Wege aus dem Kapitalismus

Telepolis eBook über das Einfache, das schwer zu machen ist

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Dem Denken von Alternativen zur kapitalistischen Dauerkrise stellen sich ungeheure Hindernisse in den Weg. Die lückenlose Dichte kapitalistischer Vergesellschaftung, die längst zur Totalität geronnene Allgegenwart der Märkte, errichtet in einem jeden Insassen der globalen kapitalistischen Tretmühle ein regelrechtes Gedankengefängnis. Wenn es kein nicht-kapitalistisches "Außen" mehr gibt, wenn alle Gesellschaftsfelder und Nischen bis hin zur Subkultur von dem kapitalistischen Kosten-Nutzen-Kalkül okkupiert sind, dann gewinnt die vermittelte und subjektlose Kapitalherrschaft, der berüchtigte "stumme Zwang der Verhältnisse", den Anschein eines Naturverhältnisses.

Obwohl der Kapitalismus, menschheitsgeschichtlich betrachtet, nur über einen sehr kurzen Zeitraum seine zerstörerische Expansionsdynamik entfaltet, scheinen die gegenwärtigen Verhältnisse geschichtslos und in Stein gemeißelt. Die krisenbedingt eskalierenden inneren Widersprüche und Verwerfungen des Spätkapitalismus erscheinen als Naturereignisse, seine Strukturen gerinnen zu Axiomen jeglicher Denkbewegung. Wie schwer der Ausbruch aus diesem Gedankengefängnis ist, dessen Gitterstäbe gerade aus den alltäglichen Begriffen und Kategorien bestehen, beweisen gerade die Postkapitalismus-Debatten, die angesichts der eskalierenden Systemkrise nun auch den Mainstream der Massenmedien erfasst haben.

Angestoßen durch den Bestseller "Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft" des Wirtschaftsvisionärs Jeremy Rifkin, der ein Ende der kapitalistischen Wirtschaftsweise prognostiziert, schienen viele Massenmedien an einem öffentlichen Tabu zu rühren - allein durch den Umstand, dass sie über die Möglichkeit einer Systemtransformation und einer hieraus hervorgehenden postkapitalistischen Gesellschaft diskutierten. Das deprimierendste Moment an dieser öffentlichen Diskussion bestand in dem Rückfall in kapitalistische Kategorien und Denkformen gerade derjenigen Beiträge und Akteure, die eine Systemtransformation für möglich oder notwendig erachteten. Von diesem unbewussten Rückfall sind auch die Visionen Jeremy Rifkins durchsetzt.

Wohin eine solch schiefe und unreflektierte Postkapitalismus -Debatte in der Praxis führen kann, schildert Elisabeth Voß in ihrem Beitrag "Die schöne neue Shareconomy und ihre Schattenseiten". Ein neuer Schub der Prekarisierung und des Lohndumpings, von dem die kommerziellen Anbieter der "Share-Economy" profitieren, wird mit dem Label einer alternativen Wirtschaftsweise versehen. Hier findet ein bloßes Rebranding des Spätkapitalismus statt.

Und dennoch ist eine ernsthafte und tief greifende öffentliche Diskussion von Systemalternativen zum krisengeplagten Spätkapitalismus schlicht überlebensnotwendig. Es waren ja gerade die sich immer offensichtlicher abzeichnenden inneren und äußeren Schranken der kapitalistischen Wirtschaftsweise, von der Krise der Arbeitsgesellschaft über allgegenwärtigen Staatszerfall bis zum drohenden Klimakollaps, die den postkapitalistischen Diskurs im Mainstream überhaupt erst angestoßen haben. Immer deutlicher tritt angesichts der eskalierenden Verwerfungen und Widersprüche offen zutage, dass die einzigen Zukunftsperspektiven, die der Spätkapitalismus noch bieten kann, aus den Dystopien oder Apokalypsen bestehen, die in den Produkten der Kulturindustrie - vom Film bis zum Computerspiel - inzwischen eine solch dominierende Stellung innehaben.

Dabei hat der Zerfall des kapitalistischen Weltsystems in dessen Peripherie längst eingesetzt. Der Staatszerfall in vielen Regionen Afrikas und das anomische Chaos, das weite Teile des arabischen Raums erfasst hat, sind ebenso Ausdruck des kapitalistischen Systemversagens wie der molekulare Bürgerkrieg in Mexiko und Mittelamerika, wo die Grenzen zwischen den in Korruption und Nepotismus versinkenden Staaten und den Maras und Kartellen zur Unkenntlichkeit verwischt sind.

Der Aufstieg extremistischer Bewegungen und Parteien vom europäischen Rechtsextremismus bis zum arabischen Dschihadismum begleitet - ähnlich den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts - diesen tief greifenden wirtschaftlichen und politischen Krisenprozess. Und auch auf geopolitischer Ebene sind Parallelen zu der Vorkriegszeit in den krisengeplagten 30er Jahren des 20. Jahrhunderts erkennbar: Die Staatsapparate der Großmächte reagieren auf die zunehmenden inneren Widersprüche mit einem verstärkten Drang zu äußerer Expansion, was sich in den gegenwärtig rapide zunehmenden Spannungen zwischen dem "Westen" (Europa und USA) und Russland und China äußert. Die Perspektive eines Großkrieges zwischen diesen Machtblöcken - die angesichts des akkumulierten Vernichtungspotenzials eine apokalyptische Dimension annimmt - rückt in den Bereich des Denkbaren und Möglichen. Über all dem hängt als Damoklesschwert die große Unbekannte der Folgen künftiger Klimaumbrüche, worauf ein auf permanentes Wachstum, auf uferlose Expansion geeichtes System keine Antwort liefern kann.

Die Suche nach Alternativen zu dieser in Chaos, Krieg und monströser Barbarei versinkenden Gesellschaftsunordnung ist somit Ausdruck des schlichten Überlebenswillens, eines sublimierten Selbsterhaltungstriebes, dem klar geworden ist, dass die Rettung des Einzelnen nur durch die Erhaltung des Zivilisationsprozesses und die Transformation der Gesellschaft erreicht werden kann. Nicht die Suche nach Alternativen zum Kapitalismus ist extremistisch - das spätkapitalistische System verfällt in Extremismus, wie der alltägliche Massenmord und die zunehmenden Verwerfungen offenlegen.

Wir leben in einer extremistischen Gesellschaft, die beständig irre Ideologien wie Rechtsextremismus oder Islamismus ausschwitzt. Als Extremisten können folglich diejenigen Apologeten kapitalistischer Herrschaft bezeichnet werden, die dieses zu einem Schlachthaus der Menschheit mutierende System immer noch als alternativlos und als die "beste aller möglichen Welten" bezeichnen. Die Suche nach einer Systemalternative stellt hingegen das einzig Vernünftige, Mittlere, Gemäßigte dar: Es ist ein Unterfangen, dem sich ein jeder Spießer zu verschreiben hätte, der sich Sorgen um die Zukunft seiner Kinder macht - und der erkannt hat, dass deren Abrichtung zu Mobbingmaschinen, wie sie jetzt in der Mittelklasse gang und gäbe ist, ihnen keine lebenswerten Zukunftsperspektiven eröffnen wird.

Nicht nur das Vernichtungspotenzial ist durch den Kapitalismus ins Unermessliche gesteigert worden. Im Schoße dieser alten, sterbenden Gesellschaftsformation sind auch die materiellen Potenzen zu deren Überwindung und Transformation gereift. Die Absurdität der gegenwärtigen Systemkrise besteht ja gerade in dem Umstand, dass der Kapitalismus an seiner Hyperproduktivität zugrunde geht, er erstickt an den ganzen Warenbergen, die er hervorbringt. Die Systemalternative zu dieser gigantischen kapitalistischen Überproduktionskrise stellt somit etwas überaus Einfaches dar, das schwer zu machen ist, wie es schon Bertolt Brecht formulierte.

Das Ziel mag von ergreifender Schlichtheit sein, die Wege dorthin sind aber ungeheuer schwierig und mühselig. Sie sind nur vermittels einer breiten egalitären Diskussion, eines öffentlichen Diskurses, ausfindig zu machen, in dem schon ein grundlegendes Merkmal einer postkapitalistischen Gesellschaft aufscheinen würde - die bewusste Verständigung aller Gesellschaftsmitglieder über den gesellschaftlichen Reproduktionsprozess.

Das vorliegende eBook soll einen bescheidenen Beitrag zur Vertiefung dieser überlebensnotwendigen und notwendig kontroversen Debatte leisten. Hierbei kann es sich nur um einen ersten Schritt handeln, der dem geneigten Leser die grundlegende Orientierung innerhalb der komplexen Thematik erleichtern, und eine erste Positionierung ermöglichen soll.

Die Beiträge machen klar, dass die Ideen des "Visionärs" Jeremy Rifkin - wie auch die durch ihn angestoßene Diskussion - letztendlich auf der jahrelangen theoretischen Arbeit einer ganzen Generation von Aktivisten beruhen, die diese Ideen und Konzepte schon lange entworfen haben, bevor der Mainstream sich ihrer bemächtigte. Dieses eBook soll somit nicht nur der Vertiefung des Diskurses über Postkapitalismus dienen. Es geht auch darum, die hinter diesen massenmedialen Schlagworten stehenden Konzepte ernst zu nehmen, sie mit konkreter Begrifflichkeit auszufüllen, und so deren Missbrauch durch Marketingstrategen der kommerziellen "Share-Economy" vorzubeugen. Es gilt, Begriffe wie Share-Economy, Peer-Production, Degrowth, Postwachstumsökonomie oder Allmende dem Medienzirkus streitig zu machen, um ihre totale Aushöhlung und Entwertung zu verhindern.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.