Armutstrend und politische Seelenmassage

Die Bundesrepublik ist keine Insel der Seligen - und sie wird es in Zukunft noch weniger sein. Nicht für die Jungen - und schon gar nicht für die dann Alten

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Uns in Deutschland geht es gut - so sagen es gern der Bundespräsident und die Bundeskanzlerin ihrem Publikum. Im Blick ist dabei die sozial-materielle Lage der Bürgerinnen und Bürger hierzulande, den Vergleichsmaßstab bildet die Situation in den meisten anderen Ländern der Europäischen Union, insbesondere die hohe Quote von Arbeitslosigkeit dort. Armut, unterstellt die hiesige Politik, sei in der Bundesrepublik eine Randerscheinung. Auch im Alter müsse man sie nicht befürchten, wenn nur weiteres Wohlergehen der "deutschen Wirtschaft" und damit Wachstum des "Sozialprodukts" gesichert würden. Und die "Wirtschaftsweisen" der Bundesregierung im Sachverständigenrat für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung loben und warnen zugleich: Mit der Agenda 2010 sei der richtige Weg zur deutschen Erfolgsökonomie beschritten worden, aber "soziale Wohltaten" dürfe man sich nicht erlauben, kontraproduktiv wirke schon das neue Rentenpaket der Regierungskoalition, es müsse "rückabgewickelt" werden.

Aus Sozialverbänden kommen ganz andere Stimmen. In zehn Jahren drohe der Bundesrepublik eine "Armutslawine" vor allem bei den Alten, so der Paritätischen Wohlfahrtsverband, der vor einer "explosionsartigen Zunahme der Altersarmut" warnt.

Eher bedenkliche Informationen lassen sich sogar dem Zahlenwerk des Statistischen Bundesamtes entnehmen, das Armutsrisiko steigt demnach an, als Grenzwert gilt ein Single-Einkommen von 892,- Euro. Offiziell wird die Armutsrisikoquote in der Bundesrepublik (Stand 2013) mit ca. 16 Prozent der Bevölkerung angegeben. Eindeutig arm ist in der Bundesrepublik nach sozialrechtlicher Definition, wer auf die Grundsicherung aus dem ALG II oder auf Hilfe zum Lebensunterhalt bzw. Grundsicherung im Alter (nach SGB XII) angewiesen ist, insgesamt sind dies nach den zuletzt erhobenen Daten ca. 5,3 Millionen Menschen. Wer sich in dieser Lage befindet, muss nicht verhungern (wie tröstend kommentiert wird), hat aber keine Chance, am gesellschaftlichen Leben gleichberechtigt teilzunehmen.

Bei den genannten Daten ist zu berücksichtigen, dass Bezugsberechtigte zum Teil solche Leistungen aus Ungeschick oder Genierlichkeit nicht beantragen und versuchen, sich mit privater oder familiärer Hilfe über Wasser zu halten. "Sozialhilfe" hat immer noch sozial diskriminierende Nebenwirkungen, "Missbrauch" derselben wird oft leichtfertig vorgeworfen.

"Insel der Seligen"?

Bei nüchterner Betrachtung kann keine Rede davon sein, dass die materielle und soziale Realverfassung der deutschen Gesellschaft rundum voller Glück sei. Seit Jahren schon nimmt die Polarisierung zwischen Arm und Reich zu, was auch lebensweltlich zu beobachten ist: Immer mehr bilden sich in Stadtvierteln oder in ländlichen Gegenden Armutszonen heraus, mit nachhaltig separierendem unterschichtigem Charakter. In Teilen der Mittelschicht wiederum hat dies Abgrenzungsbedürfnisse zur Folge, in einer Mischung von Abstiegsangst und aggressiven Gefühlen, "rohe Bürgerlichkeit" hat der Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer solche Emotionen genannt.

Die skizzierten Probleme haben ihre Voraussetzungen in Reformen, die von der regierenden Politik gesetzlich eingeführt oder fördernd begleitet wurden:

  • Die Altersvorsorge ist planmäßig zu einem wachsenden Anteil von der Gesetzlichen Rentenversichung und ihrem Umlageverfahren auf "kapitalgedeckte" Angebote der privaten Versicherungsunternehmen verlagert worden. Auch die staatlich subventionierte "Riester-Rente" liegt in diesem Trend. In der Konsequenz sinkt das gesetzliche Rentenniveau (auch weiterhin), während der Arbeitnehmeranteil an den Beiträgen zur Gesetzlichen Rentenversicherung ansteigt. Belastet und in Not gebracht werden damit die unteren Lohngruppen der Erwerbstätigen - ihre gesetzliche Rentenversicherung reicht nicht hin für eine auskömmliche Altersvorsorge, und ihr Einkommen lässt eine Kompensation durch "Sparen" für private Versicherungen nicht zu. Die "Riester-Rente" bringt für sie nicht mehr als die Grundsicherung. Aber auch für besser verdienende Arbeitnehmer ist die privatisierte Altersvorsorge riskant; sie rechnet sich nur unter günstigen Konjunkturen im Finanzmarkt und bei entsprechenden Zinserträgen. Wer will für diese garantieren?
  • Die "Hartz"-Gesetze der Agenda 2010 haben den Arbeitsmarkt "flexibilisiert" - in Richtung auf eine stetige Expansion von "atypischen" Arbeitsverhältnissen, die dann typisch werden: Befristete Arbeit, Teilzeitarbeit, Werkvertragstätigkeit, Scheinselbständigkeit. "Unstete" Erwerbsbiographien und solche im Niedriglohnsektor dehnen sich weiter aus; für diese bietet weder das bisherige Regelwerk der Gesetzlichen Rentenversicherung noch das Finanzierungssystem der privaten Versicherungen eine Chance auskömmlicher Versorgung im Alter. Eine massive Ausdehnung von Altersarmut ist dadurch vorprogrammiert. Sie wird insbesondere die jetzt noch junge Generation treffen. Und - wie eh und je - weibliche Arbeitsbiographien zusätzlich benachteiligen; dagegen hilft auch eine Frauenquote in der Spitze von Dax-Unternehmen nicht.
  • Die seit längerem laufende Privatisierung (und damit einhergehende Profitorientierung) von historisch "öffentlichen" und gemeinnützigen infrastrukturellen Angeboten (in den Bereichen Verkehr, Energieversorgung, Gesundheitswesen, zunehmend auch Ausbildung) verändert die Kostenlage für die Individuen - "Geringverdiener" oder "Zeitbeschäftigte" oder "NiedrigrentnerInnen" werden so zusätzlich in finanzielle Enge gedrängt.

All diese Probleme lässt die regierende Politik beiseite liegen - oder bringt sie in Verborgenheit.

Diskurspolitische Manöver

Flickschusterei als Ablenkung: Die Politik der Großen Koalition hat durch den Entschluss zum "Mindestlohn" und durch das "Rentenpaket" den Anschein erweckt, nun sei sozialpolitische "Nachbesserung" geschehen. Systematisch? Der Effekt der Mindestlohnregelungen ist noch nicht abzusehen; keineswegs wird so der Trend zu "atypischer" Beschäftigung gebrochen. "Mütterrente" und "Rente mit 63" bringen Vorteile für sehr begrenzte Gruppen von Leistungsempfängern, nicht gerade für die Bedürfigsten darunter. Andererseits werden sie die Gesetzliche Rentenkasse belasten. Eine Konsolidierung des Rentensystems insgesamt ist auf diese Weise nicht zu bewerkstelligen. Auch wird der finanzielle Verlust, der in der Anhebung des Eintrittalters in die Rente liegt, so nicht kompensiert - und schon wird propagiert, aus der "Rente mit 67" müsse eine "mit 70" werden...

Legenden über den Arbeitsmarkt: Als ihre Vorzeigeleistung reklamiert die regierende Politik vor allem zwei statistische Erfolge, die niedrige Arbeitslosenzahl in der Bundesrepublik und den Zuwachs an Arbeitsplätzen. Ein Grund, optimistisch in die Zukunft zu schauen?

Ein Beschäftigungsverhältnis heißt noch nicht, dass damit ein ausreichendes Einkommen oder gar eine existenzsichernde Rente gewährleistet wäre. Außerdem ist damit zu rechnen, dass die "Flexibilisierung" des Arbeitsmarktes in der Bundesrepublik als Standortvorteil in der europäischen Konkurrenzwirtschaft längerfristig zum Problem für den deutschen Export und den davon abhängigen Arbeitsmarkt wird - in den niederkonkurrierten anderen Ländern reduziert sich die Nachfrage für deutsche Produkte.

Schon jetzt ist die Beteuerung, in der deutschen Industrie herrsche doch überall Mangel an Farbeitern und dieser werde zukünftig aus demographischen Gründen noch heftiger, zu pauschal und dadurch irreführend. Die Propaganda für einen kategorischen Imperativ "Wachstum" übrigens, weil dieses für alle Schwierigkeiten und etwaigen Bedrängnisse im Arbeitsmarkt und in der sozialen Vorsorge eine Lösung bringe, rechnet mit ökonomiekundlicher Unwissenheit des Publikums. Nach gängiger Verwendung bedeutet der Begriff volkswirtschaftlichen Wachstums die Zunahme von monetär verrechenbaren Operationen in einem Lande und in dessen Außenwirtschaft. Welchen Bedürfnissen diese Vorgänge zugutekommen, ist dabei kategorial gleichgültig. Ein so definiertes "Sozialprodukt" kann sich vermehren, auch wenn soziale Standards absinken, mancher Art Wachstum schützt nicht vor Massenarmut, obgleich es Kapitalrendite bringt.

Die Illusion von Bildung als sozialer Statusgarantie: Die regierende Politik hält allen Klagen über soziale Verwerfungen, Einkommensmangel trotz Beschäftigung und drohende Armut im Alter ein Patentrezept entgegen: Wer sich fleißig bilde und qualifiziere, gerate nie in Not und habe alle Aussichten auf einen sozialen Aufstieg!

Ganz in diesem gedanklichen Muster ist auch der offizielle "Armuts- und Reichtumsbericht" ( 2013 )gehalten, seinerzeit von Ursula von der Leyen noch als Arbeits- und Sozialministerin präsentiert. Der "Analysefocus" lag hier erklärtermaßen bei "individueller sozialer Mobilität", bei "Erfolgs- und Risikofaktoren" im Lebenslauf, in der Ausbildungs- und Erwerbsbiographie. Soziale "Differenzen", Ungleichheiten also, werden dabei als wirtschaftliche "Triebfedern" gewertet (der Bericht und andere Gutachten zum Thema sind dokumentiert auf sozialpolitik-aktuell.de).

Die Verheißungen, die in dieser Sache unters Volk gebracht werden, sind absurd. Zweifellos sind Bildungs- und Ausbildungsfortschritte unbedingt und allgemein zu empfehlen; eine Garantie jedoch für einen gut bezahlten Job und gegen jede Gefahr von Niedriglohn oder Arbeitslosigkeit oder Altersarmut bringen sie keineswegs, insofern auch keine Lösung sozialer Strukturprobleme. Die Verwertung von Qualifikationen ist abhängig vom Bedarf an Arbeitskraft in einem ständig sich verändernden Markt. Derzeit schon haben zehn Prozent der Beschäftigten im Niedriglohnsektor ein akademisches Examen. Die massiv fortschreitende Umstellung auf die so genannte "Industrie 4.0", von den Regierenden gefeiert, macht viele bisher gut verwertbare Arbeitsprofile überflüssig oder drängt sie ab in schlecht bezahlte Tätigkeiten. "Künstliche Intelligenz" ersetzt hier menschliche Qualifikationen.

Fazit: Die regierende Politik hat keine Neigung, nach systematischen, auf längere Frist wirksamen Lösungen für Armutsprobleme zu suchen; sie operiert mit dem Ziel, sich politischen Kredit bei der Bevölkerung durch Verdrängen und Verschleiern gegenwärtiger und noch mehr kommender sozialer Bedrängnisse zu verschaffen. Und mit wirtschaftlichen Partialinteressen auf der Kapitalseite nur nicht in Konflikt zu kommen.

Im Blick auf ihr Volk agiert sie sie mit dem Kalkül: "Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß." Damit oppositionelle Energien erst gar nicht aufkommen.