Rückblick auf ein besonderes Jahr für den Kriegs- und Krisenjournalismus

Bild: Malte Daniljuk, Daten: Ifem

Der Mythos in der Auslandsberichterstattung am Beispiel des Ukraine-Konflikts in deutschen Medien

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Die Krise um die Ukraine hat die deutsche Öffentlichkeit in bisher ungekannter Weise polarisiert. Allerdings standen sich nicht, wie in einem liberalen Schema von Öffentlichkeit vorgesehen, unterschiedliche Meinungen im Raum der medial abgebildeten Öffentlichkeit gegenüber. Die Gräben verliefen zwischen großen Teilen des Publikums und den professionellen Redaktionen. Die Netzmedien trugen wesentlich dazu bei, diese Meinungskluft in bisher ungekannter Weise zu repräsentieren.

Protest am 24. November 2013 in Kiew. Bild: Ivan Bandura/CC-BY-SA-2.0

Der Ukraine-Konflikt in den deutschen Medien

Als sich ab 21. November 2013 die ersten Demonstrationen auf dem Kiewer Unabhängigkeitsplatz, dem Maidan, sammelten, um dagegen zu protestieren, dass die Regierung Janukowitsch das Assoziierungsabkommen mit der Europäischen Union suspendiert hatte, waren die Redaktionen für Außenpolitik zunächst überrascht. Innerhalb weniger Tage setzte sich jedoch eine dominante Lesart der Ereignisse durch, die Kennern der innenpolitischen Situation in der Ukraine bereits als undifferenziert bzw. einseitig erscheinen musste. Diese Art der ersten Berichte legte bereits Schemen vor, die über das gesamte folgende Jahr weitererzählt werden sollten.

Vom ersten Tag an spielten Argumente gegen das betreffende Abkommen kaum eine Rolle. Dass es etwa auch Demonstrationen gegen eine EU-Assoziierung gab, wurde höchstens nebenbei erwähnt. Die Berichterstattung bildete keine gesellschaftliche Debatte um ein kontroverses Thema ab, sondern benannte polare Positionen - für oder gegen das Abkommen. Stellungsnahmen und Sichtweisen der damaligen Opposition nahmen unverhältnismäßig großen Raum ein. Berichte suggerierten teilweise, dass eine Gesamtheit ("die Hauptstadt Kiew", "die Ukraine") sich "gegen Präsident Wiktor Janukowitsch auflehnt". Als scheinbar unabhängige Experten bezeugten Vertreter prowestlicher Think-Thanks wie die Renaissance-Stiftung diese dominante Sichtweise.

Das politische Spektrum des Euro-Maidan wurde nicht vollständig abgebildet. So wurde zwar teilweise erwähnt, dass sich gemeinsam mit den Parteien von Vitali Klitschko und Julia Timoschenko auch Rechtsradikale von der Partei Swoboda an den Bündnis beteiligten, die unmittelbar militant gegen Institutionen der gewählten Regierung und die Polizei vorgingen. Sie wurden in der Berichterstattung jedoch beschönigt ("Nationalisten", "rechtspopulistisch"). Ihr Auftreten wurde später entweder unkommentiert hingenommen oder vollständig verschwiegen. Die teilweise extrem gewalttätige Formen des Protests wurde entweder ignoriert oder ungewöhnlich unkritisch als selbstverständlicher Ausdruck einer "demokratischen Opposition" gegen einen nicht-legitimierten Herrscher hingenommen.

Dieser starke Grad an negativer Personalisierung, anfänglich bezogen auf die Person von Präsident Wiktor Janukowitsch, bestimmte die Berichterstattung von Anfang an. Bei der Frage von dessen Legitimität hätte ein schneller Blick auf die regionale Stimmenverteilung bei den vergangenen Wahlen bereits ausgereicht, um zu erkennen, dass keine Regierungspartei in der jüngeren Geschichte der Ukraine über eine landesweite Anerkennung verfügte.

Hintergründe zum politischen und wirtschaftlichen System der Ukraine, ihren Politkern und Parteien, die angesichts der zumindest anfänglich häufig zitierten "Orangen Revolution" zum Grundlagenwissen gehören müssten, spielten kaum eine Rolle. Eine auffällige Auslassung stellt dies schon deshalb dar, weil Teile der EU, insbesondere Deutschland, mit dem Assoziierungsabkommen u.a. die Forderung verbunden hatten, die rechtskräftig verurteilte Politikerin Julia Timoschenko vorzeitig zu entlassen, wie anfänglich noch berichtet wurde. Der Konflikt war also unmittelbar mit dem widersprüchlichen Charakter der politischen Parteien verbunden.

Massive und konsonante Darstellung

Ein Vergleich der ersten Berichte über den sich abzeichnenden innenpolitischen Konflikt in der Ukraine zeigt bereits, dass in den verschiedenen professionellen Massenmedien, privat und öffentlich, in Radio, Print und Fernsehen, stark einheitlich berichtet wurde. Der absolut überwiegende Teil der Beiträge stammte von den großen Agenturen Reuters, AFP und DPA, was übergreifend über verschiedene Medien zu exakt gleichlautenden Berichten führte. Dort, wo eigene Korrespondenten berichteten, saßen diese zu diesem Zeitpunkt in Moskau und Warschau. Kein einziges deutsches Medium hatte einen eigenen dauerhaft stationierten Korrespondenten in der Ukraine.

Ab Dezember 2013 nahm der Anteil der Berichte über die Ukraine deutlich zu, ohne dass der bereits eingeführten Lesart des Konflikts wesentlich neue Sichtweisen hinzugefügt wurden. Laut Infomonitor des IFEM stellte das Land bereits im Dezember das mit Abstand wichtigste Auslandsthema. Die Berichterstattung war so außergewöhnlich massiv, dass sie den Anteil der deutschen Politikberichterstattung insgesamt nach oben trieb, obwohl der Dezember sonst ein politisch eher ereignisarmer Monat ist.

Bild: Malte Daniljuk, Daten: Ifem

In den folgenden sechs Monaten blieb der Konflikt nicht nur das bestimmende außenpolitische Thema, sondern das Hauptthema der Nachrichten überhaupt, wobei der März mit der Besetzung der Krim den absoluten Höhepunkt bildete. Erst ab Juni 2014 verdrängten zunächst die Fußballweltmeisterschaft und schließlich die Offensive der Organisation "Islamischer Staat" in Syrien und Irak das Thema von seinem Spitzenplatz. Seit September liegt der Umfang der Berichterstattung wieder auf dem bereits hohen Niveau des Dezember 2013.

Damit erreichte die Ukraine-Berichterstattung frühzeitig die beiden Merkmale, die ein Thema medienpolitisch besonders relevant werden lassen. Medial vermittelte Inhalte entfalten dann eine besondere Wirkung auf die Sichtweise von relevanten Teilen des Publikums, wenn sie sowohl massiv als auch konsonant auftreten. In einer liberal verfassten Mediendemokratie sollte dieser Fall theoretisch gar nicht eintreten können. Unterschiedliche Eigentumsformen und Eigentümer sowie verschiedene Einzelmedien mit ihren jeweiligen Redaktionen sollten eine Außenpluralität garantieren, dass also eine Vielfalt von Anbietern eine Ausgewogenheit in den erreichbaren Informationen gewährleistet.

Zudem sollte die Gestaltungs- und Meinungsfreiheit innerhalb einer Medienorganisation für eine gewisse Binnenpluralität sorgen. Damit ist gemeint, dass auch Nutzer eines Einzelmediums die Möglichkeit haben müssen, ein vielfältiges Spektrum von Informationen und Meinungen kennenzulernen. Der Grundsatz der Binnenpluralität besitzt Verfassungsrang besonders für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland.