Brasilien zwischen Dürre und Überflutung

Bild: Wilson Dias/Agência Brasil/CC BY 2.5 BR

Die Industrialisierung zerstört in Brasilien nicht nur Regenwälder und Flusslandschaften, sondern auch die Lebensgrundlagen tausender Menschen

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Während auf den Klimagipfeln reine Absichtserklärungen erfolgen, die niemanden zum Handeln verpflichten, werden ganze Weltregionen von Dürrekatastrophen ausgezehrt. So sind die Ursachen für die Trockenheit in Brasilien unter anderem in der Abholzung der Regenwälder zu suchen, die mit der Errichtung gigantischer Staudämme einhergehen. Intakte Ökosysteme werden systematisch zerstört - mit Auswirkungen auf das Klima.

24 Millionen Menschen in den Bundesstaaten São Paulo und Minas Gerais konnten Anfang November aufatmen. Nach monatelanger Trockenheit fielen endlich ein paar Regentropfen. Schon mussten tiefer liegende Wasserreserven hoch gepumpt werden, um dem Mangel an Trinkwasser vorzubeugen. Bis April 2015 hätten die städtischen Trinkwasserreserven gerade noch gereicht.

Warum grassiert gerade in Brasilien eine derartige Dürre?

Die Gründe dafür sind zahlreich. Eine Ursache läge darin, dass die Uferbewaldung an den Staudämmen fast verschwunden ist, behauptet die Umweltorganisation SOS Mata Atlântica. Denn früher gab es an den Ufern der Staudämme von Cantareira große Wälder, die das Wasser speicherten.

Heute wachsen gerade mal noch rund 22 Prozent der ursprünglichen Vegetation auf dem 2.270 km² großen Gebiet. Die sechs Staudämme versorgen die Metropole Sao Paulo mit Wasser. Noch bis vor kurzem sank der Wasserpegel in den Becken fast täglich.

Eine anderer Grund, glaubt der brasilianische Wissenschaftler Altair Sales Barbosa, sei die landwirtschaftliche Intensivnutzung der nahe gelegenen Trockensavanne des Cerrado, in dem das Wasser seit Millionen Jahren von Bäumen gespeichert wurde.. Im Cerrado sammeln sich die Zuflüsse für Sao Paulo. Durch die Intensivnutzung mit Soja-Anbau und Viehbeweidung veränderte sich die Bodenstruktur offenbar derart, dass nun zu wenig Wasser durch die Erde in die Aquifere (Grundwasserleiter) gelangt.

Auch der massive Holzeinschlag wird für den Wassermangel verantwortlich gemacht. Ein Quadratmeter Fluss- oder Meerwasser biete eine Verdunstungsfläche von einem Quadratmeter, weiß Antonio Nobre vom nationalen Forschungsinstitut für Raumfragen INPE. Im Regenwald aber macht das vielschichtige bis zu 40 Meter hoch reichende Blattwerk auf einem Quadratmeter Boden das Acht- bis Zehnfache an Verdunstungsfläche aus.

Damit würden allein die Blätter des Regenwaldes täglich 20 Milliarden Tonnen Wasser verdunsten. Die Hälfte davon regnet über Amazonien, die andere Hälfte über dem Wassereinzugsgebiet von Sao Paulo ab. Werden nun große Flächen gerodet, fehlt das nötige Blattwerk, welches das Wasser verdunsten kann. In Folge dessen sitzt die Metropole im Trocknen.

Wirtschaftswachstum contra Naturreichtum

In kaum einem anderen Land hat die Zerstörung der Umwelt so gravierende Folgen wie im aufstrebenden Industrieland Brasilien. Die Regierung predigt Wirtschaftswachstum nach westlichem Vorbild. Mehr Industrie soll dem Land mehr Wohlstand bringen. Dafür braucht es Energie, die aus den zahlreichen Flüssen gewonnen werden soll.

So bewirbt der Energiekonzern Norte Energia den Mega-Staudamm Belo-Monte am Rio Xingu gerne mit den Worten Nachhaltig und Erneuerbar. In Wahrheit zerstört der riesige Staudamm mehr Natur als seine Erbauer vorgeben erhalten zu wollen. (Brasilien genehmigt gigantisches Belo-Monte-Wasserkraftwerk)

So wurde das in den 1970er Jahren errichtete Wasserkraftwerk Tucuruí durchgezogen, ohne die Anwohner mit einzubeziehen. Statt dessen wurden sie vertrieben. Dieses Vorgehen wiederholt sich gerade mit dem Staudamm Belo Monte: 40 Jahre lang konnte er dank massiver Proteste von Einheimischen verhindert werden. Schließlich begann man im Juli 2011 mit seinem Bau. Im Sommer 2014 war er etwa zur Hälfte fertig gestellt.

Eine aktuelle Studie - "Der Belo-Monte-Staudamm und die Rolle europäischer Konzerne" - der Initiative GegenStrömung beleuchtet die Hintergründe rund um Brasiliens größtes Bauprojekt.

2009 untersuchten 40 Wissenschaftlerinnen von Universitäten aus ganz Amazonien die Umweltfolgen. Würde das Monster-Bauwerk fertig gestellt, wäre die Artenvielfalt von 30 Schutzgebieten bedroht. Auf Grund ähnlicher Staudämme verschwanden bereits zwischen 1970 und 2008 nahezu 37% aller Süßwasserarten. Die Dämme reduzieren den Sauerstoffgehalt, behindern die Wanderung der Fische und beeinträchtigen die Selbstreinigungsfähigkeit der Flüsse.

Im Fall des Belo Monte wären rund 100 Fischarten bedroht. Würden weitere geplante Dämme errichtet, verschwänden sogar 1.000 Fischarten sowie einige Affen- und Schildkrötenarten. Das brasilianische Statistikinstitut IBGE gibt an, dass bereits heute etwa ein Fünftel des ursprünglichen Waldes zerstört sind. So vernichtete man allein in den vergangenen zehn Jahren Regenwald von einer Fläche, die auf vier Fußballfelder passt - pro Minute!

Dabei fehlt es in Brasilien nicht an Maßnahmen zum Schutz der Regenwälder. Seit den 1990er Jahren erarbeitete Deutschland gemeinsam mit den G7-Ländern und der brasilianischen Regierung entsprechende Schutzprogramme. Die Abholzung sollte verringert, der illegale Holzeinschlag kontrolliert, der Wald nachhaltig genutzt, CO2-Emissionen vermindert und die Artenvielfalt erhalten werden. Von 2003 bis 2014 finanzierte die KfW-Entwicklungsbank mit 41,4 Millionen Euro die Demarkierung und Neuausweisung von Schutzgebieten im Umfang von 23,2 Millionen Hektar.

In einer zweiten Phase sollen neue Schutzgebiete in einer Fläche von 13,5 Mio. Hektar ausgewiesen werden. Ein Gewinn für den Regenwald, möchte man meinen, würden nicht die fortschreitende Industrialisierung des Landes die Naturschutzeffekte wieder zunichte machen.

Stauseen setzen klimaschädliches Methan frei

Einer Studie des Instituto Nacional de Pesquisas da Amazônia - (INPA) zufolge, sind Anlagen vom Ausmaß des Belo Monte alles andere als nachhaltig. Da die Staumauer die Fließgeschwindigkeit des Xingus regulieren werde, würden wiederholt Flächen von bis zu 6.140 km² überschwemmt. Es sei zu erwarten, dass regelmäßig eine Fläche von 3.580 km² unter Wasser gesetzt werde.

Die unter diesen Bedingungen wachsenden und schnell faulenden Pflanzen setzen ständig große Mengen an Methan frei. Das Treibhauspotenzial von Methan ist über einen Zeitraum von 100 Jahren 28 mal höher als das von Kohlendioxid Rund 40 Jahre müsste der Damm auf fünf bis sieben Staustufen arbeiten, bis er halbwegs klimaneutral sei. Außerdem sei der Wasserstand des Xingu in den Trockenmonaten viel zu gering, so dass statt mit den anvisierten 11.200 Megawatt nur mit 4.500 Megawatt Leistung zu rechnen ist.

Bei anhaltender Abholzung sei ohnehin weniger Niederschlag über dem Xingu zu erwarten, wodurch seine Effizienz deutlich gesenkt und sich der Preis pro Kilowattstunde entsprechend erhöhen würde. Emissionen werden darüber hinaus auch durch die Entwaldung freigesetzt.

Kurzfristiges Profitstreben mit langfristigen Folgen

Offiziell wurden rund 44% des Regenwaldes zum Schutzgebiet erklärt. Knapp die Hälfte davon wird von indigenen Völkern bewohnt, die andere Hälfte überwiegend von traditionellen Gemeinschaften und Kleinproduzenten genutzt. Eines dieser Schutzgebiete ist die Terra do Meio, die sich im Bundesstaat Parà zwischen dem Xingu und dem Tapajós erstreckt und noch 8,3 Millionen Hektar intakten Regenwald umfasst.

Wird der Staudamm realisiert, verändern sich der Flusslauf des Xingu und seine Seitenflüsse. Rund 600 km² Urwald werden in den Fluten versinken. "So tragisch das ist", meint der brasilianische Biologe Rudolfo Salm, "das ist erst der Anfang." Seiner Ansicht nach wird der Staudamm etwa die Hälfte des amazonischen Regenwaldes zerstören. Denn Flora und Fauna seien angepasst an den Wechsel von Trocken- und Regenzeit, der Stausee aber hätte immer den selben konstanten Wasserspiegel. Werde dieser natürliche Rhythmus gestört, könne es zu einem großen Waldsterben kommen, glaubt der Wissenschaftler.

Den Rest erledigen die Menschen durch Landnahme und Brandrodungen Immer wieder kommt es auch zu Überflutungen von Staudämmen. Würde sich eine ähnliche Flut-Katastrophe wie die im März 2014 am Rio Madeira an einem Damm vom Ausmaß des Belo Monte ereignen, wären die Folgen nicht absehbar.

Von den mehr als 20 Millionen Menschen in Amazonien wohnen 70 % in Städten. Betroffen sind etwa 300.000 Einwohner in elf Gemeinden. Rund 40.000 Menschen sind von unmittelbarer Vertreibung bedroht. Es gibt etwa 300 indigene Bevölkerungsgruppen, allein 24 verschiedene Ethnien im Xingu-Becken, die teilweise auf sehr traditionelle Art leben: es sind Nachkommen entflohener Sklaven und Sklavinnen, Kautschukzapfer, Kleinbäuerinnen und -bauern.

Einige sammeln Paranüsse, Andiroba- und Copaibaöl und Açai-Beeren, andere leben vom Fischfang. Sie konkurrieren mit Großgrundbesitzern, Holzfirmen, Soja-Bauern, Viehfarmern und Bergbauunternehmen um Land. Dann gibt es noch drei indigene Stämme, so genannte Unkontaktierte, die zwischen den Flüssen Xingu, Iriri, Bacajá und der Transamazônica leben und deren Lebensgrundlagen die Eindringlinge nun zerstören.

Zunehmende Konflikte um Land

Allein 700 kleinbäuerliche Familien, die ihr Land verloren haben, klagen derzeit vor Gericht ihre Rechte ein. In den letzten 20 Jahren investierten viele Bauern in den ökologischen Anbau von Kakao. Adäquaten Ersatz bekamen sie nicht, und die Entschädigungen sind zu gering, um sich eine neue Existenz aufzubauen. Als offiziell "betroffen" gelten nur die Menschen, deren Land geflutet wird. Der größere Flächenanteil, nämlich 80 Prozent, wird trocken gelegt, und zwar dort, wo die Anwohner vom Fluss leben. Schon sind die Dörfer der indigenen Juruna umzingelt von Baustellen, schweren Maschinen, Holzfällern und fremden Siedlern.

Seit langem werden in Amazonien Menschenrechte permanent verletzt. Gerade in Pará gibt es zahlreiche gewalttätige Konflikte, denn hier konzentrieren sich die privaten Besitztümer. So führt die Landpastorale CPT in ihrem Jahresbericht 2012 für Pará mehr als 70 Konflikte auf, an denen 11.400 Familien beteiligt waren.

Mehr als 3000 arbeitende Menschen waren extremer Ausbeutung ausgesetzt. Von mehr als 1200 versklavten Arbeiterinnen und Arbeitern wurden 573 aus der Gefangenschaft befreit. Sechs Landarbeiter wurden ermordet. Nach wie vor gibt es auch illegale Holzeinschläge. So ist laut Greenpeace die Entwaldung in Pará in den letzten Jahren um 80% gestiegen. Einem neuen Gesetz zu Folge bleiben illegale Waldrodungen, die vor Juli 2008 stattfanden, straffrei. Eine weitere Gefahr für den Wald ist der zunehmende Anbau von Soja.

Dank eines Vetos der Präsidentin zum neuen Waldgesetz wurde das Schlimmste zwar verhindert. Doch das Forschungs­institut IPEA berechnete, dass nahezu 160 Millionen Hektar wieder aufgeforstet werden müssten, damit das Ökosystem intakt bleibt. Weil aber 90 Prozent aller Kleinbetriebe von der Wiederaufforstung befreit sind, fehlen am Ende 30 Millionen Hektar Wald.

Schon wurden gewaltige Schneisen in die Wälder geschlagen, um Straßen zu bauen. Und die verwandeln sich in der Regenzeit in wahre Schlammwüsten, in denen die Fahrzeuge stecken bleiben. Ein trauriges Beispiel dafür ist die Transamazonica, eine Straße, die den Tropenwald durchquert.

Wer profitiert vom Strom des Belo Monte?

Der erzeugte Strom wird vor allem in die energiehungrige brasilianische Industrie fließen. Zwar verspricht Norte Energia, dass die Siedlungen der Einheimischen davon profitieren. Symbolisch stellte der Konzern schon mal ein paar Generatoren in einige Dörfer. Den Diesel dafür sollen die Einwohner kaufen. Doch wovon sollen Menschen, die bisher vom Fischfang, Jagen und Sammeln lebten, Diesel kaufen? 2012 wurden die ersten Hochspannungsleitungen quer über den Amazonas gezogen - unter dem Protest von Flussanwohnern aus 20 Gemeinden.

Außerdem sollen 7.000 Familien in der am Xingu gelegenen Stadt Altamira in Fertighäuser ziehen, die an eine Trink- und Abwasserversorgung angeschlossen sind. Inzwischen lockte das Bauprojekt zehntausende Arbeitssuchende in die Region. Die Zahl der Einwohner in Altamira hat sich verdoppelt. Die Preise für Lebensmittel, Mieten und Grundstücke sind dementsprechend gestiegen.

73 Staudämme gibt es in Amazonien, etwa 60 weitere Staudämme und Wasserkraftwerke sind geplant. Neben dem Belo Monte sind Staudämme wie Jirau und Santo Antônio am Rio Madeira in Planung. Hinzu kommen sieben am Fluss Tapajós, acht an dessen Zufluss Juruena sowie drei am Teles Pires. Allein am Bau des Belo Monte verdienen viele europäische Konzerne wie die Siemens-Firma Voith Hydro. Und Siemens liefert nicht nur Turbinen nach Brasilien, sondern auch nach Honduras für ähnliche Staudämme.

Die Rolle des Staates in dem Konflikt um den Staudamm ist zweischneidig. Auf der einen Seite kontrolliert er mit viel Aufwand die Abholzungen, auf der anderen lässt er zu, dass die Wälder nachhaltig zerstört werden. Der Urwald und seine Gewässer sowie die in ihm lebenden Tiere und Menschen werden im Namen des Fortschritts bald das Feld räumen müssen - wenn nicht ein wachsender globaler Widerstand den Kampf der Einheimischen unterstützt und die gewaltige Naturzerstörung im letzten Augenblick verhindern kann.

Unterdessen setzen die Einwohner Amazoniens ihren Widerstand gegen Belo Monte fort. Und der richtet sich inzwischen auch gegen die Dämme, die an den Flüssen Tapajós und Teles Pires entstehen sollen.