Hinrichtung in Versailles

Pièges

Phantome, verschwundene Hüte und Enthauptungen: Teil 2

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Teil 1: Phantome, verschwundene Hüte und Enthauptungen

Wenn im Internet bewegte Bilder auftauchen, in denen zu sehen ist, wie der IS einer westlichen Geisel den Kopf abschlägt, wird jedes Mal die Frage diskutiert, wie man damit umgehen soll. Das muss so sein, weil es keine einfache Antwort darauf gibt. Ein bewährtes Mittel ist das der Ausgrenzung. Man stellt eine letztlich der eigenen Beruhigung dienende Distanz her, indem man das Geschehen in andere Erdteile oder andere Zeiten abschiebt und hat dann nur noch insofern damit zu tun, als man von Terroristen zum unfreiwilligen Zeugen solcher Brutalitäten gemacht wurde. Bei der Berichterstattung über die Enthauptungsvideos gehört es inzwischen zum Ritual, eine Verbindung zu "mittelalterlichen Grausamkeiten" herzustellen, vorzugsweise zu Grausamkeiten in der islamischen Welt des Mittelalters, das bekanntlich finster war. Ganz redlich ist das aber nicht. Das öffentliche, einer Inszenierung gleichende Kopfabschlagen hat in Europa eine lange Tradition, die weiter in unsere Gegenwart hineinragt, als wir es wahrhaben wollen, wenn wir über eine Barbarei sprechen, die immer nur die der anderen ist. In Frankreich endete sie in den frühen Morgenstunden des 17. Juni 1939 in Versailles, mit der Enthauptung des deutschen Serienmörders Eugen Weidmann. Natürlich macht das die Mordtaten des IS um nichts besser. Aber das ist wieder eine andere Geschichte.

Im Dezember 1937, da haben wir aufgehört, verhaftete die französische Polizei einen Deutschen, der dann umstandslos fünf Morde gestand (und später noch einen sechsten). Das Motiv für die Taten blieb rätselhaft. Die geglättete Version von der Geschichte geht so, dass sich die Bande ein Vermögen ergaunern wollte, indem sie wohlhabende Ausländer entführte oder ausraubte. Jean de Koven gab daheim in Brooklyn Tanzstunden und war bestimmt nicht reich. Das wird üblicherweise so erklärt, dass Weidmann (trotz längerem Kanadaaufenthalt) einer von den Europäern war, die Amerikaner nur aus Filmen und Romanen kannten und glaubten, dass jeder von ihnen Millionär sei. Und dann forderte er 500 Dollar Lösegeld für Jean de Koven? Der Immobilienmakler Raymond Lesobre hatte auch nicht unbedingt ein Vermögen dabei, als er getötet wurde. Joseph Couffy war ein Chauffeur, den Weidmann im September 1937 für eine Fahrt zur Côte d’Azur anheuerte und dessen Auto er stahl, nachdem er ihm von hinten in den Kopf geschossen hatte. Der Mörder kann nicht ernsthaft geglaubt haben, dadurch ein Vermögen zu erbeuten. In Jouffys Brieftasche fand er wenigstens genug Geld, um sich ein paar schöne Tage machen und das Benzin für die Rückfahrt nach Paris bezahlen zu können.

Herrschaft des Verbrechens

Pièges, der Film von Robert Siodmak, nützt als Strukturmittel die Kontaktanzeigen in der Zeitung, die Adrienne ausschneidet, um sie dann abzuarbeiten. Das hat seine Entsprechung in der Affäre Weidmann. Bei der Durchsuchung der Villa Voulzie entdeckte die Polizei eine Sammlung fein säuberlich ausgeschnittener und geordneter Kleinanzeigen. Frauen suchten da einen Beschützer, eine gut gebaute Amazone wollte gern einen Herrn mit Sinn für Originalität in ihren Gemächern begrüßen, aber es gab auch seriöse Stellengesuche von Zimmermädchen, die auf einen Arbeitsplatz hofften (in der Zofen-Episode von Pièges kommt Adrienne den Mädchenhändlern auf die Spur). Wollte Weidmann demnach die Eltern von Zimmermädchen erpressen und so ein reicher Mann werden? Er und seine Komplizen inserierten auch selbst. Nichts davon war geeignet, den Kontakt zu Millionären herzustellen. Ermordet wurde vielmehr eine Frau, die sich als Kinderbetreuerin beworben hatte.

Ging es folglich doch nicht um Geld? Aber worum dann? Um die Lust am Töten? Wie passt die an eine kaltblütige Liquidierung erinnernde Methode dazu, mit der fünf von sechs Opfern ermordet wurden, der Genickschuss? Hatte Weidmann sich in einer Phantasiewelt verloren, in der er Abenteuer erleben wollte wie ein Filmheld? Oder gab es sexuelle Motive? In der Villa wurden etwa 15 Paar Schuhe gefunden, von Männern wie von Frauen. Nicht alle waren einem Besitzer zuzuordnen. Das führte zu Mutmaßungen darüber, dass es a) mehr Opfer gab als bekannt und b) Weidmann ein Fetischist war. Zwei von den ausgeschnittenen Kleinanzeigen waren an Fetischisten adressiert. Die Polizei befragte eine Prostituierte, die eine Weile lang - eher privat - eine sexuelle Beziehung mit dem Mörder unterhalten hatte und aussagte, dass er nie sadistische oder sonst irgendwie perverse Wünsche gehabt habe. Andererseits gab eine Zeugin zu Protokoll, Weidmann habe ihr gegenüber geäußert, dass er für sein Leben gern Frauenunterwäsche berühre. In Pièges deckt der Majordomus einer vornehmen Pariser Familie diesen Aspekt der Affäre ab. Die Szene ist so subversiv, weil sie genauso in einem Bordell spielen könnte wie in einem Domizil der Pariser High Society. Adrienne wurde als Zofe angestellt. Der Majordomus kommt in ihr Schlafzimmer, schenkt ihr ein Negligee und genießt es dann, sich ihren Wünschen zu unterwerfen, weil er außer Fetischist auch Masochist ist.

Pièges

Die vom Gericht zugezogenen Psychiater schrieben Routinegutachten und kamen zu dem Schluss, dass Weidmann ein Mörder und deshalb wohl nicht ganz normal, im Übrigen aber voll schuldfähig sei. Ein weitergehendes Interesse hatten sie nicht an ihm. Von der Verteidigung beigebrachte Gegengutachten waren damals nicht üblich. Experten und Scharlatane meldeten sich trotzdem mit ihren Theorien zu Wort. Der Mörder hatte einen Mutterkomplex (Weidmann hielt seine Mutter für eine Heilige), die streng katholische Erziehung durch seine Großeltern war schuld (Weidmann hatte, durch den Ersten Weltkrieg bedingt, einen Teil seiner Kindheit bei Opa und Oma in Köln verbringen müssen) oder auch die Pflichtvergessenheit der alten Leute, die das Kind sich selber überließen, wenn nicht gerade gebetet wurde. Andere hielten den adretten und kultivierten jungen Mann, der gleichzeitig den idealen Schwiegersohn verkörperte und ein scheinbar gefühlloser Mörder war, für die moderne Variante von Dr. Jekyll und Mr. Hyde. Bei Stevenson ist es so, dass Jekyll den Hyde in sich immer schlechter kontrollieren kann, wenn er ihn erst einmal herausgelassen hat. Dieser Theorie neigte der Untersuchungsrichter zu. Der Mord an Jean de Koven weckte das Monster in Weidmann, das dann nach und nach Besitz von ihm ergriff.

Pièges

Viele Anhänger hatte die These, dass Weidmann ein Agent der Nazis sei, den Hitler geschickt hatte, um durch scheinbar unerklärliche Verbrechen ein Gefühl der allgemeinen Verunsicherung zu erzeugen, wie es Dr. Mabuse bei Fritz Lang empfiehlt, zur Destabilisierung der Gesellschaft. Weidmann wurde so zur Projektionsfläche für alles, was die Franzosen an ihren deutschen Nachbarn unheimlich und bedrohlich fanden. Dabei musste man gar nicht erst über die Grenze schauen. Die Mabuse-Hypothese wirkte auch deshalb glaubhaft, weil kurz vor Weidmanns Verhaftung, nach einem gescheiterten Putschversuch, die Organisation secrète d’action révolutionnaire nationale (OSARN) aufgeflogen war. Die Cagoule, wie sie allgemein genannt wurde (cagoule = Kapuzenmaske), war eine rechtsextreme und antisemitische Terrorgruppe, die überall im Land geheime Waffenlager angelegt, die Armee infiltriert und seit 1935 Anschläge begangen hatte. Das Ziel der Cagoulards war es, den Staat so weit zu destabilisieren, dass die Volksfrontregierung des Sozialisten Léon Blum durch ein faschistisches Regime abgelöst werden konnte. Ihre Verbindungen reichten bis in höchste Kreise, was nie befriedigend aufgeklärt wurde. Einer der Geldgeber war Eugène Schueller, der Erfinder eines synthetischen Haarfärbemittels und Gründer des Kosmetikkonzerns L’Oréal, bei dem einige der als Putschisten gescheiterten Cagoulards unterkamen und dann auch diverse Nazis und Kollaborateure (nachzulesen in Michael Bar-Zohars Buch Bitter Scent: The Case of L’Oreal, Nazis, and the Arab Boycott).

Serienmord mit Bildern

In Frankreich wie in Deutschland hätte man auf eine Mordsache wie die in Sachen Eugen Weidmann bestimmt gern verzichtet. Der Fall war ein Politikum mit Explosionsgefahr. Die Franzosen mussten sich darüber im Klaren sein, dass die unberechenbaren Machthaber in Berlin die Ereignisse argwöhnisch beobachten und sich womöglich zu irgendeiner Reaktion gezwungen sehen würden. Umgekehrt schätzte man in Berlin den propagandistischen Nutzwert der Angelegenheit offenbar als gering bis nicht vorhanden ein. Weidmanns Mutter flüchtete in die Illusion, dass ihr Sohn in eine Falle geraten war und unter der Folter Verbrechen gestanden hatte, die er nicht begangen hatte. Für die Nazis war dieser Serienkiller aus Frankfurt, der mordete, weil er geldgierig war, unter der Trennung von seiner Mutter litt oder beim Anblick von Schuhen in sexuelle Erregung geriet einfach nur peinlich. Sollte er wirklich ihr Agent gewesen sein, konnten sie das schlecht eingestehen. Der Antisemitismus gab auch nichts her, weil Weidmann nach Nazi-Maßstäben ein reinrassiger Arier war. Eine umfangreiche Berichterstattung in den deutschen Medien war unerwünscht. Die gleichgeschaltete Presse hielt sich sehr zurück. In Frankreich war das ganz anders. Dort versuchten investigative Journalisten, die "ganze Wahrheit" ans Licht zu bringen oder wenigstens Material für die Leser elektrisierende Geschichten zu finden.

Medienhistorisch ist der Fall auch deshalb interessant, weil er dem Publikum mehr über Bilder vermittelt wurde als bisher üblich. Pierre Lazareff, der Chefredakteur der Tageszeitung Paris-Soir, hatte vor einiger Zeit beschlossen, es den Amerikanern gleichzutun und die Faits divers, also die letzte, für die vermischten Nachrichten reservierte Seite im Blatt, zu illustrieren. Je spektakulärer die Photos, desto besser. Die France-Soir war damit so erfolgreich, dass andere, ebenfalls zum Imperium des Medienmagnaten Jean Prouvost gehörende Druckerzeugnisse wie die Frauenzeitschrift Marie-Claire, das Konzept übernahmen. Die Konkurrenz folgte sehr schnell nach. Ein paar Jahre vorher hätten die Käufer französischer Zeitungen primär über den Fall gelesen. Jetzt bekamen sie regelmäßig Photos von Weidmann, seinen Komplizen und den Opfern zu sehen.

Lazareff schickte zwei seiner Reporter zur Recherche nach Versailles. Colombani schreibt, dass die beiden am Morgen nach einem vom Untersuchungsrichter angeordneten Ortstermin ohne Probleme die Villa Voulzie betreten konnten, weil sie sehr früh gekommen waren und noch kein Polizist da war. Nicht jeder hatte damals schon verstanden, wie wichtig die Tatortsicherung ist. Den Reportern zufolge waren nicht einmal die Türen abgeschlossen. Nach der amtlichen Durchsuchung war das Haus in großer Unordnung. Auf dem Boden lagen Papiere herum, unter denen die Journalisten mehrere Amateurphotos mit einer unbekannten jungen Frau fanden. Über den Photographen, der die Aufnahmen entwickelt hatte, ließ sich ihre Identität feststellen. Es handelte sich um Janine Keller aus dem Elsass, die seit mehreren Wochen als vermisst gemeldet war und von deren Ermordung Weidmann bis dahin nichts erzählt hatte.

Für diese sensationelle Enthüllung räumte die France-Soir die komplette letzte Seite frei. Über zwei Spalten war ein Photo von Janine Keller abgedruckt - zum Ausschneiden, Herumzeigen und Aufbewahren. Jemand sollte mal untersuchen, ob und wie der Fall Weidmann die Wahrnehmung veränderte, indem er einen neuen Blick auf das Verbrechen freigab und dieses sichtbarer machte als bisher. Weidmann jedenfalls "erinnerte" sich jetzt daran, dass er auch Janine Keller getötet hatte. Die Mutter dreier Kinder hatte sich auf ein Zeitungsinserat gemeldet, in dem eine - nicht existierende - Familie aus Argentinien eine Betreuerin für die behinderte Tochter suchte. Weidmann hatte sich als ein Angestellter der Familie namens Thomas Brown ausgegeben, die Frau mit Hilfe von Million in die Caverne des Brigands gelockt (eine Höhle im Wald von Fontainebleau und ein beliebtes Ausflugsziel) und sie dort durch einen Schuss in den Hinterkopf getötet. Durch die Ermordung Janine Kellers erbeuteten Weidmann und Million einige hundert Francs, zwei billige Ringe und die Zahlungsanweisung einer Bank über 1200 Francs, die Colette Tricot später einlöste. An der von Weidmann bezeichneten Stelle wurde die im sandigen Boden der Höhle vergrabene Leiche gefunden. Bei einem zweiten, im Sommer 1938 vom Untersuchungsrichter anberaumten Lokaltermin, brach Weidmann, der meistens unbeteiligt und gefühllos wirkte, wenn es um seine Opfer ging, plötzlich in Tränen aus. Er erklärte das damit, dass er an seine Mutter gedacht habe. Oder zumindest schreibt das seine Anwältin in dem Buch, das sie 30 Jahre danach über den Fall veröffentlichte.

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