Stochern in den Wolken über Donezk

Die erhitzten Debatten um das am Freitag vom russischen Fernsehkanal Pervi veröffentlichte Satelliten-Foto zeigen, wie wichtig eine schnelle und vollständige Aufklärung des Absturzes der MH 17 ist

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Das vom russischen Fernseh-Kanal Pervi am Freitagabend gesendete angebliche Satelliten-Foto, welches die These vom Abschuss der MH 17 durch ein Kampfflugzeug erhärten sollte (Gibt es jetzt ein Foto vom Abschuss der MH-17?), hat für den staatlichen Fernsehsender eine ungünstige Wendung genommen. Blogger aus Russland und anderen Ländern bezweifelten die Authentizität des vom Fernsehjournalisten Michail Leontjew veröffentlichten Beweisfotos, benannten zahlreiche Widersprüchlichkeiten im Foto und sprachen von einem Fake.

Dem US-amerikanische Internet-Portal buzzfeed gelang es zudem, George Bilt ausfindig zu machen. Der MIT-Absolvent hatte das vom staatlichen russischen Fernsehkanal am Freitagabend präsentierte Foto in einem "nicht ganz öffentlichen" Teil des Internets gefunden und mit einem Begleitschreiben an den Verband der russischen Ingenieure geschickt. Für Bilt war der Verband - wie er in seinem Schreiben an die russischen Ingenieure mitteilt - vertrauenswürdig geworden, nachdem die Ingenieure ihren Bericht über den Abschuss der MH 17 veröffentlicht hatten. Darin wurde die Vermutung geäußert, dass die Passagiermaschine von einem Kampfflugzeug abgeschossen wurde.

Laut buzzfeed.com fühlt sich der Wissenschaftler nun aber in einem "Informationskrieg" missbraucht. Er habe das Foto vertraulich an den Verband russischer Ingenieure geschickt und sei "ziemlich unglücklich", dass sein Brief nun "die Quelle für eine weitere Schlacht im Medienkrieg" wird.

Ist dem Kreml die Enthüllung peinlich?

Wie sich am Wochenende zeigte, löste die "Enthüllung" des Pervi-Fernsehkanals keine Lawine aus. Andere staatliche russische Fernsehkanäle und Nachrichtenagenturen umgingen das Thema oder brachten nur kurze, zurückhaltende Berichte. Westliche Medien reagierten gar nicht, brachten nur kurze Meldungen oder verwiesen auf Berichte kritischer Blogger.

Warum hat sich der bekannte Fernsehjournalist Michail Leontjew so weit vorgewagt, wenn das "Beweis"-Foto so leicht in Zweifel gezogen werden kann?, fragt man sich. Außerdem stellt sich die Frage, welches Ziel man sich im Kreml von der Veröffentlichung versprach. Denn dass die Presse-Kuratoren im russischen Machtzentrum nichts von der geplanten Enthüllung zur besten Sendezeit wussten, ist unwahrscheinlich. Offenbar beabsichtigte der konservativ-patriotische Flügel in der russischen Führung mit der Enthüllung über den Abschuss der MH 17 den Westen bloßzustellen und die Öffentlichkeit daran zu erinnern, dass die westlichen Staaten bisher keine Satellitenaufnahmen vom 17. Juli veröffentlicht haben.

Dass, wie einige Blogger vermuten, Leontjew seine Enthüllung für eine Gehaltsaufbesserung machte, oder der Pervi-Sender sein Rating steigern wollte, ist unwahrscheinlich. Es ist nicht das erste Mal, dass Leontjew mit scharfen Stellungnahmen gegen die USA von sich reden macht. Der Journalist gehört zum konservativ-patriotischen Flügel, der sich scharf von den Liberalen - die es auch im Umfeld des Kreml noch gibt - abgrenzt. Dass Leontjew seit Januar Pressesekretär in dem von Igor Setschin geführten Unternehmen Rosneft ist und dort die Abteilung für Information und Reklame leitet, ist kein Zufall. Das von Setschin geleitete Unternehmen war Nutznießer der Zerschlagung des von Michail Chodorkowski geleiteten Ölkonzerns Yukos.

Der Westen soll "seine Bilder zeigen"

Als der "Enthüller" Michail Leontjew am Sonnabend vom liberalen "Radio Echo Moskau" am Telefon zur Rede gestellt wurde, antwortete dieser trotzig-angriffslustig. Das Satellitenfoto sei von russischen "Spezialisten der Weltraumaufklärung mit mehrjähriger Berufserfahrung" geprüft worden, erklärte er.

Die Kritiken der Blogger an seiner Enthüllung bezeichnete er als "Müll". Anstatt auf ihn mit dem Finger zu zeigen, solle die US-Weltraumaufklärung "wenigstens eines" seiner Bilder zeigen. Nicht er, nein, die USA und die Ukraine müssten sich rechtfertigen. Die Boeing sei abgeschossen worden, um die öffentliche Meinung in Europa "zu zerbrechen" und die Sanktionen gegen Russland durchzusetzen, behauptete Leontjew.

Widersprüchlichkeiten zuhauf

Die Front der Kritiker stand am Freitagabend erstaunlich schnell. Unmittelbar nach der Fernsehsendung enthüllte der rechtsliberale Blogger Aleksej Navalny, dass die Russische Vereinigung der Ingenieure kaum bekannt ist. Außerdem sei der stellvertretende Vorsitzender der Vereinigung, Iwan Andrijewski, der in der Pervi-Fernsehendung als "Experte" die Echtheit des Fotos bestätigte, nicht Ingenieur, sondern Ökonom. Enthüllt wurde auch, dass Andrijewski in den sozialen Netzwerken vkontakte.ru und LinkedIn eingetragen ist als Vizepräsident des "Russischen Klubs von Finanzdirektoren" und Vorsitzender des Aufsichtsrates von "2K Audit - Geschäftsberatung/Morison International".

Die Novaja Gaseta trug in ihrer Montagausgabe alle wichtigen Argumente gegen das angebliche Satellitenfoto zusammen:

  1. Der wichtigste von Bloggern aufgedeckte Vorwurf war, dass Google Maps ein identisches Foto vom Donezk-Gebiet mit gleicher Wolkenformation bereits am 28. August 2012 veröffentlicht hatte. Außerdem stimmte das Detailfoto mit dem Kampfflugzeug offenbar nicht mit der Großaufnahme überein. Die Flugzeuge seien in das Google-Maps-Bild reinmontiert worden.
  2. Der Schriftzug an der Seite der Boeing 777 war auf dem Satellitenfoto weiter vorne als auf einem vor zwei Jahren gemachten Foto von der Unglücksmaschine.
  3. Bei dem Kampfflugzeug kann es sich schwerlich - wie vom Pervi-Kanal behauptet - um eine MiG 29 handeln. Insbesondere der Schwanz der Maschine deutet eher auf eine Su 27 hin.
  4. Die auf dem angeblichen Satellitenfoto angegebene Zeit (1:19:47) wirft Fragen auf. Wie der Experte für Flugsicherheit, Sergej Melnitschenko, erklärte, wird auf derartigen Karten in der Regel die Greenwich-Mean-Time angegeben. Doch die MH 17 stürzte nicht nachts, sondern um die Mittagszeit ab.

Zahlreiche Blogger verwiesen auch darauf, dass die Größenverhältnisse auf dem angeblichen Satelliten-Foto nicht stimmen.

Dass der russische Fernsehsender das Foto veröffentlichte und wegen einer schwachen Faktenlage Fälschungsvorwürfe riskierte, zeigt, wie sehr sich die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen verspannt haben und wie wenig Vertrauen es zwischen Ost und West zur Zeit gibt. Für die nähere Zukunft kann man sich nur wünschen, dass Sachlichkeit und für jeden Interessierten überprüfbare Fakten die Diskussionen bestimmen und nicht schwer überprüfbare Beschuldigungen. Und das gilt für beide Seiten des neuen Ost-West-Konfliktes.