Das Grundgesetz in Erosion

An der Militärpolitik zeigt sich: Die verfassungsrechtlichen Begriffe greifen nicht mehr

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Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zum "Hüter der Verfassung" bestellt, hat zunehmend rechtsschöpferische Fähigkeiten (und auch Neigungen) entwickelt; es hütet nun die Geltung von Regeln für die Politik, die es selbst erst einmal in großzügiger Interpretation des Grundgesetzes zu erfinden hat. Ein höchst aufschlussreiches Beispiel dafür: Das Urteil des BVerfG vom 21.10. zu Auskunftspflichten der Regierung gegenüber dem Bundestag.

Bezeichnenderweise ging es dabei um eine militärpolitische Entscheidung; hier hat ja die Bundesrepublik nachholenden "Handlungsbedarf", nicht nur der Bundespräsident ist unermüdlich darum bemüht, sein Volk davon zu überzeugen. Das erwähnte Urteil enthält recht eigenwillige Kernaussagen; mit deren Tragweite sich auseinanderzusetzen, fehlte der medialen Öffentlichkeit offenbar das Interesse - mit wenigen Ausnahmen (Waffenexporte und Grenzen des parlamentarischen Informationsrechts). Und so richtigen Vermarktungswert hat die Frage, was denn durch höchstrichterliche Deutungskünste aus dem Grundgesetz wird, sicherlich nicht; es stehen Tag für Tag hinlänglich Aufreger für das Publikum zur Verfügung.

Das "Staatswohl" - was mag es sein?

Alle Staatsgewalt geht in der Bundesrepublik, aus den Politikfibeln ist uns das bekannt, "vom Volke aus". Dieses "nimmt sie wahr in Wahlen und Abstimmungen", und sodann werden gewaltenteilig "Organe der Gesetzgebung, die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung" tätig. In dem Problemfall, zu dem das BVerfG sein Urteil sprach, können wir Abstimmungen des Volkes außer Acht lassen, denn Militärpolitik ist Bundessache, da kommt Plebiszitäres nicht ins Spiel.

Wahlen bringen Volksvertretungen hervor, so den Bundestag als ein Organ der Gesetzgebung. Der hat, was militärpolitische Entscheidungen angeht, mitzureden bei der Entsendung von deutschen Soldaten ins Ausland, die Bundeswehr wird deshalb gern als "Parlamentsarmee" präsentiert. Allerdings sind, damit dieses parlamentarische Mitspracherecht nicht zu sehr den militärischen Betrieb stört, Reformen angedacht. Es genüge doch, so wird argumentiert, wenn der Bundestag ein "Rückholrecht" habe, die Bundesregierung aber solle das "Einsatzrecht" erhalten, die Truppe erst einmal eigenmächtig ins Feld schicken dürfen.

Das BVerfG musste sich diesmal über eine andere militärpolitische Frage den Kopf zerbrechen: Die Entscheidung über Rüstungsexporte liegt bei der Bundesregierung als der "Exekutive", der "vollziehenden Gewalt"; wessen Willen sie dabei exekutiert, bleibt im Dunklen, verfassungsrechtlich ist das nicht vorgegeben. Aber steht dem Parlament wenigstens das Recht zu, Auskünfte der Bundesregierung über geplante Waffenexporte zu erlangen? Der "Informationsanspruch des Bundestages" sei "nicht grenzenlos", urteilte das BVerfG.

Erstens wegen der "Gewaltenteilung", für die "Richtlinien der Politik" sei eben laut Grundgesetz der Kanzler (derzeit die Kanzlerin) zuständig. Exemplarisch: Ob die Lieferung deutscher Leoparden an Despotien die richtige Politiklinie ist, entscheidet die Regierung, die Volksvertretung bleibt dabei außen vor. Nachträglich kann sie, muss aber nicht über solche Ausfuhren unterrichtet werden.

Zweitens steht laut BVerfG das "Staatswohl" einer unbegrenzten Informationspflicht der Regierung in Sachen Waffenexport entgegen. Was dieses Wohl des Staates sein könnte, ist im Text des Grundgesetzes nicht ausfindig zu machen, der Begriff tritt dort gar nicht auf. Möglicherweise lässt sich hier zur Erklärung die dritte vom BVerfG genannte "Grenze" für regierende Mitteilungen an das Parlament heranziehen: Die Rücksichtnahme auf "die Berufsfreiheit der Unternehmen der deutschen Rüstungsindustrie". Hier haben wir es mit einem schlagenden Argument zu tun; eine unterrichtete Volksvertretung könnte freiheitsgefährdend gegenüber einer "Schlüsselbranche" sich verhalten, geschäftsschädigend.

Damit der Bundestag sich nicht zu sehr unterkompetent fühlt, hat das BVerfG sich dann doch noch etwas einfallen lassen: Eine Parlamentsmehrheit könne ja bekanntlich, wenn ihr die "Verteidigungspolitik" der Regierung per Waffenausfuhr nicht gefalle, einen neuen Kanzler/ eine neue Kanzlerin wählen. Man sieht: Die Verfassungsrichter erweisen den gewählten Vertretern des Souveräns, des Volkes also, durchaus Respekt. Dem "Staatswohl" würde schaden, wer in diesem Hinweis auf die "Kontrollfunktion" des Bundestags eine ironische Geste vermuten wollte...

Das Grundgesetz der Bundesrepublik wurde im Jahre 1949 beschlossen. Die damals gängigen staatsrechtlichen Begriffe und die weltpolitischen Verhältnisse waren weit entfernt von der gegenwärtigen Realität. An deutsche Militäreinsätze out of area und Geopolitik mittels Rüstungsexport haben die Verfassungsgeber damals nicht denken können. Die Idee, im Vorgang der Wiedervereinigung das nur als Provisorium vorgesehene Grundgesetz durch eine zeitgerechte Verfassung abzulösen, kam nicht zum Zuge. Die Folgen dieses Versäumnisses sind jetzt zu besichtigen, das "Staatswohl" verdrängt demokratische Ansprüche.