"Die Deutschen lechzen nach Sicherheit"

Der Zukunftsforscher Horst Opaschowski über die Hoffnungen der Deutschen, verantwortungslose Politiker und neue Parteien

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Horst W. Opaschowski lehrte von 1975 bis 2006 als Professor für Erziehungswissenschaften an der Universität Hamburg, gründete 2007 die Stiftung für Zukunftsfragen und leitet seit 2011 das Institut für Zukunftsforschung in Hamburg. In Kooperation mit dem IPOS-Institut führt er seit 2012 regelmäßig den Nationalen WohlstandsIndex für Deutschland (NAWI-D) durch. Im Gespräch mit Telepolis warnt Opaschowski vor der Schuldenfalle, plädiert für eine stärkere Volksbeteiligung und wirft der Bundesregierung Täuschung vor.

Horst W. Opaschowski. Bild: privat

Herr Prof. Opaschowski, Sie stützen die Thesen Ihres Buches "So wollen wir leben!" auf eine repräsentative Studie1, die Sie im vergangenen Jahr in Auftrag gegeben haben. Welche Ergebnisse haben Sie überrascht?

Horst Opaschowski: Ich nenne ich Ihnen zwei Beispiele: 78 Prozent der Bevölkerung fordern mehr Volksabstimmungen, sie haben es satt, dass die Politik stets das letzte Wort hat. Wer hätte das vor 15 Jahren gedacht? Zudem geht der Trend eindeutig zur Familie, Generationenbeziehungen werden wichtiger als Partnerbeziehungen. 84 Prozent der Deutschen sind davon überzeugt: Der Generationenzusammenhalt von Enkeln, Kindern, Eltern und Großeltern wird immer wichtiger. Nur wenige Bürger verlassen sich allein auf den gesetzlichen Generationenvertrag.

Politiker, die stolz darauf sind, wie ruhig es im Land ist

Sie sagen, die Bürger wollten sich politisch mehr einbringen - wie passt derlei zu der niedrigen Wahlbeteiligung und dem Nachwuchsproblem der Parteien?

Horst Opaschowski: Das passt sehr gut zusammen. Die Leute sind nämlich unzufrieden mit ebenjenen Parteien. Sie haben den Eindruck, die Politik nehme ihre Sorgen nicht ernst und sei nicht daran interessiert, unser System zukunftssicher zu gestalten. Sie wären überrascht, wenn Sie wüssten, wie viele Politiker ich getroffen habe, die stolz darauf sind, wie ruhig es im Land ist.

Wie meinen Sie das?

Horst Opaschowski: Spitzenpolitiker gehen derzeit nach zwei Grundsätzen vor: 1) Ruhe ist die erste Bürgerpflicht, 2) Beruhigung ist die erste Politikerpflicht. Das Paradebeispiel für diese Marschroute: Unsere Bundeskanzlerin, die stets Ruhe, Stabilität und Sicherheit ausstrahlt. Wer erinnert sich nicht daran, wie sie gemeinsam mit Peer Steinbrück vor den Kameras stand und behauptete: "Keine Sorge, ihre Sparguthaben sind sicher." Wer weiß, vermutlich klopften sich beide hinterher auf die Schenkel, nach dem Motto: "Was haben wir da bloß eben gesagt?" Kurzum: Die Politik handelt fahrlässig, wenn sie sich nur von Wahl zu Wahl hangelt, Schulden macht - und die großen Zukunftsthemen nicht anpackt.

Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble will ab 2015 keine neuen Schulden machen - erstmals seit 45 Jahren. Das sei die Einlösung eines Versprechens an kommende Generationen...

Horst Opaschowski: ...Herr Schäuble verkauft positive Nachrichten mit den wunderbaren Worten "Schwarze Null"! Schaut man sich die Zahlen allerdings genau an, merkt man rasch: Es handelt sich um eine Mogelpackung.

Inwiefern?

Horst Opaschowski: Der Finanzminister sorgt für unabsehbare Kosten in den Folgejahren und legt zudem keinen einzigen Cent zurück - obwohl zuletzt unerwartet hohe Steuereinnahmen in die Staatskasse sprudelten. Fakt ist: Wer in guten Zeiten nichts zurücklegt, der hat in schlechten Zeiten keine Reserven. Die Folge ist Chaos. Wo bitteschön sind die dringend nötigen Nachhaltigkeitsrücklagen? Wo ist die Demografie-Reserve? Nichts von alledem existiert. Das ist tragisch.

Mit dem Begriff Wachstum wird ohnehin viel Unfug getrieben

Der Finanzminister hat unlängst mehr Investitionen angekündigt, Stichwort Infrastruktur.

Horst Opaschowski: Eigentlich brauchen wir einen Zukunftsfond. Stattdessen diskutiert die Politik schon wieder über Steuernachlässe. Leider ist das ein parteiübergreifendes Problem. Es gab im Übrigen nur einen einzigen Finanzminister, der nach seinen Worten auch entsprechende Konsequenzen gezogen hat: Karl Schiller, 1972. Er sagte: "Ich bin nicht bereit, Schulden zu machen zulasten der nächsten Generationen" - und trat zurück.

Sie halten es also für eine Täuschung, wenn die Bundesregierung sagt, sie wolle kein Wachstum auf Pump?

Horst Opaschowski: Ja. Mit dem Begriff Wachstum wird ohnehin viel Unfug getrieben. Die meisten Politiker verbinden Wachstum ausschließlich mit Wirtschaft. Aber wo ist das Wachstum in Bildung und Lebensqualität? Wenn man den Wachstumsbegriff breit streut, kommt etwas anderes heraus als nur Geld, Wirtschaft und Markt. Der spanische Cellist Pablo Casals ist im Alter von 92 Jahren mal gefragt worden, weshalb er in seinem Alter täglich Cello übe. Er antwortete: "Ich glaube, ich mache Fortschritte." So viel zum Thema Wachstum. Ohnehin verstehen die Deutschen unter Wohlstand inzwischen etwas anderes als noch vor 25 Jahren.

Nämlich?

Horst Opaschowski: Die vier F: Familie, Freunde, Friede, Freiheit. Erst danach wird das Materielle genannt. Und es geht noch weiter: 87 Prozent der 14- bis 34-Jährigen sagen: "Bei mir überwiegt die positive Einstellung zum Leben - ich blicke optimistisch in die Zukunft." Und das, obwohl es vielen heute eher schlechter geht als ihrer Elterngeneration. Wir sehen, dass für viele junge Menschen die Karriere nicht mehr das Nonplusultra ist. Viele sind im Gegensatz zu früher nicht mehr bereit, Privates zu opfern, um eine Stufe auf der Karriereleiter nach oben zu klettern. Die Ergebnisse aktueller Studien, wonach es für Berufsanfänger zunehmend ein Ziel ist, in den Beamtenstatus zu gelangen, passen somit ins Bild. Die Deutschen lechzen nach Sicherheit.

Muss Wohlstand neu definiert werden?

Horst Opaschowski: Unbedingt. Gemeinsam mit dem IPSOS Institut beschäftige ich mich intensiv mit dem Nationalen Wohlstandsindex (NAWI-D). Die klare Botschaft: Es geht inzwischen mehr um persönliches und soziales Wohlergehen, weniger um materielles. In Zukunft kann Wohlstand auch bedeuten, weniger zu besitzen und doch besser zu leben. Fragen wie "Brauche ich überhaupt ein eigenen Auto?" werden in Zukunft eine größere Rolle spielen.

Mehr Volksentscheide, mehr Mitspracherechte und Entmachtung der Parteien

Sie schreiben in Ihrem Buch, Zukunftspolitik sei ein Tabuthema. Mit Verlaub, Herr Prof. Opaschowski, war das jemals anders?

Horst Opaschowski: In der Antike war der Kaiser für Zukunftsfragen zuständig, später die Kirche. Heute wäre die Politik zuständig, die Betonung liegt auf "wäre". Denn leider nimmt sie die die Verantwortung nicht wahr. Die Folge habe ich eingangs angedeutet: Die Bürger gehen in die politische Offensive und drängen die Parteien mehr in die zweite Linie zurück.

Können Sie das belegen?

Horst Opaschowski: Zwei Drittel der Deutschen trauen ihren Politikern keine langfristige Zukunftsplanung für die nächste Generation zu. Sie sind der Ansicht, die Politiker seien den Herausforderungen der Zeit nicht mehr gewachsen und wirkten meist wie Getriebene, die nur noch auf Zuruf reagieren.

Angesichts weltweiter Krisenherde keine Überraschung, oder?

Horst Opaschowski: Nein. Aber gerade deshalb sollte die Politik endlich mehr auf Volkes Stimme hören. Mehr Volksentscheide, mehr Mitspracherechte - und zwar auch auf Bundesebene. Darum geht es. Dass all das zu einer Entmachtung der Parteien führte, steht außer Frage.

Sie meinen also, viele Politiker haben Angst vor Volksentscheiden?

Horst Opaschowski: Natürlich. Im Grundgesetz steht: Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus. Die Parteien wirkten nur mit. Davon kann zurzeit leider nicht die Rede sein. Nur am Rande: Eigentlich ist jeder Minister ein Finanzminister. Er verteilt Geld. Und wer Geld verteilt, hat Macht. Allein das Familienministerium hat über 160 Töpfe, aus denen - je nach Situation und politischer Wetterlage - Geld herausgegriffen wird. Das gönnerhafte Verteilen bereitet so manchem Politiker offensichtlich große Freude.

Sie sprechen häufig mit Politikern, wie reagieren die auf Ihre Appelle?

Horst Opaschowski: Unterschiedlich. Vor drei, vier Jahren habe ich auf dem FDP-Parteitag in Berlin referiert, ich ging damals auch kurz auf die Flexi-Rente ein. Als ich sagte: "Sie sind doch auf der Suche nach liberalen Themen - hier haben sie eins!" haben die Herrschaften euphorisch applaudiert. Und was geschah in den folgenden Monaten? Nichts dergleichen.

Fällt Ihnen ein weiteres Beispiel ein?

Horst Opaschowski: Sigmar Gabriel hat kürzlich das Buch des Präsidenten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung vorgestellt (Marcel Fratzscher, "Die Deutschlandillusion", d. Red.). Prompt übte er wieder Kritik an der "lebensfernen Wissenschaft". Das macht er häufiger. Ich halte solche Sätze für ein Ablenkungsmanöver. Auch Schäuble wurde vor kurzem gefragt, was man denn mit all den Prognosen so anfange als verantwortlicher Politiker. Er sagte, man würde zunächst einmal alles lesen, anschließend alles häckseln - und dann einige Teile wieder zusammensetzen. Mit anderen Worten: Politiker nutzen wissenschaftliche Erkenntnisse als Argumentationshilfe, nicht als Entscheidungshilfe.

Wenn man Sie derart leidenschaftlich über Politiker schimpfen hört, drängt sich die Frage auf: Weshalb haben Sie noch keine Partei gegründet?

Horst Opaschowski: Ich bin ein politisch denkender und politisch handelnder Mensch, will mich aber nicht einseitig in die Pflicht nehmen lassen. Ich könnte niemals blind einer Parteilinie folgen. Das wäre nichts für mich. Ich will zeitlebens auf exterritorialem Gebiet bleiben (lacht). Aber noch mal zur Klarstellung: Nicht alle Politiker handeln nach dem beschriebenen Muster.

Aber?

Horst Opaschowski: Sehr, sehr viele. Leider! Ich habe unlängst in einem Landtag referiert. Nach meinem einstündigen Vortrag stand ein Politiker auf und fragte: "Können Sie uns sagen, wie wir mehr Mitglieder in die Parteien bekommen?" In diesem Moment war ich frustriert. Den Vortrag hätte ich mir schenken können.

Zukunft findet nicht statt

In welchen Landtag war das?

Horst Opaschowski: (Lacht) Das werde ich nicht verraten. Ich erzähle Ihnen aber gern ein anderes Beispiel: In den 80ern schrieb ich alle Parteien an, es ging freilich um Zukunftspolitik, die Frage lautete "Welche Zukunftsvorstellungen hat ihre Partei bis zum Jahr 2000?" Der Generalsekretär einer Volkspartei schrieb mir zurück, mit solchen Fantastereien würde man sich nicht beschäftigen. Andere antworteten gar nicht.

Und wie ist das heute?

Horst Opaschowski: Wenn Sie hier morgen eine Podiumsdiskussion zum Thema "Deutschlands Zukunft" veranstalteten, würden aus allen Parteien Herrschaften aufkreuzen und stolz verkünden, was sie gerade so machen in Sachen Zukunft. Das Thema wäre wurscht, die würden das erzählen, was sie sich vorher zurechtgelegt haben. "Ich schüttle gerade hier Geld aus, finanziere dort ein paar Kitas und plane dieses und jenes Projekt" - all das ist für die tatsächlich Zukunftspolitik! Nach Veröffentlichung einer Studie melden sich nicht zuerst die Bundestagsbüros, sondern die Werbeagenturen. Das spricht für sich.

Aus aktuellem Anlass: Gehören Sie eigentlich zu jenen Forschern, die mit der AfD sympathisieren?

Horst Opaschowski: Das würde ich so nicht sagen. Es ist vielmehr so, dass mich der Erfolg der Partei nicht überrascht. Zumal die AfD viele bürgernahe Themen aufgreift.

Was antworten Sie denen, die sagen, die Partei spiele mit den Ängsten der Wähler und sei eine Gefahr für Deutschland?

Horst Opaschowski: Dass eine Partei auch die Ängste der Menschen aufgreift, ist keine Schande. Man sollte nicht alles Neue automatisch in die rechtsradikale Schublade stecken. Populismus bedeutet eine Politik, die sich volksnah gibt. Wo ist das Problem? Auch wenn parteiintern nicht alles glatt läuft, sehe ich dort eine Menge Sachverstand. Für die Kanzlerin heißt Zukunft: "Die nächsten drei Monate". Das hat sie einmal gesagt. Würden wir sie heute fragen, antwortete sie wahrscheinlich "Die nächsten drei Wochen".

Die AfD steht tatsächlich für eine Zukunftspolitik, wie Sie sie sich vorstellen?

Horst Opaschowski: Ach, das würde ich so nicht sagen. Ich bin auch nicht mit der Partei verbunden. Fakt ist: Zu Beginn hörte man oft, das sei nur ein Professorenklüngel, eine Altherrenpartei oder so ähnlich. Nun sieht jeder, dass das nicht zutrifft. Neue Parteien werden immer skeptisch beäugt, das ist normal. Die Piraten hatten etwas Urwüchsiges, da hat vieles an die Anfangstage der Grünen erinnert. Im Gegensatz zu ebenjenen bekommen die Piraten allerdings keine Stabilität hinein. Mit lauter Individualisten ist es schwer im politischen Wettbewerb.

Herr Prof. Opaschowski, eine Mischung aus Piraten und AfD...

Horst Opaschowski: ..wäre in der Tat eine interessante Mischung (lächelt)! Für eine Zukunftspartei ist immer Platz! Jeder neuen Partei, die Zukunftsthemen aufgreift, bringe ich zunächst einmal Sympathie entgegen. Das heißt ja nicht, ich würde zugleich alles andere gut finden, was in deren Programmen steht. Nein, nein, so einfach ist nicht. Insgesamt habe ich Politik immer verstanden als Daseinsvorsorge für den Bürger. Dabei bleibe ich.

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