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Warum Arbeitslose arbeitslos bleiben

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Die Diskriminierung von Langzeitarbeitslosen auf dem Arbeitsmarkt ist in Deutschland kaum ein Thema. Die Benachteiligung Älterer ist allgemein als Tatsache anerkannt. Auch schlechtere Jobchancen von Frauen oder Migranten werden gerne und häufig beklagt. Dass aber viele Arbeitslose nur deshalb arbeitslos bleiben, weil sie arbeitslos sind, hat sich immer noch nicht herumgesprochen. Dabei ist längst erwiesen, dass ein Großteil der Unternehmen Arbeitslose bei Stellenbesetzungen von vornherein ausschließen.

Auf eine wenig bekannte Tatsache wies kürzlich die Linke-Abgeordnete Sabine Zimmermann hin: die diskriminierende Einstellungspraxis von Arbeitgebern gegenüber Arbeitslosen. "Wir wissen aus Untersuchungen, dass zwei von drei Betrieben Langzeiterwerbslose im Bewerbungsverfahren schon vorher aussortieren."

Es war dies nur eine Randbemerkung in der einstündigen Bundestagsdebatte über die Vorstellungen der Linkspartei zur Bekämpfung der Langzeitarbeitslosigkeit. Weiter sagte Zimmermann:

Was mich am meisten ärgert, ist, dass die Ursachen für die Langzeiterwerbslosigkeit immer wieder bei den Einzelnen und ihren angeblich zahlreichen Vermittlungshemmnissen gesucht werden. Aufgezählt werden Gründe wie Alter über 50, Migrationshintergrund, alleinerziehend oder eine Behinderung. Aber all das sagt überhaupt nichts über die individuellen Fähigkeiten des Einzelnen aus, über das individuelle Leistungsvermögen.

Die öffentliche Resonanz auf die zitierten Aussagen der Linke-Abgeordneten war natürlich gleich null. Warum? Treffen sie nicht zu? Oder passen sie dem Establishment nur nicht ins Konzept? Es ist zwar allgemein bekannt, dass große Teile der Bevölkerung ein schlechtes Bild von Arbeitslosen haben. So glaubt etwa fast jeder Zweite, die meisten Arbeitslosen seien gar nicht an einem Job interessiert. Da wäre es schon verwunderlich, wenn Personalverantwortliche von solchen Vorurteilen frei wären.

Dennoch gibt es in der Öffentlichkeit kein Bewusstsein für die Diskriminierung von Arbeitslosen auf dem Arbeitsmarkt. Allenfalls wird über Einzelfälle berichtet, etwa über Ingenieure jenseits der fünfzig, die keine Stelle mehr finden, doch die haben ja ein amtlich anerkanntes "Vermittlungshemmnis". So gut wie nie wird Diskriminierung allein aufgrund von Arbeitslosigkeit thematisiert.

Eine seltene Ausnahme ist der Fall eines 42-jährigen arbeitslosen Berufskraftfahrers, über den die Ruhr Nachrichten berichteten. Nach 300 erfolglosen Bewerbungen in zehn Monaten wollte er sich bei einem großen Mietwagenunternehmen als Fahrer und Fahrzeugreiniger auf 400-Euro-Basis bewerben. Doch als er seine Bewerbungsmappe in der örtlichen Filiale abgeben wollte, sei ihm gesagt worden, dass auf Anweisung der Geschäftsführung keine Arbeitslosen berücksichtigt würden. Das Unternehmen bestritt auf Anfrage der Zeitung die Existenz einer solchen Anweisung.

Eine im vergangenen Jahr veröffentlichte Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) bestätigt indes, dass Diskriminierung von Arbeitslosen in Deutschland gang und gäbe ist. Die "Denkfabrik" der Bundesagentur für Arbeit befragte im vierten Quartal 2011 im Rahmen ihrer alljährlichen Erhebung des Gesamtwirtschaftlichen Stellenangebots mehr als 15.000 Betriebe und Verwaltungen nach ihrer Bereitschaft, Arbeitslose einzustellen. Das Ergebnis: 33 Prozent der befragten Betriebe erklärten, prinzipiell auch Arbeitslose bei Stellenbesetzungen zu berücksichtigen. 23 Prozent gaben an, Arbeitslose nur zu berücksichtigen, wenn diese "nur wenige Monate" arbeitslos waren, 16 Prozent, wenn sie bis zu einem Jahr arbeitslos waren. Weitere 16 Prozent erklärten, Arbeitslose grundsätzlich nicht einzustellen. Die restlichen zwölf Prozent machten keine Angaben.

Summa summarum sind also 55 Prozent der deutschen Unternehmen nicht bereit, Langzeitarbeitslosen eine Chance zu geben - in der Theorie. Rechnet man die zwölf Prozent, die keine Angaben machten, hinzu, kommt man auf die zwei Drittel, die Sabine Zimmermann nannte. In der Praxis dürften es eher noch mehr sein. Die Autorinnen der Studie, Martina Rebien und Julia Moertel, machen selbst auf die "Gefahr" aufmerksam, "dass die Angaben der Befragten durch 'sozial erwünschte' Antworten verzerrt sein könnten".

Die Überschrift des IAB-Kurzberichts, in dem über die genannte Studie berichtet wurde, lautet aber nicht etwa "Wie Betriebe Arbeitslose diskriminieren". Das Wort "diskriminierend" kommt in dem gesamten Text nur einmal vor und zwar in Anführungszeichen. Nein, die Überschrift lautet: "Wie Langzeitarbeitslose bei den Betrieben ankommen". Um dies zu eruieren, fragte das IAB die Personalentscheider in den Unternehmen, wie sie bestimmte "arbeitsrelevante Eigenschaften" von Menschen, "die länger als ein Jahr arbeitslos sind (Langzeitarbeitslose)" bewerten und ob ihre Einschätzungen auf Erfahrungen mit der Einstellung von Arbeitslosen basierten.

In der neoliberalen Gedankenwelt kommen als Ursachen für Arbeitslosigkeit nur zu hohe Sozialleistungen - oder Defizite der Arbeitslosen selbst in Frage

Für die Motive der Personaler, keine Arbeitslosen einzustellen, bringen die Autorinnen sehr viel Verständnis auf. Als mögliche Gründe geben sie an, dass Arbeitslose irgendwelche "ungünstigen Eigenschaften" hätten sowie "einen Teil ihres Humankapitals" verlören, "da sie dieses nicht aktiv trainieren und auf dem Laufenden halten." Auch Eigenschaften wie Arbeitsmotivation, Belastbarkeit und Selbstvertrauen würden sich zum Teil verringern. Und schließlich sei allgemein eine Entwöhnung von der Arbeit in einem festen organisatorischen Rahmen zu befürchten. Bei so viel Verständnis für die Skepsis der Betriebe gegenüber Arbeitslosen bleibt die Logik schnell mal auf der Strecke: "Auch wenn mit insgesamt 55 Prozent ein recht hoher Anteil von Betrieben langzeitarbeitslose Bewerber unberücksichtigt lässt, kann nicht ohne Weiteres unterstellt werden, dass dies auf prinzipiellen Vorurteilen der Personalentscheider gegenüber Langzeitarbeitslosen beruht." Denn diese könnten ja negative Erfahrungen gemacht haben.

Nun versteht man unter einem Vorurteil gemeinhin eine festgefahrene Einstellung gegenüber einer sozialen Gruppe, deren Mitgliedern pauschal bestimmte Eigenschaften zugeschrieben werden. Wenn ein Personalverantwortlicher grundsätzlich keine Arbeitslosen einstellt, dann hat er per definitionem Vorurteile gegenüber Arbeitslosen, egal ob er schon Erfahrungen mit dieser Personengruppe gesammelt hat oder nicht. Fragt sich nur, was unter einem nicht "prinzipiellen" Vorurteil zu verstehen sein soll und wieso der Prozentsatz in diesem Zusammenhang eine Rolle spielen soll.

Eine derart bizarre Logik kann nur in einem Klima gedeihen, das den Deutungsrahmen für solche Forschungsergebnisse entsprechend verengt. In der neoliberalen Gedankenwelt gilt der Markt als unfehlbar. Als Ursachen für Arbeitslosigkeit kommen folglich nur zu hohe Sozialleistungen - die die freie Entfaltung der Marktkräfte behindern - oder Defizite der Arbeitslosen selbst in Frage. Diese sind entweder zu schlecht, zu gut oder einfach falsch ausgebildet, zu immobil, zu alt oder unwillig, sich mit Hungerlöhnen abspeisen zu lassen. "Mismatch-Arbeitslosigkeit" nennen die Experten das. Die Arbeitslosen passen einfach nicht zu den offenen Stellen. So erklärte Enzo Weber vom IAB anlässlich der diesjährigen Herbstprognose seines Instituts:

Die Jobchancen für die Arbeitslosen, die sind im Moment in der Tat nicht besonders gut. […] Die Arbeitslosigkeit ist natürlich seit Mitte des letzten Jahrzehnts deutlich gesunken. Aber auf diesem niedrigeren Niveau da treten jetzt doch auch die Probleme wieder deutlicher zu Tage. Das heißt bei vielen Arbeitslosen fehlende Ausbildung. Viele sind auch schon recht lange arbeitslos. Auch da sinken dann einfach die Jobchancen. Das heißt, wir haben strukturelle Probleme in der Arbeitslosigkeit, die es leider relativ schwer machen, diese Arbeitslosigkeit noch weiter zu senken.

Kurz gesagt: Mit den Übriggebliebenen ist kaum noch etwas anzufangen. Die schlichte Beweisführung: sonst wären sie ja nicht arbeitslos in diesen goldenen Zeiten.

Wer bezweifelt, dass es allein an den offiziell 2,9 Millionen und real rund 3,7 Millionen Arbeitslosen liegen kann, wenn diese es nicht schaffen, die knapp 500.000 offenen Stellen zu besetzen, bei dem hat die neoliberale Gehirnwäsche noch nicht hinreichend gewirkt. Zwar verfügen über drei Viertel der ALG-I-Empfänger und immerhin fast die Hälfte der ALG-II-Empfänger über eine abgeschlossene Ausbildung. Doch zumindest Langzeitarbeitslose sind als Fachkräfte leider prinzipiell nicht zu gebrauchen, mögen die Unternehmen noch so händeringend danach suchen.

Andrea Nahles hat sich das gerade noch einmal bestätigen lassen, um wohl informiert in die Gespräche mit Arbeitgebern und Gewerkschaften zwecks Gründung einer "Partnerschaft für Fachkräfte" einzutreten. Das Mannheimer Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) kam in seiner "Experten-Studie" - einer Befragung von 35 Arbeitsmarktexperten - für das Bundesarbeitsministerium zu dem Ergebnis, "Ausländer und ältere Beschäftigte" seien "die vielversprechendsten Reserven, um rasch zusätzliche Fachkräfte zu gewinnen", wie die Nachrichtenagentur Reuters meldete. Nichts Neues also und doch bemerkenswert, gilt doch die Generation Ü-50 offiziell immer noch als schwer vermittelbar. Auf dem dritten Platz landete der "Ausbau der Kinderbetreuung". Bei der "Aktivierung von Langzeitarbeitslosen" seien dagegen nur auf lange Sicht Erfolge zu erwarten, hieß es.

Was für ein Zufall, dass die Vorschläge der Experten exakt dem entsprechen, was sich ohnehin gerade abspielt. Den "Nachrichten zur Vollbeschäftigung" der Online-Ausgabe der FAZ entnehmen wir, dass die Arbeitslosigkeit nicht mehr in dem Maße zurückgeht, indem die Erwerbstätigkeit zunimmt. "Arbeitgeber besetzen offene Stellen zunehmend mit Menschen, die gar nicht arbeitslos gemeldet sind, etwa Frauen aus der sogenannten 'Stillen Reserve' oder Zuwanderern", berichtet die Zeitung und liefert eine passsende Erklärung gleich mit: "Die gut qualifizierten Fachkräfte, die sie brauchen, finden sie offenbar immer seltener unter den Arbeitslosen."