gerne geben wir ihnen dafür auch einen Kredit. Problem: Krieg, Dürre, failed states. Erneute Therapie: Dann liefern wir halt Waffen und Gensaatgut. Ertrag: gutes Gewissen (Hilfe zur Selbsthilfe geleistet), Ertrag: Profite für die Saatgut- und Rüstungsindustrie, die Sicherheit, dass das Problem bestehen bleiben wird => weiterhin Gewinn und gutes Gewissen.
  • Symptom: Ebola: Therapie: Alle Afrikaner bekommen im Flugzeug noch die Temperatur gemessen. Nicht dass die uns noch ihren Virus in die Zivilisation tragen. Problem: Manchmal kommt einer durch. Ertrag: noch nicht klar; eventuell Impfstoff, der an den Afrikanern getestet und dann für Milliarden in den westlichen Staaten verkauft wird, Profit für die Pharmaindustrie.

Eingriffe der westlichen Wertegemeinschaft

Eingegriffen wird nur dort, wo "unsere" Geschäftsinteressen, d.h. die der Energieunternehmen oder sonstiger multinationaler Unternehmen berührt sind. Geopolitische Interessen sind das einzige Handlungsmuster der westlichen Wertegemeinschaft, die - so auch Pfarrer Gauck - nun endlich auch von Deutschland aus mehr "Verantwortung" übernehmen soll. "Verantwortung" heißt hier natürlich "Waffengewalt". Wenn der Pfarrer Gauck von Problemen spricht, bei denen Deutschland "Verantwortung" übernehmen soll, so fallen ihm nur Terroristen und Gewalt ein. Dass viele Afrikaner so arm sind, weil sie nicht auf den protektionistischen EU Markt mit ihren Produkten dürfen, gleichzeitig aber ihre Märkte für unsere subventionierten Produkte öffnen müssen, ist das für ihn offensichtlich kein Problem.

Man kann diesen Status quo mit Recht als strukturelle Gewalt bezeichnen, die Terrorismus in nichts nachsteht, vielleicht sogar noch eine Spur perfider ist. Sigmar Gabriel, seines Zeichens Vorsitzender der SPD, bemerkt gerade salbadernd in der Zeit, dass "jeder Mensch […] das Recht auf Freiheit, Sicherheit und Wohlstand" habe. Dummerweise bemerkt er nicht, dass dieses Recht nicht einmal bei uns, einer der reichsten Nationen der Welt, für viele eingelöst ist. Er will es aber dennoch weltweit durchsetzen, natürlich auch militärisch.

Und wie noch? Durch Freihandel - siehe seine TTIP- und CETA-Verrenkungen. Dass unter diesen ganzen Freihandelsabkommen genau die Menschen am meisten leiden würden, die heute schon die Ärmsten sind, scheinen weder unseren Ober-Sozialdemokraten noch Bundespräsidenten Gauck zu interessieren, von Merkel und Co ganz zu schweigen.

Total Irre? Total Vernünftig?

Nun kommt es auf die Perspektive an, ob man das Dargestellte als total irre oder sogar vernünftig bezeichnen möchte. Aus der Perspektive der genannten Handelnden ist es natürlich total vernünftig. Sie und ihre Klientel bleiben auf gut bezahlten Pöstchen sitzen, die Lobbygruppen freuen sich und zücken die Scheckhefte für die nächste Wahl. Gabriel ist zufrieden, weil er und das von ihm geführte Ministerium selbst in der FAZ und Welt gelobt werden - wenigstens ab und zu.

Total irre ist diese Politik aus der Perspektive der Unterdrückten und Geknechteten dieser Welt.

Anstatt ohne Aussicht auf Erfolg den "islamischen Terrorismus" zu bekämpfen und diesen als neue Geißel der Menschheit zu bezeichnen, wäre es wohl sinnvoller, wenn die "westliche Wertegemeinschaft" gemeinsam mit anderen "Wertegemeinschaften" einmal ihr sinnloses Streben nach Wachstum auf Kosten anderer (der Schwachen und Unterdrückten) aufgeben würden und gemeinsam dafür sorgten, dass die Menschen überall auf der Welt einigermaßen anständig in ihrer eigenen Heimat leben können. Dies müsste selbstverständlich ohne westlichen Kulturimperialismus passieren und ohne anderen Völkern eine für sie passende politische Ordnung aufzuzwängen.

Nach nun zahlreichen phänomenal gescheiterten Über- und Eingriffen sollte klar sein, dass man anderen Staaten die Möglichkeit der selbständigen Entwicklung politischer Strukturen geben sollte, ohne ihnen ständig durch Konrad-Adenauer-, Heinrich-Böll- oder Bertelsmann-Stiftungen ins Handwerk zu pfuschen. Grundbedingung für das Funktionieren einer solchen Strategie ist die Beendigung der Ausbeutung der natürlichen Ressourcen dieser Länder durch multinationale Unternehmen. Es muss endlich klar werden, dass die Ressourcen eines Landes dessen Bevölkerung gehören und keinen westlichen bzw. chinesischen etc. Konzernen. Die reichen Länder müssen aufhören, ihren subventionierten Kram in die sich entwickelnden Länder zu verkaufen. Damit zerstören sie die heimische Wirtschaft und Existenzgrundlage der dort lebenden Menschen. Das ist ein zu hoher Preis, nur um die Profiteure der Subventionen in Deutschland und in der EU zufriedenzustellen.

Terrorismus und Radikalisierung sind die Zwillingsbrüder von Armut und Perspektivlosigkeit. Der Antiterrorkampf des Westens ist der Kampf gegen selbst gezüchtete Ungeheuer, die durch eine intrinsisch ungerechte Weltwirtschaftsordnung und kulturimperialistisches Gebaren des Westens genährt werden.