Reformen oder Revolution zum 100. Revolutionsjubiläum in Mexiko?

Wandbild zu Revolutionswirren im Regierungspalast. Bild: R. Streck

Massenproteste fordern den Rücktritt der Regierung

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Mexiko hat mit einer gewaltigen Demonstration den 100. Jahrestag der Revolution begangen. Die Feiern gestalteten sich erneut als Massenprotest gegen die Regierung von Enrique Peña Nieto, der eine Verstrickung in die Ermordung und Verschleppung von Studenten vorgeworfen wird. Mit Alexander Mora Venancio ist nun einer der 43 Studenten identifiziert worden, die am 26. September im Auftrag des Bürgermeisters von Iguala mit äußerster Brutalität von der Polizei festgenommen und schließlich der Drogenmafia übergeben wurden (Mexiko: Personalunion von Kommunalpolitik und Organisierter Kriminalität). Die Spannung im Land nimmt zu und Nieto versucht den massiven Protesten mit Versprechen von Reformen und einem Kampf gegen die Korruption die Spitze zu nehmen.

Vor fast genau 100 Jahren hatten am 6. Dezember die Revolutionstruppen unter den Revolutionsführern Emiliano Zapata und Pancho Villa die Hauptstadt des Landes Mexiko DF eingenommen. Zehntausende, vor allem bewaffnete Bauern, zogen mit der Schrei: "Land und Freiheit" in die Hauptstadt ein. Gefordert wurde von den "Agrarrevolutionären" auch eine Enteignung der Großgrundbesitzer: "Das Land denen, die es bearbeiten", war einer der Leitsprüche der Revolution.

Der Einmarsch in DF mit einer großen Parade war der Höhepunkt der Revolution. Der einst mit Zapata und Villa verbündete Venustiano Carranza musste dabei die Hauptstadt verlassen. Für den Unternehmer Carranza, der der oberen Mittelschicht entstammte, waren die Forderungen Zapatas und Villas untragbar. Der "Sieg" Zapatas und Villas währte aber nur kurz. Letztlich setzte sich Carranza gegen die zerstrittenen Truppen von Zapata und Villa durch. Die "Carranzistas" zogen nach ihrem Sieg über die Villa-Truppen Mitte 1915 wieder in der Hauptstadt ein. Dessen Regierung wurde sofort von den USA anerkannt und die Revolution wurde mit der Ermordung von Zapata 1919 und Villa 1923 praktisch beerdigt.

Es war Plutarco Elías Calles, der zum Carranza-Flügel gehörte und als Kriegs- und Marineminister erneut aufkommenden revolutionären Bewegungen hart bekämpfte, der schließlich die Partei der Institutionellen Revolution (PRI) gründete, die mit Nieto heute erneut Mexiko regiert. Sie ging aus der von Elías gegründeten Nationalen Revolutionspartei (PNR) hervor. Die PRI regierte praktisch von 1929 bis 2000 durch und trug die Züge einer Einheitspartei, die von zahllosen Skandalen und Korruption erschüttert wurde. Sie war auch für zahlreiche Massaker, wie das an Studenten in der Hauptstadt verantwortlich, um 1968 "ungestört" eine Olympia feiern zu können (Mexiko 1968 - Massaker für ungestörte Olympiade).

Die Verwicklungen der PRI in Drogenhandel und organisierte Kriminalität sind wahrlich kein Geheimnis. Und deshalb ist es kein Wunder, dass der Rücktritt von Nieto von den zahllosen Menschen gefordert wurde, die am Revolutionstag in den Straßen der Hauptstadt demonstrierten. Die Radikalisierung geht mittlerweile soweit, dass Studenten offen damit drohen, die Waffen gegen die Regierung wieder in die Hand zu nehmen.

Dass Nietos PRI und er nun wirklich gegen organisierte Kriminalität und Drogenkartelle vorgehen, wie er es nun erneut verspricht, nehmen viele ihnen nicht ab. Schließlich hat ausgerechnet die Drogenmafia der PRI und Nieto vor zwei Jahren wieder zum Wahlsieg verholfen (Blutige Zukunft). Nieto hatte sich sogar offen mit Drogenbossen gezeigt, die ihre Fotos auf ihrer Facebook-Seite veröffentlicht haben (Künftiger mexikanischer Präsident auf Fotos mit einem mutmaßlichen Narco).

Das Revolutionsjubiläum war komplett von den Vorgängen um das Verschwinden von den 43 Studenten im Bundesstaat Guerrero geprägt, wo die engen Verbindungen zwischen Drogenmafia, Politik und den sogenannten Sicherheitskräften mehr als deutlich wurden. Es war der Bürgermeister der Stadt Iguala, dessen Frau einer bekannten Drogenhändlerfamilie entstammt, der der Polizei befohlen hatte, protestierende Lehramtsstudenten zu stoppen. Das hat die Polizei mit tödlicher Gewalt ausgeführt und die Überlebenden der Aktion dann der Drogenmafia übergeben.

Dass die "Guerreros Unidos" schließlich die "Drecksarbeit" übernommen haben, scheint sich nun definitiv zu bestätigen. Verhaftete Mitglieder der Drogenbande erklärten, die Studenten, die während des Transports im Viehtransporter erstickten, seien später auf einer Müllhalde erschossen worden (Krieg ohne Kriegserklärung in Mexiko) Die Leichen sollen mit Autoreifen bedeckt und mit Benzin übergossen worden sein. Die Reste und die Asche seien in einen Fluss geworfen worden. Und tatsächlich haben daraus forensische Experten nun die Identität eines Opfers ermittelt. Allerdings ist noch nicht bestätigt, dass Alexander Mora Venancio tatsächlich auf der Müllhalde ermordet wurde, sagen die Experten.

Die "zwei oder drei Knochenreste" wollen die Angehörigen so bald wie möglich würdevoll bestatten. Alexanders Vater Ezequiel Mora wies die Schuld an dem Mord "korrupten Autoritäten" zu. Sein 19-jähriger Sohn wollte Lehrer werden, "denn er liebte es, Kinder zu lehren". Doch den Traum habe man ihm und den anderen geraubt, sagte Mora, dessen Familie mit sieben weiteren Kindern in einer einfachen Lehmhütte lebt. Er glaubt die Versprechen der Regierung nicht, die sich lange nicht um Aufklärung bemühte. "Diese Verbrechen werden ungestraft bleiben, wie es die Regierung immer getan hat, und das bedeutet, dass der Präsident damit einverstanden ist, was der Bevölkerung angetan wird."

Jornada-Titelblatt mit dem Vater des ermordeten Alexander.

Das Beileid von Nieto nimmt der Vater dem Präsidenten nicht ab, den er einen "Verbrecher und Korrupten" nennt, weil er einfache Bauern ermorden und foltern lasse. Nieto und seine Leute hätten in der Geschichte alle umbringen lassen, die für soziale Gerechtigkeit eintreten. "Sie werden nicht von anderen umgebracht, sondern von der Regierung."

Auf der riesigen Demonstration am Samstag in der Hauptstadt hatte Felipe De La Cruz, Vater eines der 43 Verschwundenen, die Nachricht bekanntgemacht, dass das erste Opfer identifiziert worden ist. Der Sprecher der Familienangehörigen nannte es ebenfalls ein "Staatsverbrechen". Deshalb "erkennen wir die Regierung von Präsident Enrique Peña Nieto nicht mehr an". Er drückte die Wut vieler im Land aus. Die Regierung irre sich, wenn sie glaube, dass die Bewegung sich nun hinsetze, um Alexander zu betrauern. Stattdessen werde man weiter dafür kämpfen, die übrigen 42 lebend zu finden. Er hofft, dass der Tod Alexanders zum "Samen dafür wird, dass die Revolution blüht".

Vertrauen in die Parteien ist zerbrochen

Einer aufkommenden revolutionären Stimmung will Nieto nun mit Reformen die Spitze nehmen. Dabei ist der Präsident nicht nur von der Straße unter Druck, denn auch sein Land leidet darunter, dass die Einnahmen aus dem Erdölgeschäft mit den Preisen drastisch eingebrochen sind, zudem bricht der Export von Erdöl ein. Damit kommt der Staatshaushalt enorm unter Druck, denn der staatliche Erdölkonzern Pemex erwirtschaftet knapp ein Drittel der Einnahmen, womit der ökonomische Spielraum der Regierung immer enger wird. Dass er den Erdölsektor für privates Kapital öffnen will, hatte ihm ohnehin schon massive Proteste beschert. Mit 2,5 Millionen Unterschriften war ein Referendum zur geplanten Privatisierung verlangt worden, das darf nach Ansicht des Obersten Gerichtshof aber nicht durchgeführt werden.

Präsident Enrique Nieto auf dem Iberomaerikanischen Gipfel. Bild: presidencia.gob.mx

Im Comeback hat die alte Garde der PRI nach nur zwei Jahren praktisch das gesamte Vertrauen wieder verspielt, das ohnehin nie sehr groß war. Dass die Filzpartei die Reformen auf den Weg bringen könnte, die das Land nötig hat, glauben nur noch wenige, die nicht auf der Lohnliste der Regierung oder der PRI stehen. Doch Nieto will nun die Verfassung überarbeiten und gleich an sieben Stellen Änderungen vornehmen. Zentral ist, dass lokale Verwaltungen entmachtet werden sollen. Durch die Abschaffung der Lokalpolizei soll die Unterwanderung durch die organisierte Kriminalität erschwert werden.

Doch mehr Macht sollen darüber die Bundesstaaten erhalten, wo ebenfalls immer wieder Gouverneure im Rampenlicht von Korruption und Drogenhandel auftauchen. Nicht zuletzt musste im Fall der verschwundenen Studenten auch der Gouverneur von Guerrero seinen Hut nehmen. Der Fall zeigt auch auf, dass nicht nur die PRI von Korruption zerfressen ist, sondern große Teile des politischen Systems, was die Lage immer explosiver macht. Denn viele trauen auch der großen linken Oppositionspartei nicht mehr. Denn es war die Partei der Demokratischen Revolution (PRD), die in Guerrero den Gouverneur und den Bürgermeister in Iguala stellte, der den Mordbefehl gab.

Die ebenfalls von der Drogenmafia infiltrierte PRD hat sich an der Frage inzwischen gespalten. Der PRD-Gründer Cuauhtémoc Cárdenas, der als moralisches Gewissen der Partei gilt, hat kürzlich entsetzt seine PRD verlassen. Der 80-jährige einstige Bürgermeister der Hauptstadt sprach am 26. November von einem "unwiderruflichen" Schritt und er machte die PRD-Führung direkt für die Vorgänge in Guerrero mitverantwortlich. Viele in der Partei waren auch entsetzt darüber, dass diese sich dem "Pakt für Mexiko" anschloss. Darüber wollte Nieto eigentlich schon vor zwei Jahren mit der Korruption aufräumen und Reformen auf den Weg bringen.

An dem Pakt war auch die oppositionelle Partei der Nationalen Aktion (PAN) beteiligt, die gerade vor gut zwei Jahren abgewählt wurde. Es war ihr Chef Felipe Calderón, der einst den Krieg gegen die Drogen begonnen hatte, der schon mehr als 100.000 Tote gefordert hat und kläglich gescheitert ist (Krieg gegen die Drogen in Mexiko gescheitert). Der Krieg dient nach Ansicht vieler Beobachter oft zum Vorwand, um alle zum Schweigen zu bringen, die an wirklichen Veränderungen arbeiten. Dass der angeschlagene Nieto die nötigen Mehrheiten für seine Pläne erhält, wird angesichts der Stimmung immer fraglicher. Und dass deutsche Regierung mit dieser Regierung weiter ein Sicherheitsabkommen schließen will, sagt angesichts der Lage in Mexiko viel über das Verständnis aus, das man von Sicherheit in Berlin hat.