Der Ferne Osten Russlands befindet sich im Aufbruch

Bild: Ramon Schack

Ulan Ude ist eine sibirische Stadt und das Zentrum des Buddhismus und Schamanismus

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Ein fünf Meter hoher Leninkopf aus Granit prägt den Soveskaja-Platz, im Zentrum von Ulan Ude, Hauptstadt der Republik Burjatien, im Fernen Osten Russlands. Die Künstler, in diesem Fall handelte es sich um Vater und Sohn, waren nicht sonderlich begabt. Lenin schaut nicht nur düster von seinem Sockel wie auch andernorts üblich. Bei näherem Ansehen gibt sich dieser bizarre Entwurf als schmerzverzerrtes menschliches Antlitz zu erkennen.

Die Skulptur wurde für die Weltausstellung 1971 in Ottawa angefertigt, als Zierde für den damaligen Pavillon der UdSSR. Anschließend fand sich im gesamten Sowjet-Imperium kein Abnehmer, an Lenin-Denkmälern mangelte es wahrlich nicht. So kam der Lenin-Kopf nach Ulan Ude, in den fernen Osten der damaligen Sowjetunion, viel näher an Ulan Bator und Peking gelegen als an Moskau.

Bild: Ramon Schack

"Nein, wir zertrümmern hier keine Lenin-Denkmäler, wie es aktuell in der Ukraine geschieht!", erzählt Nina. "Die Skulptur passt doch wunderbar hier nach Ulan Ude. In Burjatien wurden schon immer die abgeschlagenen Köpfe unserer besiegten Feinde öffentlich zur Schau gestellt, fügt sie amüsiert hinzu. Nina arbeitet als Stadtführerin für das Berliner Unternehmen Lernideereisen. Gerade führt sie eine Gruppe deutschsprachiger Touristen, die per Bahn aus der Mongolei angereist sind, durch die Stadt.

Wie steht es heute noch um Lenins Popularität? Kürzlich ergab die Umfrage eines Moskauer TV-Senders, dass die Hälfte der jungen Russen mit dem Namen Lenin nicht viel anfangen zu wussten. "Das ist doch Leonardo Di Caprio", sagten einige der Teilnehmer, als ihnen ein Bild des sowjetischen Staatsgründers gezeigt wurde.

Bild: Ramon Schack

Hinter Lenin steht das Regierungsgebäude der Republik Burjatien, über dem die russische und burjatische Flagge wehen. Die Republik Burjatien erstreckt sich auf einer Fläche entlang der russisch-mongolischen Grenze bis zum Baikalsee. Das Gebiet ist arm an Menschen, aber reich an Bodenschätzen. In den Bergen wird Gold abgebaut, entlang der mongolischen Grenze Wolfram gewonnen, Kohle, Kupfer und Blei liegen unter den Böden verborgen.

Neben den Rohstoffvorkommen ist die Rückkehr der Burjaten zu ihren religiösen und kulturellen Wurzeln, das Fundament auf dem die Souveränität der Republik basiert, innerhalb der Grenzen der Russischen Föderation selbstverständlich. 1990 erklärte Burjatien neben Tatarstan und Jakutien als dritte Republik der RSFR ihre Unabhängigkeit. Burjatien genießt innerhalb der Russischen Föderation einen vergleichbaren Status wie die überwiegend muslimischen Verwaltungseinheiten des Nordkaukasus oder wie Tatarstan an der Wolga.

Leicht abfallend zur Altstadt beginnt die Fußgängerzone, die ebenfalls nach dem Gründer der UdSSR benannt wurde. Man durchquert den wiedererrichteten Triumphbogen zum Besuch von Zar Nikolai 2. im Jahr 1891. Damals hieß die Stadt noch Werchneudinsk, sie wurde erst 1934 in Ulan Ude umgetauft, benannt nach dem Fluss, der Uda, an der die Stadt liegt. Ulan Ude bedeutet Rote Uda. Damit hat es sich aber auch schon, was die Erinnerungen an die Vergangenheit betrifft.

Rund 400.000 Einwohner zählt die Stadt heute, die in ihrer hügeligen Lage am Fluss mit interessanter Architektur und vielen Grünanlagen gefallen kann. "Ja, wir fühlen uns hier ganz wohl", erklärt Katja, die gerade als Mitglied einer Hochzeitsgesellschaft zusammen mit ihren Freunden auf das Brautpaar wartet. Katja, eine bildschöne 27-jährige Studentin, gehört zum Volk der Ewenken, einer der indigenen Ethnien Sibiriens. Ihr Freundeskreis ist ethnisch gemischt, er besteht aus Russen, Burjaten, Koreanern, Ukrainern und Armeniern. "Nein, es gibt hier keine Spannungen zwischen den Völkern. Nicht in meiner Generation", bekräftigt sie mit Nachdruck.

"Wir bekommen hier auch nichts mit von den Spannungen bei Euch in Europa, dem Konflikt des Westens mit Russland, um die Ukraine, das ist alles so weit weg. Wir blicken hier auf Ulan-Baatar, auf Peking und Tokio! Selbst Moskau ist mehrere Tagesreisen und Zeitzonen entfernt", gibt sie lachend zu bedenken.

Ulan Ude ist heute wieder nicht nur die fernöstlichste Stadt Russlands, sondern auch das Zentrum des Buddhismus und Schamanismus. Der Schamanismus wurde zu Sowjetzeiten als verdächtiges Relikt der Vergangenheit angesehen. Zum einen übten die Priester keine geregelte Tätigkeit aus, man fürchtete deren Einfluss auf ihre Umgebung. Trotz der atheistischen Indoktrination blieb der Schamanismus im Volksglauben der Burjaten am Leben.

Im Juni 1992, also unmittelbar nach dem Untergang der UdSSR, fand auf Initiative burjatischer Schamamen erstmals wieder eine Pilgerfahrt auf die als heilige geltende Insel Olchon statt, im 140 Kilometer westlich von Ulan-Ude gelegenen Baikalsee. Unter den 13 nördlichen "Beschützern", die von den Schamanen angebetet werden, stellt Olchon, der Gebieter des Baikalsees und Herrscher der Berge an dessen Ufern, den wichtigsten Schutzgeist der Ara-Mongolei dar.

Bild: Ramon Schack

Bei den Burjaten handelt es sich um eine mongolische Ethnie, die vielfältige Beziehungen zu den Völkern der südlich gelegenen Mongolei unterhält. Der Buddhismus ist eines der die beiden Ethnien verbindenden Elemente. Wie auch in der Mongolei, wird in Burjatien die lamaistische Variante des Buddhismus praktiziert. 2007 wurde auf dem "Kahlen Berg" über der Stadt ein buddhistischer Tempel eröffnet, der auch ein lamaistisches Informationsbüro beherbergt.

40 Kilometer westlich von Ulan Ude befindet sich das Lamakloster Ivolginsk. Dort, im zentralen Heiligtum des Buddhismus in Russland und Burjatien, leben ca. 60 Mönche und 150 Studierende, sowie der Hambo-Lama, der oberste Lama für ganz Russland.

Zurück nach Ulan Ude. In der Innenstadt reihen sich Geschäfte an Geschäfte, Passanten schlendern durch die mit Blumen-Rabatten versehene Fußgängerzone. Westliche Modeketten sind ebenso präsent wie Geschäfte die sich auf den Verkauf lokaler Produkte spezialisiert haben.

Bild: Ramon Schack

Diese Region Russlands wird von westlicher Berichterstattung weitgehend ausgespart. Arkadi, ein junger Reporter der Lokalzeitung, weist daraufhin, dass man in Moskau eine Neuaufteilung Sibiriens bis zum Pazifik vorgenommen habe. Die östlichste große Verwaltungseinheit reiche nunmehr vom Baikal-See bis zum Stillen Ozean. "Wie viele Menschen dort leben, ist nur unzulänglich ermittelt, ca. 7 bis 9 Millionen", erklärt der Journalist. Inzwischen habe sich aber so etwas wie ein besonderes sibirisches Lebensgefühl entwickelt, was hier in Burjatien auch ethnisch definiert ist. In den neunziger Jahren kam hier fast alles zum Stillstand, der Abbau der Rohstoffe, die Versorgung.

Die Verschleuderung des damaligen "Volkseigentums" zu Spottpreisen begünstigte damals Mafiosi und raffgierige Spekulanten. "So wurde die westliche Idealvorstellung von freier Marktwirtschaft hier bei uns vollzogen", erzählt der Journalist. "Wenn Sie begreifen möchten, warum Putin so populär ist, dann schauen Sie sich heute in Ulan Ude um. Er hat damals den Saustall ausgemistet."

Bild: Ramon Schack

In der Fußgängerzone haben auch einige chinesische Händler Stände errichtet. Es handelt sich überwiegend um junge Leute, die aus der Volksrepublik angereist sind. Ein klein gewachsener Mann, der seine langen Haare zum Pferdeschwanz gebunden hat, schaut überall gebieterisch nach dem Rechten. Arkadi bestätigt, dass die Anzahl der Chinesen sich in Grenzen hält. Aber in der Bevölkerung russisch-europäischen Ursprungs gehe der Spruch um: "Heute ist es ein gelber Tropfen, morgen ist es das Gelbe Meer."

Arkadi beobachtet mit großem Interesse die Vertiefung der Beziehung der Burjaten zu ihren mongolischen Nachbarn. Die Ureinwohner, die durch die Russen bis hinauf an die Ufer des Arktischen Ozeans kolonisiert wurden, gehören überwiegend der weit verzweigten mongolischen Völkerfamilie an, der nach Überquerung der Bering-Straße durch ihre Ahnen die Indianerstämme des gesamten amerikanischen Kontinents zugerechnet werden.

Odigitrievsky Kathedrale. Bild: Ramon Schack

Am Ende der Straße erhebt sich die Kathedrale der Gottesmutter Hodigitreja, die als eine der schönsten Barockkirchen Ost-Sibiriens gilt. Auch die slawische Bevölkerung hat zu ihren religiösen Wurzeln zurückgefunden.

Buddhismus, Schamanismus, Orthodoxie, Burjaten, Russen, Chinesen und Eweken in Ulan Ude, 4000 Kilometer östlich von Moskau, wird dem Besucher klar, der Ferne Osten Russlands befindet sich im Aufbruch.