"Gewaltakt namens Wiedervereinigung"

Rolf Hochhuth über Wessis, Ossis und das Treuhand-Unrecht

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In den Jahren 1989/1990 war in der DDR das Unglaubliche geschehen: Der Druck der Straße hatte vormals unantastbare Partei-Funktionäre aus ihren Ämtern verjagt. Der verhasste Geheimdienst wurde gestürmt, die Mauer fiel, es gab erste freie Wahlen und schließlich das Zusammengehen beider deutscher Staaten.

Nicht wenige Ostdeutsche fühlten sich im neuen Land zwar endlich frei, bald jedoch auch verraten, vor allem verkauft. Statt Privateigentum hatte es in der DDR staatliches "Volkseigentum" gegeben. Das Volk, die Ostdeutschen, daran zu beteiligen, wurde anfangs als naheliegend diskutiert, dann aber schnell verworfen. Unter der Aufsicht des bundesdeutschen Finanzministeriums privatisierte die "Treuhand-Anstalt" DDR-Betriebe sowie riesige Immobilienbestände und Ländereien.

Checkpoint Charlie in der Nacht zum 10.11. 1989 nach der Veröffentlichung der neuen Reiseregelungen. Bild: Bundesarchiv, Bild 183-1989-1110-018 / Oberst, Klaus / CC BY-SA 3.0 DE

Marode, aber auch funktionierende Industrien wurden mehr verschenkt als verkauft, und manche auch aus Gründen des Konkurrenzschutzes stillgelegt. Am Ende des Prozesses war das Volkseigentum der DDR fast ausschließlich an westdeutsche Konzerne und zweifelhafte Glücksritter gegangen. Aus politisch unfreien DDR-Bürgern waren freie, aber besitzlose und oft auch arbeitslose Ostdeutsche geworden.

Im Jahr 1992 hatte der Dramatiker Rolf Hochhuth als einer der wenigen westdeutschen Intellektuellen die Vorgänge angeprangert. Der Name des Theaterstücks "Wessis in Weimar - Szenen aus einem besetzten Land". 25 Jahre nach 1989 und mehr als 20 Jahre nach dem Skandal-Stück ist der streitlustige Schriftsteller Hochhuth in seiner Kritik nicht leiser geworden, er spricht rückblickend von einer "brutalen Enteignung der Ostdeutschen" und einem "Gewaltakt namens Wiedervereinigung".

Die Menschen sind entrechtet und überfahren worden

Herr Hochhuth, wie haben Sie die Trennung Deutschlands erlebt?

Rolf Hochhuth: Ich stamme aus Eschwege an der Werra. Ich wurde am 1. April 1945 14 Jahre alt. Zwei Tage später waren die Amerikaner da, unsere Befreier. Ich habe noch sehr lebhaft in Erinnerung, wie kurze Zeit später die Grenze abgeriegelt wurde und der eisene Vorhang fiel. Meine Mitschüler auf dem Eschweger Gymnasium, die aus dem katholischen Eichsfeld aus Westthüringen stammten, konnten nicht mehr zu uns in die Schule kommen. Es war ein fürchterlicher Einschnitt.

Und die Wiedereinigung?

Rolf Hochhuth: An erster Stelle finde ich, dass die Deutschen vor allem Gorbatschow und den Russen danken sollten, dass die das zugelassen haben, aber auch Helmut Kohl, obwohl ich den niemals gewählt habe. Ich hatte allerdings damals und habe auch heute viel an einigen Konsequenzen der Wiedervereinigung auszusetzen, politisch aber auch wirtschaftlich.

Was genau?

Rolf Hochhuth: Ich weiß von russischen Freunden, dass man sich in Russland wundert, dass Herr Gorbatschow auf freiem Fuß ist, denn viele sind der Meinung, er habe ihr Imperium verspielt. Er hat sich selbst vor einiger Zeit erbittert darüber beklagt, dass die Deutschen, sprich Helmut Kohl, ihn unglaublich betrogen haben. Er hatte das Ehrenwort von Kohl: Wenn Gorbatschow die DDR herausrückt, dass dann die Nato nicht einen Meter nach Osten vorprescht. Sie ist 1.000 Kilometer nach Osten vorgeprescht. Das verurteile ich aufs Äußerste. Der heutige Konflikt mit der Ukraine, der die Gefahr eines Kriegs in sich trägt, ist eine Folge dieses Verrats.

Rolf Hochhuth

Im Jahr 1992 haben Sie sich in dem Theaterstück "Wessis in Weimar" vor allem mit den wirtschaftspolitischen Folgen der Wiedervereinigung beschäftigt. Der Untertitel des Buchs lautete: "Szenen aus einem besetzten Land". Wie war das zu verstehen?

Rolf Hochhuth: Trotz meiner Freude über die Entlassung der DDR aus der Geschichte zugunsten der Wiedervereinigung habe ich im Jahr 1994 gegen den damaligen herrschenden Konsens dieses oppositionelle Drama geschrieben. Die Amerikaner, Engländer und Franzosen hatten uns die Reparationen erlassen und sogar unsere Verbrechen im Hitlerkrieg mit dem Marschallplan belohnt, während die Russen ihren Satelliten DDR bis zuletzt wirtschaftlich brutal ausgebeutet hatten. Statt unseren ostdeutschen Brüdern, wie es so pathetisch heißt, nach 1989 auf die Beine zu helfen, hat man sie beklaut. Man hat sie an dem von der DDR enteigneten Privatvermögen beim Ende der DDR nicht wieder beteiligt. Das stimmt gewiss. Aber ich möchte es nicht wiederholen. Wenn man sich als Schriftsteller wiederholt, wird man nur schwächer. Zitieren Sie es aus dem Stück.

Tun wir das. In "Wessis in Weimar" lassen Sie eine westdeutsche Juristin namens Hildegard im Gespräch mit dem Treuhand-Präsidenten folgendes sagen: "Kein Ossi - geben Sie das zu, hat irgendein Rechtsmittel gegen den Ausverkauf des dortigen Volksvermögens an uns Landfremde, die wir allein deshalb die Ossis arm kaufen können, weil wir nicht - ohne jedes Verdienst - wie sämtliche Ossis durch die Kommunisten vierzig Jahre deklassiert, wirtschaftlich vernichtet wurden." An anderer Stelle reden Sie von einer "1990 angezettelten restlosen Ausplünderung der DDR-Bevölkerung", durchgeführt "auf Bonns Geheiß" von der Treuhand-Anstalt. Wie bewerten Sie im Nachhinein die Rolle dieser Organisation, die das Volkseigentum der DDR privatisiert hat?

Rolf Hochhuth: Die Treuhand war angetreten, nicht der DDR auf die Beine zu helfen, wie die Amerikaner absolut vorbildlich den Westdeutschen nach dem Hitlerkrieg, sondern sie kaputtzumachen und aufzulösen. Das ist der entscheidende Unterschied. Das geschah durch die brutale Enteignung der Ostdeutschen durch die Wirtschaftsbonzen in Westdeutschland. Potenzielle Konkurrenzbetriebe im Osten wurden vernichtet oder denen schutzlos ausgeliefert. Die BRD war eine feindliche Besatzungsmacht in der Ostzone.

Nach 1989 hat sich keine Vereinigung abgespielt, sondern die feindliche Übernahme des schwächeren Bruders und dessen, was der sich geschaffen hatte, durch den größeren und finanziell stärkeren Bruder. Man hat die Ostwirtschaft der Westwirtschaft unter Enteignung der Ostbevölkerung eingemeindet, unter zwar unter einer schlimmeren Enteignung als zur Stalinzeit. Die Menschen zwischen der Werra und der Oder hatten sich den Ulbricht und die SED doch nicht freiwillig auf den Hals geladen, das wurde ihnen von Stalin beschert. Da stellt sich die Frage: welche moralische Berechtigung haben Westdeutsche gehabt, dass sie die Ostdeutschen ökonomisch dermaßen entrechtet haben?

Mit Gauck und Merkel haben es mittlerweile zwei Ostdeutsche an die Spitze der Macht geschafft. Das Thema könnte öffentlich von ihnen aufgearbeitet werden. Warum tun die das nicht?

Rolf Hochhuth: Wieso sollten sich Frau Merkel oder der Herr Bundespräsident dafür einsetzen, ein Unrecht aus der Welt zu schaffen, das vor 25 Jahren zweifellos vielen DDR-Bürgern geschehen ist? Warum sollten die beiden ihre Wiederwahl gefährden, indem sie die Wirtschaftsverbrechen der Treuhand gegenüber den Ostdeutschen ansprechen? Für die ist das Geschichte.

Und wie erklären Sie sich, dass es im Verlauf der ökonomischen Transformation keine wirkliche Gegenwehr in Ostdeutschland gab? Viele DDR-Bürger hatten unter Gefahr für die eigene Existenz ihre Rechte auf der Straße eingefordert. Kaum zwei Jahre später waren sie größtenteils eigentumslos, da das "Volkseigentum" der DDR Privateigentum westdeutscher Konzerne geworden war. Viele waren arbeitslos und auch machtlos, denn lange Zeit wurden Elitepositionen im Osten überwiegend von Westdeutschen besetzt. Wenn man sich einmal gegen Missstände wehrt, wehrt man sich dann nicht wie selbstverständlich auch ein zweites Mal?

Rolf Hochhuth: Die Bürger der ehemaligen Ostzone haben sich tatsächlich nicht in einem vergleichbaren Maße gegen die Zumutungen des neuen Systems gewehrt wie zuvor gegen das DDR-Regime. Wieso? Ich glaube, dass sie sich gar nicht wehren konnten. Sie hatten keine Wirtschaftskraft dazu, und die gehört dazu. Die Ostdeutschen waren durch die Vereinigung von Ost mit West zwei Jahre später wirtschaftlich und finanziell wahrscheinlich kaum in der Lage, einen Protest anzuzetteln, der nicht nur ein Geschrei ist, sondern eine praktische Wirkung hat. Die Menschen sind entrechtet und überfahren worden.

Glauben Sie, die Ostdeutschen hätten ein Anrecht auf Entschädigung durch die BRD?

Rolf Hochhuth: Jetzt ist es zu spät, das alles ist weitgehend vollendete Tatsache. Nach mehr als 20 Jahren ist jedes Geschäft und jedes Geschenk verjährt. Die Ostdeutschen haben sich damals nicht gewehrt. Deswegen ist das jetzt kein Thema mehr. Allerdings betone ich, sie konnten sich gar nicht zur Wehr setzen.

Seit "Wessis in Weimar" sind mehr als 20 Jahre vergangen. In einem Interview zum Stück wollten Redakteure des Manager Magazins damals von Ihnen wissen, was Sie sich wünschen. Sie antworteten folgendes: "Zum Beispiel, dass 'Wessis in Weimar' dazu beiträgt, die Frage der Vermögensbildung bei den Ostdeutschen, die im Gegensatz zu uns allein den Rußlandfeldzug abbezahlt haben, neu zu erörtern. Es geht doch wirklich nicht, dass den dort Geborenen und dort Arbeitenden an Produktionsmitteln und wertvollem Boden nichts bleibt als das Grab." Was ist aus diesem Wunsch geworden, wurde das Treuhand-Unrecht aufgeklärt?

Rolf Hochhuth: Aufgeklärt werden musste es eigentlich nicht. Es war damals und ist heute kein Geheimnis, wie man die DDR zerstört hat, statt sie wieder aufzubauen und in die Lage zu versetzen, mit westlichen Ländern auf dem Weltmarkt zu konkurrieren. Wer es wollte, konnte sich über das Treiben der Treuhand informieren. Vielen Ostdeutschen war allerdings vor allem wichtig, dass sie integriert wurden. Vor allem haben viele die Vereinigung mit Westdeutschland als eine große Wohltat empfunden, sofern sie dabei nicht ihre Jobs verloren haben.

Wie haben Sie das in Ihrem eigenen Bekanntenkreis erlebt?

Rolf Hochhuth: Ich habe einen Freund, der in der Berliner Staatsbibliothek arbeitet, der war aus der DDR gewesen. Er hatte gemeint: "Immerhin, man hat uns übernommen, und ich habe keinerlei Einbußen erlitten." Er sagte, Gut und Böse abgewogen, hat das Positive der Vereinigung absolut überwogen. Aber es sind bei weitem nicht alle DDR-Bürger auch nur annähernd so gut weggekommen bei diesem Gewaltakt namens Wiedervereinigung.