Billiges Öl: Konjunkturprogramm für die Welt?

Leitmedien wollen im Rückgang der Ölpreise Chancen entdecken, die sie bei wirklichen Konjunkturprogrammen ignorieren

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"Konjunkturprogramm" ist eigentlich ein geächtetes Wort. Wenn es um den Staat geht und die Frage, ob der mit geliehenem Geld die Wirtschaft ankurbeln sollte, dann wissen unsere Leitmedien ganz genau, dass das immer nur ein Strohfeuer entzündet und am Ende rein gar nichts für das Wachstum bringt.

Jetzt aber, wo es um die Auswirkungen des Rückgangs der Ölpreise geht, entdecken auch solche Kommentatoren, die sonst vor Konjunkturprogrammen Angst wie der Teufel vor dem Weihwasser haben, plötzlich die Chancen, die sich daraus für die Weltwirtschaft ergeben könnten. In der Süddeutschen Zeitung gab es gestern fast eine Seite von Nikolaus Piper dazu mit der Überschrift "Konjunkturprogramm für die Welt" (ohne Fragezeichen!).

Und in der FAZ schrieb der mediale Oberinquisitor der deutschen Ordnungspolitik Holger Steltzner: "Der Verfall des Ölpreises wirkt auf die Weltwirtschaft wie ein gigantisches Konjunkturprogramm und führt zu globaler Umverteilung." Da ist die ganze Ratlosigkeit der herrschenden Lehre wunderbar in einen einzigen Satz gepackt.

Denn leider haben die Herren Chef-Kommentatoren auch das wieder nicht verstanden. Ein Konjunkturprogramm ist der Ölpreisfall nämlich gerade nicht. Womit dann am Ende dieses Artikels beiläufig auch noch bewiesen wäre, dass die größten Gegner von Konjunkturprogrammen gar nicht wissen, was sie da eigentlich kritisieren.

Wenn der Ölpreis fällt, gibt es, genau wie bei einem Anstieg, immer zwei Seiten der Medaille. Sinkende Ölpreise bedeuten für die Produzenten von Öl sinkende Erträge aus dem Ölverkauf und in der Regel sinkende Einkommen. Für die Konsumenten von Öl bedeutet es ein Zuwachs an Kaufkraft, weil sie mit dem bei ihnen vorhandenen Einkommen mehr von anderen Gütern kaufen können als zuvor.

ExxonMobil-Anlage, in Baton Rouge. Bild: Wikimedia; Lizenz: CC BY-SA 3.0

Für die Konsumenten liegt also ein positiver sogenannter terms-of-trade-Effekt vor (das ist der Effekt, der auftritt, wenn sich die Preise der Güter, die ich verkaufe, anders verhalten als die Preise der Güter, die ich kaufe), für die Ölanbieter ein negativer. Am Einkommen der Welt insgesamt ändert sich als unmittelbare Folge des Ölpreisrückganges zunächst gar nichts.

Die entscheidende Frage für die Konjunktur ist, wie die Produzenten und Konsumenten von Öl jeweils auf die Einkommensentwicklung mit ihrer Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen reagieren. Schränken die Produzenten ihre Nachfrage nach allen anderen Gütern wegen ihres Einkommensrückgangs genauso stark ein, wie die Konsumenten ihre Nachfrage dank Einkommensausweitung ausweiten, passiert nichts.

Die globale konjunkturelle Lage bleibt, wie sie ist, es gibt "nur" starke regionale Verschiebungen. Länder wie etwa Deutschland, die bisher sehr erfolgreich die Ölproduzenten mit anderen Gütern belieferten, verlieren tendenziell bei ihrer Exportnachfrage, Länder, die stärker auf ihre Binnennachfrage ausgerichtet sind und/oder hauptsächlich Industrieländerkunden und weniger Ölproduzenten unter ihren Exportnachfragern haben, gewinnen.

Nun wird gerne (keynesianisch!) damit argumentiert, dass die Ölproduzenten eine höhere Sparquote aufweisen als ihre Kunden. Und deswegen sei der von dem positiven Einkommenseffekt bei den Ölkonsumenten ausgehende Nachfragezuwachs größer als der Rückgang der Nachfrage von Seiten der Ölproduzenten. Das war früher sicher der Fall, als Öl vorwiegend von den arabischen Ländern produziert wurde, deren Konsumquote vergleichsweise gering war. Dass das heute noch der Fall ist, wage ich zu bezweifeln.

Es kann sogar umgekehrt sein: Ölproduzierende Länder, die für ihre Staatseinnahmen in hohem Maße von Ölerträgen abhängig sind, könnten sogar dazu neigen, ihre Sparquote akut zu erhöhen, also ihre Einkäufe in den Industrieländern überproportional einzuschränken, wenn sie fürchten, dass der Preisverfall von Dauer ist, und wenn sie auf keinen Fall das Entstehen von Leistungsbilanzdefiziten riskieren wollen.

Bei der direkt auf Energiegewinnung gerichteten Investitionstätigkeit in der Welt wird der Rückgang der Ölpreise eher einen Rückschlag bedeuten, weil alle Investitionen in alternative Ölquellen und in nicht-fossile Energiegewinnung in dem Maße obsolet werden, in dem die interne Kalkulation darauf basiert, dass der Ölpreis auf Dauer weit höher bleibt, als er momentan ist.

Das sogenannte Fracking in den USA wird genauso in Schwierigkeiten kommen wie die Ölgewinnung aus Ölsand in Kanada oder die Ölförderung in Ländern, die weniger geologisch begünstigt sind als die arabische Halbinsel. Auch die verschiedensten alternativen Energieformen werden um ihr Überleben bangen müssen, wenn der Ölpreis für längere Zeit so niedrig bleibt.

Diese Argumente zusammengenommen legen den Schluss nahe, dass die Wirkungen des Ölpreisrückgangs für die Weltwirtschaft nicht positiv sein wird. Das Gerede, hier handele es sich um ein "Konjunkturprogramm", noch dazu um eines "für die Welt", ist verantwortungslos und belegt hauptsächlich die Unkenntnis derer, die sich so äußern. Im Prinzip ist der terms-of-trade-Effekt für die Welt insgesamt ein Nullsummenspiel.

Der entscheidende Unterschied zu einem "echten" Konjunkturprogramm ist, dass bei einem echten Konjunkturprogramm die Nachfrage nach Kapital am Kapitalmarkt der Auslöser für eine konjunkturelle Wende ist und nicht die Umverteilung von Einkommen. In Zeiten niedriger Zinsen und lahmender Konjunktur (d.h. lahmender privater Nachfrage nach Kapital) schlägt der Effekt der zusätzlichen Nachfrage aus einem Konjunkturprogramm (von Seiten eines Staates) ohne Abzüge positiv zu Buche und muss nicht gegengerechnet werden gegen negative Effekte anderswo (wie das bei der reinen Einkommensumverteilung der Fall ist). Ein wirkliches Konjunkturprogramm ist also unvergleichlich viel effektiver als der (nicht einmal sicher anregend wirkende) Umverteilungseffekt fallender Ölpreise.

Man staunt angesichts der Sachlage aber auch, dass kaum jemand fragt, wieso der Ölpreis in so kurzer Zeit so tief fallen kann und wieso fast alle "fachkundigen" Beobachter bis vor Kurzem davon ausgingen, es gebe eine langfristige Knappheit von fast allen natürlichen Ressourcen, so dass Änderungen von deren Preisen praktisch nur eine Richtung kennten, nämlich nach oben.

Wir haben das hier mit dem Ausstieg finanzieller "Investoren" erklärt, und ich will das nicht wiederholen. Dass aber niemand auf die Idee kommt zu fragen, wie innerhalb kurzer Zeit die Nachfrage nach Öl bei kaum veränderter weltwirtschaftlicher Lage soweit sinken kann, dass man damit einen Rückgang des Ölpreises um 40 Prozent in den letzten drei bis vier Monaten erklären könnte, ist schon kurios.

Alternativ müsste man nach einer dramatischen Ausweitung des Angebots in der gleichen Zeit suchen, die aber auch nicht zu finden ist. Wenn wenigstens jetzt begriffen würde, dass das ganze Gerede der letzten zehn Jahre vom Rohstoff-Superzyklus vollkommen neben der Sache lag, dann wäre wenigstens etwas gewonnen.

Der Text wurde mit freundlicher Genehmigung von der Website flassberg-economics übernommen. Heiner Flassbeck will hier versuchen, "der Volkswirtschaftslehre eine rationalere Grundlage zu geben".