Folgt auf den Atom- nun der Kohle-Ausstieg?

Sigmar Gabriel will weniger Kohlendioxid-Ausstoß in der Energiebranche

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Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel will die Strombranche dazu bringen, 22 Millionen Tonnen Kohlendioxid pro Jahr weniger auszustoßen - minus sieben Prozent. Damit würden die Energieriesen lediglich auf den Stand von 2009 zurückkehren. Und ernsthaft drohen will Gabriel RWE, Vattenfall und Co. durchaus nicht. Doch Medien und Parteifreunde gehen auf die Barrikaden. Kraftwerke, Arbeitsplätze und Versorgungssicherheit seien durch Gabriel bedroht.

Kraftwerk Neurath ohne "BoA"-Neubau. Bild: Tetris L./CC-BY-SA-3.0

Die Überschriften klangen teilweise so, als hätte Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel, im Kabinett Merkel auch für die Energiepolitik zuständig, einen radikalen Vorschlag unterbreitet. "Wie Gabriel den Kohleausstieg plant", titelte die "Rheinische Post". Einen "Zwang zum Klimaschutz" machte die "Westdeutsche Allgemeine Zeitung" aus. "Erbitterter Kampf um die Kohle", lautete die Schlagzeile des "Handelsblatts". "Acht Kraftwerke" seien von Abschaltung "gefährdet", glaubt der "Kölner Stadtanzeiger" erfahren zu haben.

Steht also eine kleine Revolution an? Folgt auf den Atom- nun der Kohle-Ausstieg? Nicht ganz. Denn Gabriels Konzept ist alles andere als ambitioniert. Die Strombranche soll in Eigenregie ihren Kohlendioxid-Ausstieß zwischen 2016 und 2020 jährlich um 4,4 Millionen Tonnen Kohlendioxid senken. Ab 2020 sollen die Energieriesen also 22 Millionen Tonnen Kohlendioxid pro Jahr weniger ausstoßen als heute.

Dabei jedoch übersieht Gabriel einen zentralen Widerspruch: Das Einsparziel will der SPD-Chef für die gesamte Branche setzen. Ordnungsrechtlich belangen könnte er aber lediglich einzelne Unternehmen. Prinzipiell sind sogar Strafzahlungen vorgesehen. Doch wem die Rechnung schicken? Die Branche kennt zwar Verbände. Die Branche hat aber als solche keine Portokasse, aus der sie Kohlendioxid-Knöllchen begleichen könnte. Gabriels Tiger hat also weder Zähne noch Klauen, noch bevor er überhaupt zum Sprung ansetzt.

22 Millionen Tonnen Kohlendioxid pro Jahr: Gabriels Reduktionszenario für die Strombranche

33,3 Millionen Tonnen Tonnen Kohlendioxid pro Jahr: Ausstoß des RWE-Braunkohle-Kraftwerkskomplexes Neurath bei Köln

22 Millionen Tonnen Kohlendioxid : Steigerung des jährlichen Gesamtausstoßes der deutschen Stromkonzerne von 2009 bis 2013

316 Millionen Tonnen Kohlendioxid: Gesamtausstoß der deutschen Stromkonzerne in 2013

Im Sommer 2015 will Gabriel ein beschlussreifes Gesetz präsentieren. Bisher liegt noch nicht einmal ein Referenten-Entwurf vor. Dennoch traf sich Gabriel am Montagnachmittag mit den Größen der deutschen Energiekonzerne, die "zurückhaltend freundlich" (Gabriel) auf den unausgereiften Vorschlag reagierten. Gabriel will Klagen wie jene gegen den Atomausstieg vermeiden, daraus macht er keinen Hehl. Die Branche soll entsprechend selbst entscheiden, wie sie das Ziel erreicht, sei es durch Abschaltung vereinzelter Kraftwerke, sei es durch Effizienzsteigerungen.

Zudem steht Gabriel einerseits unter Druck des SPD-regierten Kohlelandes Nordrhein-Westfalen. NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft ist Kohlekraft-Freundin, im SPD-Bundesvorstand für Energiepolitik zuständig und wettert mitunter im Stile des BDI gegen angeblich drohende "Deindustrialisierung", schickte aber zuletzt bevorzugt ihren Wirtschafts- und Energieminister Garrelt Duin vor. Dieser kritisierte seinen Parteifreund Gabriel denn auch deutlich: Energieversorgung, Energiepreise und Energie-Arbeitsplätze müssten sicher bleiben. Er sehe da "offene Fragen", winkte Duin mit dem Zaunpfahl. Die Energiewende müsse mit Wachstum und Arbeitsplätzen verbunden sein, forderte auch Michael Vassiliadis, Vorsitzender Energie-Gewerkschaft IG BCE. "Ein Doppelausstieg aus Atom und Kohle ist nicht realistisch", mahnte der Gewerkschafter.

Andererseits sind da aber auch noch die manchem als ambitioniert geltenden deutschen Klimaschutzziele: Um 40 Prozent soll Deutschland seinen Kohlendioxid-Ausstoß bis 2020 senken, gegenüber dem Stand im Jahr 1990. Sigmar Gabriels Parteifreundin Barbara Hendricks, ihres Zeichens Bundesumweltministerin, stellt Anfang Dezember im Kabinett ein Konzept vor, wie die Lücke gegenüber dem Szenario geschlossen werden kann. Gabriel kann Hendricks nicht völlig brüskieren.

Um 60 bis 100 Millionen Tonnen Kohlendioxid pro Jahr hinkt Deutschland hinter dem eigenen Plan her. Was nebenbei dem Drei- bis Fünffachen der Gabrielschen 22 Millionen Tonnen entspricht.

Das Bezugsjahr 1990 ist mit Bedacht gewählt. 1990 war die DDR noch nicht deindustrialisiert und manches Braunkohlekraftwerk brummte noch fröhlich vor sich hin. All diese Emissionen flossen in die Rechnung ein. Schneide 40 Prozent von einem großen Kuchen ab, und das verbleibende 60-Prozent-Stück ist natürlich größer als bei einem kleineren Kuchen. In der internationalen Debatte werden die grandiosen Klimaschutz-Erfolge denn auch als "Wall Fall Profits" bespottet, als Mauerfall-Erfolge also.

22 Millionen Tonnen Kohlendioxid: Um ziemlich genau diesen Betrag stieg der Ausstoß der deutschen Strombranche zwischen 2009 und 2013 an, wegen der erhöhten Bedeutung der Kohlekraft nach Fukushima. Allein RWEs Braunkohle-Kraftwerks-Komplex in Neurath im Rheinland kommt auf jährlich 33,3 Millionen Tonnen. 2012 war dort ein weiterer Block eingeweiht und das nunmehr "größte Braunkohle-Kraftwerk der Welt" gefeiert worden, mit bundes- und landespolitischer Prominenz.

Auch die Kraftwerke in Niederaußem (Rheinland, RWE) und Jänschwalde (Brandenburg, Vattenfall) stoßen jeweils mehr als 22 Millionen Tonnen Kohlendioxid pro Jahr aus. Derzeit emittiert die Strombranche rund 316 Millionen Tonnen des wichtigsten Treibhausgases, 22 Millionen Tonnen entsprechen da gerade einmal sieben Prozent. Ein Ausstieg aus der Kohlekraft würde anders ausschauen.