Kann Glaube wahr sein?

Ein philosophischer Dialog über die Wahrheit des Glaubens

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In seiner kürzlich erschienenen Studie über "Die letzten Undinge" befasst sich Karl Czasny erkenntniskritisch mit verschiedenen Formen des religiösen Trostes. Am Ende seines Buches stellt er dann die Frage nach der Wahrheit des Glaubens. Er gesteht, dass er beim Nachdenken über diese Frage immer wieder an einem Punkt angelangt sei, an dem sein Denken sich im Kreis zu drehen begann. Um das Für und Wider der verschiedenen Argumente besser überblicken zu können, bittet er zwei fiktive Freunde seine Studie zu lesen und daraus im Rahmen eines Dialogs Schlussfolgerungen für die Frage der Glaubenswahrheit zu ziehen. Der eine der beiden vertritt in diesem Gespräch eine an Kant orientierte erkenntniskritische Position, der andere die eines christlich geprägten Glaubens. Während der Repräsentant des transzendentalen Standpunkts sich aus naheliegenden Gründen "Immanuel" nennt, tritt der Vertreter des Glaubens unter dem Namen "Pius" (zu Deutsch: Der Fromme) auf.

IMMANUEL: Ich finde es richtig nett von Karl, dass er uns in seinem Buch zu Wort kommen lässt.

PIUS: War aber auch höchste Zeit, nachdem wir monatelang für ihn alles ausdiskutieren durften, damit er dann die Ergebnisse unserer Debatten in seinem Text verbraten kann.

IMMANUEL: Ich sehe darin nichts besonders Verwerfliches. Genau so springen an der Uni die Professoren mit ihren Studenten um.

PIUS: Am Ende stehen wir sicherlich nicht mal im Autorenverzeichnis.

IMMANUEL: Vermutlich nicht. Aber lass jetzt das Jammern. Immerhin hat er uns das letzte Wort überlassen. Freu dich doch wenigstens über diese Ehre und sag mir, ob Glaube für dich etwas mit Wahrheit zu tun hat.

PIUS: Selbstverständlich. Geistige Unterstützung ist zwar eine höchst subjektive Angelegenheit - was den einen stärkt, wird an den Ängsten und der Verzweiflung eines anderen abprallen. Doch haftet jeder echten geistigen Stärkung zugleich auch ein für mich unverzichtbarer Wahrheitsanspruch an. Wer will sich schon auf ein Märchen stützen? Und wenn doch, dann nur deshalb, weil das Märchen eine für ihn sprachlich nicht anders fassbare Wahrheit auf gleichnishafte Weise ausdrückt.

IMMANUEL: Ich sehe das auch so. Worin besteht nun aber dein Glaube? Was ist es, das dich unterstützt und stärkt?

PIUS: Mein Glaube ist mein Vertrauen darauf, dass ich Teil eines großen Ganzen bin, das gut und weise ist und uns alle mit Liebe umfängt.

IMMANUEL: Und dieses gute Ganze nennst du "Gott"?

PIUS: So ist es.

Worin liegt die Wahrheit des Glaubens?

IMMANUEL: Wenn dein Glaube ein bestimmtes Bild von jenem Ganzen ist, das du Gott nennst - was verstehst du dann unter der Wahrheit deines Glaubens?

PIUS: Mein Glaube ist wahr, weil dieses Bild des Ganzen richtig ist.

IMMANUEL: Und wie gehst du bei der Beurteilung der Richtigkeit jenes Bildes vor? - Etwa so, dass du es mit dem Ganzen selbst vergleichst und dabei nach Fehlern der Abbildung suchst?

PIUS: Nein, wie sollte ich das tun? Ich habe ja nur mein Bild von Gott und kann es nicht mit Gott selbst vergleichen. Die Richtigkeit dieses Bildes muss sich bewähren.

IMMANUEL: Und wie kann sie sich bewähren?

PIUS: Mein Vertrauen, Teil eines guten Ganzen zu sein, muss sich in meinem alltäglichen Handeln und den dabei entstehenden Erfahrungen bestätigen - wobei ich sehr großzügig bin in meinen diesbezüglichen Urteilen. Ich gehe nämlich prinzipiell davon aus, dass mein kleiner Verstand sehr oft nicht verstehen kann, wieso sich in bestimmten Ereignissen die Liebe, Güte und Weisheit jenes Ganzen, das ich Gott nenne, spiegeln.

IMMANUEL: Dann hast du ja genau wie ich einen pragmatistischen Wahrheitsbegriff, der die Wahrheit einer Überzeugung an ihrer Bewährung im Handeln misst.

PIUS: Das kann man so formulieren.

IMMANUEL: Bewährung einer Überzeugung im Handeln heißt für mich, dass ein Tun, das sich von ihr leiten lässt, gelingt. Eine naturwissenschaftliche Überzeugung etwa bewährt sich im Erfolg der auf ihr beruhenden Technik, während sich eine sozialwissenschaftliche Überzeugung im Gelingen der an ihr orientierten Kommunikationsaktivitäten bewährt.

PIUS: Das sehe ich nicht anders. Ich möchte aber ergänzen, dass das Praxisfeld, in dem sich mein Glaube zu bewähren hat, natürlich nicht das technische Handeln ist. Schon eher das Kommunizieren mit anderen Menschen. Aber eigentlich trifft es das auch nicht ganz.

IMMANUEL: Ist das Handeln, bei dem sich dein Glaube bewähren soll, vielleicht das Handeln, mit dem wir Menschen in Differenz zu unserem eigenen Tun treten - also das Nachdenken über unser Tun, das Bemühen, unser tägliches Handeln in größere Perspektiven einzubetten oder ihm eine neue Richtung zu geben, unsere Versuche, mit Enttäuschungen fertig zu werden, Verzweiflung zu ertragen und Ängste zu bewältigen.

PIUS: Ja, das beschreibt sehr gut, was ich meine.

IMMANUEL: Bewährung des Glaubens im Handeln heißt also nicht, dass wir durch unseren Glauben nach außen hin gut (bzw. besser, als ohne Glauben) funktionieren oder dass unser äußeres Handeln besser gelingt?

PIUS: Nein, das meint "Bewährung des Glaubens" nicht.

IMMANUEL: Weil aber besseres Gelingen unseres äußeren Verhaltens unmittelbar dazu führt, dass wir glücklicher und zufriedener sind, meint die Bewährung des Glaubens auch nicht, dass er uns zufriedener und glücklicher macht?

PIUS: Nein, auch das ist nicht damit gemeint.

IMMANUEL: "Bewährung des Glaubens" meint vielmehr, dass uns - völlig unabhängig vom Gelingen unseres äußeren Verhaltens - das Verhalten zu uns selbst gelingt.

PIUS: So ist es. Ich bin jedoch sicher, dass das Gelingen unseres Verhaltens zu uns selbst sich indirekt auch sehr positiv auf unser äußeres Verhalten und damit ebenso positiv auf unsere Chance, glücklich und zufrieden zu sein, auswirkt.

IMMANUEL: Das ist auch meine Überzeugung. Außerdem hat im Bereich der zwischenmenschlichen Kommunikation das Verhalten zum jeweiligen Gegenüber sowohl den Stellenwert eines äußeren Verhaltens als auch eines Verhaltens zum Verhalten.

PIUS: Das verstehe ich nicht.

IMMANUEL: Nimm als Beispiel uns zwei. Von meinem Standpunkt aus ist mein Verhalten zu dir ein äußeres Verhalten. Und von deinem Standpunkt aus ist dein Verhalten zu mir ein äußeres Verhalten. Wenn wir uns beide aber als Kooperationspartner betrachten, die gemeinsam nach außen hin agieren, dann ist unser wechselseitiges Verhalten eine interne Angelegenheit, also ein reflexives Verhalten zu uns selbst.

PIUS: Bei der zwischenmenschlichen Kommunikation ist also die Unterscheidung zwischen äußerem Verhalten und Verhalten zum Verhalten nur eine Frage des Betrachtungsstandpunkts. Jetzt wird mir klar, wieso ich zuvor im Zweifel war, ob die Kommunikation mit anderen Menschen jenes Praxisfeld ist, in dem sich der Glaube zu bewähren hat.

Ziel als Ideal und Wirklichkeit

IMMANUEL: Ich denke auch, dass genau dies der Grund deiner Unsicherheit war. Aber setzen wir doch nun unsere Überlegung zur Frage der Bewährung des Glaubens fort. Wir wissen jetzt, dass er sich im Gelingen unseres Verhaltens zu uns selbst bewähren muss. Sage mir bitte: Was ist das Ziel jenes Verhaltens. Ob wir nämlich das Verhalten zu uns selbst als gelungen ansehen, hängt ja wohl davon ab, was sein Ziel ist.

PIUS: Ich möchte, dass jeder von uns sich selbst und wir alle einander mit derselben Liebe, Güte und Weisheit begegnen lernen, mit der Gott uns gegenübertritt. Denn dadurch gleichen wir uns der Liebe, Güte und Weisheit des Ganzen, dessen Teil wir sind, an.

IMMANUEL: Liegt da nicht ein Zirkel vor? Du misst ja die Wahrheit deines Gottesbildes am Gelingen eines Handelns, dessen Ziel auf jenem Gottesbild fußt.

PIUS: Von einem Zirkel dürftest du nur dann sprechen, wenn mein Glaube völlig unabhängig von jeder Erfahrung feststünde - wenn also mein Vertrauen darauf, Teil eines guten, weisen und uns mit Liebe umfassenden Ganzen zu sein, durch nichts zu erschüttern wäre.

IMMANUEL: Reichen zwei Weltkriege und unzählige Völkermorde nicht aus, um deinen Glauben zu erschüttern? Was muss denn noch alles passieren, dass du zu zweifeln beginnst?

PIUS: (nach längerem Nachdenken) Ich kann das jetzt nicht beantworten. Aber ich weiß, dass immer wieder Menschen ihren Glauben verlieren. Und da ich ein Mensch bin, halte ich das auch bei mir für eine ganz reale Möglichkeit.

IMMANUEL: Was würde in so einem Fall aus deiner Sicht mit dem Ziel unseres auf uns selbst bezogenen Verhaltens passieren? Dieses Ziel müsste doch vom Verlust deines Glaubens betroffen sein. Denn es besteht ja darin, sich jener Liebe, Güte und Weisheit des Ganzen anzugleichen, auf die du in diesem Fall nicht mehr vertraust.

PIUS: (wieder nach längerem Nachdenken) Hätte ich den Glauben an die Güte dieses Ganze verloren, dann würde ich mir zwar nicht mehr wünschen, dass wir uns mit dem Verhalten zu uns selbst und zu einander dem Ganzen angleichen. Ich würde aber weiterhin denken, dass es unser Ziel sei, uns selbst und einander mit möglichst großer Liebe, Güte und Weisheit zu begegnen.

IMMANUEL: Dann wäre das Wahrheitskriterium deines Glaubens genau deshalb nicht zirkelhaft, weil das, was du als Ziel unseres auf uns selbst bezogenen Handelns ansiehst, mit deinem Glauben eigentlich gar nichts zu tun hat. Weil es mit anderen Worten ein Ziel ist, das wir uns selbst geben bzw. gegeben haben; ein Ziel, das ganz allein unser Ziel ist.

PIUS: Ja, so ist es.

IMMANUEL: Es freut mich sehr, das zu hören. Denn genau dies ist auch meine transzendentale Position.

PIUS: Wir haben also beide dasselbe Ziel der Menschen in ihrem Verhalten zu sich selbst und zueinander vor Augen. Für dich und Deinesgleichen ist dieses Ziel aber ein bloßes Ideal, während es für mich und meinesgleichen in eine bereits bestehende Wirklichkeit, nämlich die von mir geglaubte Wirklichkeit Gottes, eingebettet ist.

Wie kann man nicht wollen, Teil eines guten Ganzen zu sein?

IMMANUEL: So scheint es sich zu verhalten. Aber lass uns noch einmal auf deinen Glauben an jene bereits bestehende Wirklichkeit Gottes zurückkommen: Du erhebst für diesen Glauben zwar einen Wahrheitsanspruch und gibst auch ein Wahrheitskriterium an, ich habe aber den Eindruck, dass die Wahrheit deines Glaubens für dich gar nicht so wichtig ist.

PIUS (entrüstet): Wie kommst du zu dieser Einschätzung?

IMMANUEL: Von primärer Wichtigkeit scheint mir dein Wunsch zu sein, es möge sich tatsächlich so verhalten, wie du es gerne hättest. So wie wir beide wollen, dass die Menschen sich und einander eines Tages mit Liebe, Güte und Weisheit begegnen, willst du jetzt schon Teil einer umfassenden Liebe, Weisheit und Güte sein. Und je stärker dieser Wille, desto unerschütterlicher ist dein Vertrauen, dass es sich tatsächlich so verhält. Je unerschütterlicher aber dein Glaube an das gute Ganze, desto eher bist du bereit, alle Argumente, die deiner vorgefassten Meinung widersprechen könnten, damit wegzuwischen, dass unseren Verstand zu klein ist, um dieses gute Ganze zu begreifen.

PIUS: Wie kann man nicht wollen, Teil eines guten Ganzen zu sein?

IMMANUEL: Wie kann man so naiv sein, anzunehmen, dass die Dinge tatsächlich so liegen, wie man es sich wünscht?

PIUS: Weil es das Leben erleichtert?

IMMANUEL: (wird nervös und beginnt auf und ab zu gehen) Jetzt hast du mich bei meinem pragmatistischen Wahrheitsbegriff erwischt. Denn der beurteilt ja eine Überzeugung genau dann als wahr, wenn sie unser Leben erleichtert, indem sie das an ihr orientierte Handeln gelingen lässt. Ich denke, wir sollten den Unterschied zwischen unseren beiden Standpunkten nochmals unter konsequenter Beachtung dieses Gesichtspunkts diskutieren.

PIUS: Damit bin ich einverstanden. Vielleicht kommen wir so ein Stück weiter.

IMMANUEL: Können wir dabei von den zwei bisher festgestellten Gemeinsamkeiten unserer Positionen ausgehen?

PIUS: Ja, das können wir. Die erste Gemeinsamkeit besagt, dass sowohl meine gläubige als auch deine transzendentale Sicht auf den Menschen dessen Verhalten zu sich selbst Orientierung geben möchte, damit ihm dieses Verhalten so gut wie möglich gelinge. Die zweite bezieht sich auf das Ziel unseres Verhaltens zu uns selbst. Es soll in eine Situation münden, in der jeder sich selbst und wir alle einander mit Liebe, Güte und Weisheit begegnen.

IMMANUEL: Im Unterschied zu mir bist du aber der Meinung, mit der Realisierung dieses von uns selbst gesetzten Zieles würden wir nur in einer tatsächlich immer schon in Liebe, Güte und Weisheit geordneten "eigentlichen Wirklichkeit" ankommen. Ich dagegen enthalte mich jeder Spekulation über das Wesen der "eigentlichen Wirklichkeit".

PIUS: Und wie beurteilst du nun vor dem Hintergrund des pragmatistischen Wahrheitskriteriums der Bewährung im Handeln die Wahrheit des Glaubens?

IMMANUEL: Ich denke, dass ein Glaube in dem Maße wahr ist, in dem er dem Menschen dabei hilft, sein Verhalten zu sich selbst so zu entwickeln, dass eine Annäherung an die von uns beiden als ideal angesehene Situation möglich wird.

PIUS: Du fällst also ein abgestuftes Urteil und lehnst den Glauben nicht von vornherein vollständig ab?

IMMANUEL: Das pragmatistische Wahrheitskriterium gelingenden Handelns führt fast immer zu abgestuften Beurteilungen des Wahrheitswerts von Überzeugungen. Im Falle des Glaubens und der transzendentalen Position geht es um das Gelingen jenes selbstbezüglichen Handelns, durch welches das Subjekt zum Subjekt wird.

PIUS: Willst du damit nochmals betonen, dass es hier nicht primär um das Gelingen des äußeren Verhaltens, sondern um das Verhalten zu diesem Verhalten geht?

IMMANUEL: Genau das will ich. Ein Glaube ist für mich in dem Maße wahr, in dem er es den Menschen ermöglicht, jene Selbstfesselungen in Frage zu stellen, welche verhindern, dass wir uns selbst und einander in Liebe, Güte und Weisheit begegnen. Und mit Selbstfesselungen meine ich nicht nur die im Inneren jedes Einzelnen angesiedelten psychischen Blockaden, sondern ebenso die diesen zugrunde liegenden Blockaden des durch Normen und Institutionen strukturierten sozio-ökonomischen Systems.

PIUS: Ein Glaube wird also deiner Ansicht nach nicht dadurch wahr, dass er das Leben erleichtert, indem er uns mit diesen Blockaden versöhnt. Für dich würde sich seine Wahrheit vielmehr darin beweisen, dass er es uns erleichtert, diese Blockaden aufzubrechen?

IMMANUEL: Ja. Genau daran dachte ich nämlich zuvor, als du davon sprachst, dass der Glaube das Leben erleichtert. PIUS: Und du warst plötzlich unsicher, da dir der Gedanke kam, die Annahme, Teil eines in Wirklichkeit guten Ganzen zu sein, müsse nicht unbedingt mit den Übeln dieser Welt versöhnen, sondern könnte unter Umständen auch Kraft geben, sich gegen diese Übel aufzulehnen?

IMMANUEL: Ja, dieser Gedanke war plötzlich da.

Welcher Glaube kommt dem Ideal am nächsten?

PIUS: Wie aber müsste eine Religion aussehen, die diesem Ideal entspricht? Oder anders gefragt: Entspricht eine der dir bekannten Religionen diesem Ideal eher als andere?

IMMANUEL: Wenn wir das pragmatistische Wahrheitskriterium ernst nehmen, geht es immer nur um die Interpretation des jeweiligen Glaubens durch die Gläubigen, also darum, wie er "auf sie wirkt". Und unter diesem Gesichtspunkt kann ich dir auf deine Fragen aus zwei Gründen keine Antwort geben. Erstens kommt es bei der Beurteilung dieser Wirkung einer Religion nicht nur auf die jeweilige Glaubensströmung, sondern auch auf das jeweilige gesellschaftliche Umfeld an. Ein und dieselbe Interpretation eines bestimmten Glaubens kann in unterschiedlichem Umfeld ganz unterschiedliche Wirkungen auf die Gläubigen entfalten. Zweitens ist auch die Perspektive des jeweiligen Individuums zu berücksichtigen. Ich komme hier auf das von Karl verwendete Bild der Krücke zurück: Ein und dieselbe Krücke mag bei dem einen die Lust an der eigenen Bewegung fördern, während sie den anderen nur noch träger macht.

PIUS: Das würde bedeuten, dass die Frage nach der Wahrheit eines bestimmten Glaubens nicht dogmatisch entscheidbar ist, sondern nur empirisch beantwortet werden kann, also mit Bedachtnahme auf die jeweils betroffenen Individuen, Gruppen und gesellschaftlichen Umfelder. Manche Theologen kritisieren eine solche Sicht auf die Wahrheit des Glaubens gewiss als Relativismus.

IMMANUEL: Mit Relativismus hat das nichts zu tun, denn die Beurteilung bezieht sich ja auf ein ganz und gar nicht beliebiges Ziel - das Aufbrechen von inneren und äußeren Blockaden, welche die Suche des Subjekts nach sich selbst behindern. Was sich unterscheidet, sind nur die Wege zu diesem Ziel. Und diese Wege wieder unterscheiden sich deshalb, weil es verschiedene Ausgangspunkte gibt, von denen her das allen gemeinsame Ziel anvisiert wird. Wenn Glaube diesen unterschiedlichen Ausgangspunkten Rechnung tragen soll, dann darf er gar nicht überall, das heißt zu allen Zeiten und unter allen gesellschaftlichen Bedingungen in derselben Gestalt auftreten.

PIUS: Du würdest also sagen, dass der Glaube völlig unabhängig von seiner konkreten Gestalt immer dann wahr ist, wenn er Subjekten dabei hilft, die ihren Weg zu sich selbst versperrenden Blockaden aufzubrechen, und dass er immer dann unwahr ist, wo er zur bloßen Versöhnung mit jenen Blockaden führt?

IMMANUEL: Ja; genau so sehe ich es.

PIUS: Wenn du das pragmatistische Wahrheitskriterium so radikal ins Spiel bringst, musst du es aber auch für möglich halten, dass der Glaube unter bestimmten Bedingungen wahrer ist als deine transzendentale Position. Denn für viele Menschen ist es sicherlich leichter, den Weg zu sich selbst im Sinne der Angleichung an ein gutes Ganzes zu gehen, als im Sinne des Strebens nach einem selbst gesetzten Ideal.

IMMANUEL: (zögernd, nach längerem Nachdenken) Ja. Das halte ich für möglich. Ehrlich gesagt, habe ich mich sogar selbst schon manchmal gefragt, welcher der beiden Wege meiner ist.

Die Fortsetzung des Dialogs von Carl Szasny findet sich im Buch "Die letzten Undinge", erschienen im Karl Alber Verlag, 328 Seiten, 26 Euro.