Rothschild-Verschwörungen bei Xavier Naidoo

Wo sich Krypto-Antisemitismus und Krypto-Schlager gute Nacht sagen

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Verkürzte Kapitalismuskritik hat derzeit Hochkonjunktur. Auf Straßen, Plätzen und im Netz tummeln sich zunehmend Infokrieger, die meinen, eine geheime Weltregierung entdeckt zu haben, die einen großen und bis ins Detail ausgefeilten Plan zur Knechtung der gesamten Menschheit verfolgt. Hinter diesem finsteren Treiben stecken - wen wundert es - die Juden. Das historische Feindbild ist in Deutschland offenbar aktueller denn je und treibt muntere Blüten bis hinein in die Popmusik. Besonderen Kultstatus unter den "Aufgewachten", die sich felsenfest überzeugt geben verstanden zu haben, was da "hinter den Kulissen" passiert, genießt der Mannheimer Sänger Xavier Naidoo. Das ist kein Zufall, denn seine Texte stecken aus deren Sicht voller "Wahrheiten".

Vereinfachte Kapitalismuskritik zeichnet sich oft dadurch aus, dass sie "die Kapitalisten" als monolithischen Block mit gleichgerichteten Interessen wahrnimmt. Dass es auch unter den Kapitalisten Konkurrenz und damit widersprüchliche Interessen gibt, die miteinander ringen, wird ausgeblendet. Statt die Ursache aktueller Probleme wie Kriegen, Umweltverschmutzung, schlechte Arbeitsbedingungen und Ausbeutung der Dritten durch die Erste Welt differenziert zu analysieren fragt die verkürzte Kapitalismuskritik gerne: "Wem nützt es?" - und unterstellt, dass der, der von einer aktuellen Entwicklung profitiert auch derjenige ist, der diese Entwicklung angestoßen hat.

Dieses verkürzte Denken, welches ausblendet, dass beispielsweise im derzeitigen Konflikt zwischen dem Westen und Russland ein Teil der Industrie Interesse an einer Entspannung hat, um weiterhin gute Geschäfte mit und in Russland zu machen, während ein anderer Industriezweig von einem Rüstungswettlauf wie zu Zeiten des Kalten Krieges profitieren würde, stellt das Weltbild der Infokrieger vor ein Problem: ein eindeutiger Profiteur des weltpolitischen Geschehens lässt sich mit der Cui Bono-Methode nicht ermitteln.

Wenn dieses Denkmodell funktionieren soll, braucht es eine übergeordnete Macht, die über den unterschiedlichen Akteuren in Wirtschaft und Politik steht. Eine Macht, die in der Lage ist die Handlungen nahezu aller Regierungen und Industriezweige zu ihrem eigenen Zweck zu steuern. Diese unheimliche Macht wird den Juden zugeschrieben; wobei die Anhänger dieser Verschwörungstheorie penibel darauf achten, diese offen antisemitische Denkweise zu kaschieren, in dem sie ihren Antisemitismus personalisieren und einzelne jüdische Familien für das Elend der Welt verantwortlich machen. Besonders beliebt ist hierfür die Familie Rothschild:

Rothschild und seine Vorfahren haben Präsidenten ausgewählt, Aktienmärkte bis zum Crash manipuliert, ganze Nationen in den Bankrott getrieben, Kriege dirigiert und den Massenmord sowie die Verarmung von Millionen Menschen gefördert. Der Reichtum, der allein von dieser Familie gehortet wird, könnte jedes menschliche Wesen auf diesem Planeten kleiden, ernähren und ihm einen Platz zum Leben (Wohnung) geben.

Die Legende von den mächtigen Rothschilds, die die Welt beherrschen ist ein klassisches Bild des historischen Antisemitismus. Bereits im 19. Jahrhundert gab es in Frankreich Karikaturen, die die Erdkugel in den Klauen der Rothschilds zeigen und auch die Nationalsozialisten in Deutschland griffen auf die Figur der Rothschilds zurück, um ihre Vernichtungspolitik gegenüber den Juden zu rechtfertigen.

Die antisemitische Legende von den Rothschilds treibt auch heute noch ihre Blüten und die Menschen auf die Straßen. In seinem Lied "Raus aus dem Reichstag" benutzt Xavier Naidoo das historische Bild der Rothschilds als reicher Banker, die dank ihres Vermögens unerkannt im Hintergrund die Fäden der Macht in der Hand halten, und gibt ihm einen modernen Anstrich:

Wie die Jungs von der Keinherzbank, die mit unserer Kohle zocken. Ihr wart sehr, sehr böse, steht bepisst in euren Socken. Baron Tothschild gibt den Ton an und er scheißt auf euch Gockel. Der Schmock is’n Fuchs und ihr seid nur Trottel.

Auch die Figur des "Schmocks", auf die Naidoo hier zurückgreift, steht in der Tradition des historischen Antisemitismus. Das Wort stammt aus Gustav Freytags Lustspiel Die Journalisten von 1853 und ist der Name eines gesinnungslosen jüdischen Journalisten, den Freytag mit allerlei antisemitisch-biologistischen Klischees auflädt, um zu zeigen, dass die Juden von Natur aus schlecht sind.

Für die seit diesem Frühjahr immer lautstärker in Erscheinung tretende Verschwörungstheoretiker-Szene ist Naidoos Lied ein gefundenes Fressen. Kurz nach dem Beginn der so genannten Montagsmahnwachen, die von Beginn an mit Theorien über die Macht der Rothschilds aufwarteten, erklärte die Seite Anonymous.Kollektiv, die von einer Einzelperson betrieben wird und nichts mit den ursprünglichen Idealen von Anonymous zu tun hat, "Raus aus dem Reichstag" zur Hymne des Widerstands.

Das Lied passt gut zu den übrigen Inhalten von Anonymous.Kollektiv: immer wieder macht die Seite Stimmung gegen Israel, verbreitet dazu beispielsweise einen Auftritt von Jürgen Elsässer auf einer Friedensmahnwache, in dem dieser angebliche zionistische Kriegsverbrechen anprangert und Deutschland ganz im Sinne der Reichsbürgerbewegung zu einem besetzen Land erklärt. Auch die These von der angeblich besetzen Bundesrepublik hat Xavier Naidoo wiederholt öffentlich vertreten.

Subtiler, aber ebenfalls in historischer Tradition steht die Zinskritik in Naidoos Lied Verschieden. Im Musikvideo wird je ein Zookäfig für Bundeskanzlerin Angela Merkel und US-Präsident Barack Obama, eingerichtet als Amtszimmer, gezeigt. Zu diesen Bildern singt Naidoo:

Zins und Zinseszins haben ausgedient. Die CDU hat ausgedient. Angela Merkel hat ausgedient. Sie werden gebeten, aus ihren Geschäftsräumen auszuziehen. Zins und Zinseszins haben ausgedient. Die USA haben ausgedient. Barack Obama hat ausgedient. Sie werden gebeten, aus ihren Geschäftsräumen auszuziehen.

Die Brechung der Zinsknechtschaft war ein wichtiges Thema der nationalsozialistischen Wirtschaftstheorie. Im Manifest zur Brechung der Zinsknechtschaft des Geldes rechnet Gottfried Feder vor, wie sich das Vermögen der Rothschilds durch Zins und Zinseszins vermehren würde, bis es "das gesamte deutsche Nationalvermögen schon weit übertreffen" würde.

Das Vermögen der Waffenschmiede Krupp, welches "für unser Volk Wehr und Waffen" bedeute, steige nur bis zu einer gewissen Sättigung des Kapitals an, aufgrund "zähester, zielbewußtester Arbeitsleistung". Die Rothschilds hingegen profitierten Dank Zins und Zinseszins von "mühe- und endlosem Wertzuwachs". Feder stellt hier den für den historischen Antisemitismus typischen Gegensatz von raffendem und schaffendem Kapital auf.

Der Rechtsextremismusexperte Jan Buschbom vom Violence Prevention Network sieht diese Texte Naidoos in dieser Tradition verwurzelt. Der Zins, so Buschbom, ist in dieser Ideologie eine Art jüdisches Machtinstrument, um die deutsche Bevölkerung zu knechten und zu beherrschen.

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