Der Terror des IS

Ideologie, Akteure und Faktoren - Teil 1

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Ziel dieses Textes ist es, eine Zusammenfassung der historischen Hintergründe und Faktoren zu geben, die für eine Auseinandersetzung mit dem Islamismus und den Ereignissen um Syrien, Irak und Rojava unerlässlich sind. Zugleich möchte ich damit eine Diskussion über die Haltung progressiver Gruppen in Deutschland zu dem Thema anregen. Hierzu werde ich insbesondere im zweiten Teil einige Kritikpunkte zusammentragen, die mir für diese Diskussion wichtig erscheinen. Der vorliegende erste Teil konzentriert sich auf die Hintergründe.

IS-Plakat: "Wir treten auf von Menschen gemachte Gesetze."

Der sogenannte arabische Frühling, der sich anfangs als unorganisierte zivile Bewegung in den muslimischen Ländern entwickelt hat, wurde von Jugendlichen und Frauen getragen, die sich "westlichen Werten" und Lebensweisen nahe fühlten. Sie wollten mehr Demokratie und Freiheit, einen säkularen Staat, sie forderten soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte, sie waren progressiv und revolutionär. Es war ein plötzliches Aufbegehren, das sich wie eine Welle erhob und alles zu erfassen schien: ein bisschen Anarchie und ein bisschen Romantik - ein menschlicher Aufstand gegen religiöse, traditionelle und staatliche Unterdrückung. Diese spontane und friedliche Bewegung hat totalitäre Regime bedroht und vermochte es in manchen Ländern wie Tunesien, Ägypten und Libyen innerhalb kurzer Zeit, Diktaturen zu stürzen.

Der arabische Frühling wurde aber nicht von der ganzen Gesellschaft getragen; in allen Ländern gab es auch Gruppen, die ihre Privilegien nicht verlieren wollten und das alte Regime unterstützten. Viele, die sich den Jugendlichen im Laufe der Proteste anschlossen, waren auch konservativ oder reaktionär und beteiligten sich aus ihren eigenen Gruppeninteressen, die den ursprünglichen Freiheitsideen der Bewegung entgegengesetzt waren.1

Während die Welt von dieser Bewegung begeistert war, begannen Nachbarländer, sie zu manipulieren und in die Irre zu führen, um nicht selbst in den Sog der Aufstände zu geraten. Aber auch die USA und Europa, die ihre stabilen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen mit den Diktaturen der Region durch allzu demokratische und soziale Entwicklungen gefährdet sahen, versuchten alsbald, Teile der Bewegung unter ihren Einfluss zu bringen.

Als das Geschehen Libyen erfasste, reagierte die NATO unter Führung von Gaddafis ehemals guten Freunden Sarkozy und Berlusconi überraschend schnell. Sie bewaffnete radikale Gruppen aus nordafrikanischen Nachbarländern sowie aus Libyen selbst und unterstützte deren Kämpfe mit Luftangriffen gegen Gaddafi. Nach dem Erfolg dieser Strategie durch den Sturz Gaddafis hatten Italien, Frankreich und die übrigen Länder der NATO vor Ort neue Freunde: Islamisten, darunter vor allem Salafisten. Sowohl in Libyen, als auch in anderen arabischen Ländern, die sich von der freiheitlichen Bewegung des arabischen Frühlings bedroht sahen, setzten regionale Kräfte ebenso wie die NATO auf Islamisten.

So hatte die ungleiche Front aus Nachbarstaaten, USA und Europa die Bewegung zum ersten Mal bewaffnet, als die Aufstände Libyen erfassten. Das war der Ausgangspunkt einer völlig neuen Dimension in der Politik des Terrors islamistischer Gruppen. Islamisten, die einen Ort suchten, an dem sie ihre Ideologie in die Tat umsetzen könnten, wandten sich nach Syrien, wo sie ungehindert einreisen konnten. Dort begann der Frühling des islamistischen Terrors: In zwei Jahren wuchs die Zahl der bewaffneten Gruppen in Syrien auf etwa 1.200, von denen die meisten Salafisten waren. Unter ihnen hat jene Gruppierung, die als ISIS bekannt geworden ist, die Führung übernommen.

Die ISIS ist ein internationales sunnitisches Terrorprodukt, das von unterschiedlichen Staaten und Gruppen produziert wurde, um ihren jeweiligen - zum Teil widersprüchlichen - Interessen zu dienen. Dieses Produkt, das seine Markenzeichen - schwarze Kleider und Fahnen, lange Bärte und grauenerregende Terrortaten - in die ganze Welt getragen hat, ist dennoch nur die Spitze des Eisberges. Die Informationen, die uns durch Medien und Politik erreichen, sind zum Teil falsch, zum Teil unzureichend und zeigen jeweils nur einen Ausschnitt des Gesamtbildes. Um die heutigen Entwicklungen zu verstehen, ist es nötig, den Rest des Eisberges ins Auge zu fassen. Mit diesem Artikel werde ich versuchen, die Interessen und Rollen der strategisch wichtigsten jener Länder und Kräfte herauszuarbeiten, die sich später als "Freunde des syrischen Volkes" bezeichneten und dort zusammen Politik machen sowie die historischen Ursachen der aktuellen Entwicklungen zu skizzieren.

Saudi-Arabien

Saudi-Arabien ist ein absolutistischer Staat, der von der salafistischen Ideologie beherrscht wird. Seit über hundert Jahren versucht Saudi Arabien diese Ideologie mit unterschiedlichen Mitteln aktiv unter Muslimen in der ganzen Welt zu verbreiten, bis hin zu Staaten wie China, in denen nur kleine muslimische Gemeinden existieren. Ab den 1980er Jahren folgten der Aufbau und die Förderung auch bewaffneter, radikaler islamistischer Gruppen. So geschehen u.a. in Afghanistan, Tschetschenien, Bosnien usw.

Heutzutage mobilisieren salafistische Organisationen muslimische und konvertierte Jugendliche nicht nur in muslimischen Ländern, sondern fast in der ganzen Welt. Saudi-Arabien macht das mit seinen Universitäten, Hilfsorganisationen, durch staatliche Institutionen und mit modernen Massenmedien. Die USA und andere westliche Partner beliefern Saudi-Arabien großzügig mit modernen Waffensystemen - trotz der verheerenden Menschenrechtssituation im Land und der offensichtlichen Unterstützung salafistischer Gruppen auf der ganzen Welt. Auch die Bundesrepublik spielt hierbei eine tragende Rolle: Saudi-Arabien zählt zu den größten Abnehmern deutscher Rüstungsexporte. Viele dieser Waffen befinden sich nun in den Händen des IS.

Die Rolle Saudi-Arabiens im aktuellen Komplex besteht darin, Dschihadisten zu finanzieren, sie mit Waffen auszustatten und mit Kämpfern zu versorgen, die in der salafistischen Ideologie geschult sind. Gleichzeitig gibt sich Saudi-Arabien offiziell als Teil der Anti-IS-Koalition und unterstützt die US-Bombardements gegen den IS. Mit diesem Widerspruch sind sie in der Anti-IS-Koalition jedoch nicht allein - fast alle der dort agierenden Staaten haben den IS direkt oder indirekt unterstützt oder tun dies bis heute.

Türkei

Die Türkei wurde Anfang des 20. Jahrhunderts von nationalistischen, säkularen Kräften gegründet und über lange Zeit durch ein säkulares, nationalistisches Einparteiensystem regiert und geprägt. Während dieser Zeit wurden alle anderen, nicht-muslimischen und nicht-türkischen (teilweise sogar sunnitischen) Gruppen unterdrückt. Ihnen wurde eine türkische Identität aufgezwungen.

Als Folge dieser rassistischen Politik wurden viele Volksgruppen wie Armenier, Aramäer, Griechen, Juden, Eziden und Kurden massakriert und Millionen von ihnen gezwungen, ihr Land zu verlassen. Diesem physischen und kulturellen Genozid sind viele Sprachen, Glaubensrichtungen und Kulturen zum Opfer gefallen. Namen von Dörfern, Städten und Menschen wurden türkifiziert, alle lokalen Sprachen wurden verboten. In der Schule wurde eine künstliche, rassistische Geschichte gelehrt.

Viele der Gruppen, die die türkische Identität freiwillig akzeptierten oder unter Zwang annehmen mussten, wurden später zu den radikalsten Vertretern des türkischen Rassismus, wie z.B. die Lasen, Tscherkessen, Araber oder Gruppen wie Albaner und Bosnier, die durch Austausch aus den Balkanstaaten gekommen waren, oder die Armenier und Kurden, die die Massaker überlebt haben. Somit wurden gerade jene Gruppen, die erst später türkifiziert wurden, Träger des türkischen Rassismus, weil sie ihre eigene türkische Identität immer wieder aufs Neue beweisen mussten.

Die meisten Kurden leben im Gebiet der heutigen Türkei (ca. 20 Million, davon wurden ca. 10 Millionen assimiliert). Sie waren die einzige Gruppe, die gegen die Türkifizierungspolitik seit Gründung des heutigen türkischen Staates rebelliert hat. Alle Aufstände wurden brutal unterdrückt (laut türkischer Regierung ist der Kampf der PKK der 29. Aufstand der Kurden, den sie ebenso wie alle anderen zu unterdrücken gedenken). Infolge der Aufstände wurden Hunderttausende massakriert und Hunderttausende mussten in das heutige Rojava (Nordsyrien), den Irak, Libanon, die UdSSR flüchten.

Seit dreißig Jahren kämpfen die Kurden mit einer Guerilla aus Frauen und Männern für ihre Rechte. Dieser Kampf hat dazu geführt, dass die kurdische, traditionell konservative Gesellschaft sich politisch und sozial verändert hat. Dabei ist es wichtig anzumerken, dass es sich bei der genozidalen Türkifizierungspolitik keineswegs um einen rein historischen Prozess handelt: Noch Mitte der 1990er wurden die Bewohner von 4.000 kurdischen Dörfern zwangsweise umgesiedelt, ihre Dörfer wurden vom Militär niedergebrannt. Millionen Kurden mussten während dieser Zeit flüchten, u.a. in die Westtürkei und nach Europa.

Die sunnitischen Gruppen, die heutzutage in der Türkei die Mehrheit bilden, wurden in der Vergangenheit von den säkularen Kräften und Regierungen lange Zeit unterdrückt. Als die sunnitisch geprägte AKP 2002 mit einer breiten Mehrheit die Wahlen gewann, übernahm sie die Regierung. In der folgenden Zeit brachte die AKP die staatlichen Institutionen und die Armee unter ihre Kontrolle und begann nun ihrerseits wie ihre Vorgänger alle anderen Gruppen zu diskriminieren und zu unterdrücken.

Diese Partei, die sich öffentlich zum moderaten Islam bekennt, hat es zu ihrer Mission erklärt, die "Führung der sunnitischen Welt" zu übernehmen, wie vor der Zeit der säkularen Regierungen während des Osmanischen Reichs.

Präsident Recep Tayyip Erdogan hat mit der Unterstützung der Mehrheit der türkischen Bevölkerung in der gleichen Zeit, in der in den umliegenden muslimischen Ländern im Rahmen des sog. Arabischen Frühlings die Diktaturen stürzten, die staatlichen Strukturen zentralisiert und ausgebaut, die ihm quasi-diktatorische Vollmachten verleihen. Der ehemalige Außen- und heutige Premierminister Davutoglu ist ein panislamistischer Akademiker, der von Erdogan ohne Wahl in sein Amt berufen wurde, wie es bei vielen heutigen Regierungsmitgliedern der Fall ist. Sie träumen von einem türkischen Staat mit der politischen Macht und der geographischen Ausdehnung des Osmanischen Reiches.

In Libyen wandte sich die Türkei während des sogenannten Arabischen Frühlings anfangs gegen die Intervention der NATO. Als diese eine Woche später angriff, leistete die Türkei jedoch aktive Unterstützung. Nach dem Sturz des Machthabers Gaddafi holte die Türkei viele der Rebellen, die dort gekämpft hatten, ins eigene Land. Sie wurden in Luxushotels untergebracht und wie Helden gefeiert, mit dem Ziel, sie nach Syrien zu schicken, um dort gegen den alten Partner und neuen Feind der Türkei, Bashar al-Assad, zu kämpfen.

Den Aufstand der syrischen Bevölkerung gegen Assad nutzend, bildete die Türkei in den Flüchtlingscamps junge syrische Männer gegen Geld militärisch aus um sie dann in den Kampf gegen Assad nach Syrien zu schicken. Hier trafen sie auf Salafisten, die aus der ganzen Welt anreisten - meist ebenfalls über die Türkei und mit deren Unterstützung -, um die Gunst des Augenblicks zu nutzen und in Syrien einen Gottesstaat aufzubauen.

Anfang 2014 wurden Mitschnitte einer strategischen Versammlung im Internet veröffentlicht, auf denen der schon erwähnte Außenminister Davutoglu, der Innenminister und Militärs zugegen waren. Auf dieser Versammlung, auf der offen über die Unterstützung der islamistischen Gruppen gesprochen wurde, sagte der Chef des türkischen Geheimdienstes MIT, dass bisher 2.000 LKWs mit Waffen für Terrorgruppen nach Syrien geliefert worden seien.

Zusammenfassend hat die Türkei die Situation des Arabischen Frühlings und der daraus hervorgegangenen Revolten genutzt, um ihre eigene Machtposition in der Region durch Destabilisierung umliegender Staaten und Unterstützung sunnitisch-islamistischer Gruppen auszubauen und so ihrem strategischen Ziel des Wiederaufbaus im Sinne des früheren Osmanischen Reichs näher zu kommen.

Irak

Im Irak waren bis 2003 die Sunniten als Minderheit in Gestalt der Baath-Partei an der Macht und verfolgten unter der Führung Saddam Husseins lange Zeit eine Politik des Terrors gegen die große kurdische Minderheit und die schiitische Mehrheit im Land. Nach dem Sturz Husseins durch die US-Armee verlor diese Gruppierung ihre Macht, suchte sie aber durch Terrorgruppen zurückzugewinnen und die neuen, nunmehr von der schiitischen Mehrheit bestimmten Strukturen zu stürzen. Im Jahr 2004 gründete sich als eine dieser Gruppen die heutige ISIS, damals noch als irakischer Arm des al-Qaida Netzwerks. Ihre Aktivitäten richteten sich gegen die US-Armee und die schiitischen Machthaber, wobei sie von Gruppierungen aus der ehemaligen Baath-Partei aktiv unterstützt wurden. Im Laufe der letzten zehn Jahre hat die Gruppe angesichts wandelnder Bedingungen auch ihren Namen und ihre Ziele mehrfach gewechselt: Im Jahr 2006 benannte sie sich in Islamischer Staat im Irak um, 2013 schließlich in Islamischer Staat in Irak und Scham bzw. Levante (ISIS oder ISIL). Unter diesem Namen gelang es ihr, sich und ihre Ziele zu verbreiten und auch in Syrien gleichnamige Strukturen zu gründen, obwohl dort zu diesem Zeitpunkt bereits eine al-Qaida Gruppe Namens al-Nusra existierte.

Alle anderen syrischen und irakischen Islamisten-Gruppen haben sich mittlerweile unter dem Siegel der ISIS gesammelt und darin aufgelöst, darunter auch ein Großteil der FSA. Schätzungen aus dem Jahr 2013 zufolge kämpfen in Syrien 150.000 bewaffnete Rebellen, sowohl Einheimische als auch Ausländer.2

Islamistische Gruppen, die sich gegen ihre Politik wandten, wurden von ISIS angegriffen. Obwohl al-Qaida als bis dahin führende islamistische Terrorstruktur diese Praxis ablehnte, gelang es ISIS sich nahezu alle anderen Gruppen, ihre Waffen und Milizen einzuverleiben. Der Grund für diesen Erfolg liegt u.a. in der Unterstützung durch die irakischen Sunniten und die Türkei, sowie der Kampferfahrung ihrer Mitglieder und der Verwaltungserfahrung, welche die irakischen Sunniten, die sich ISIS anschlossen, aus der Regierungszeit unter Machthaber Saddam Hussein mitbrachten.

Nach raschen Gebietsbesetzungen in Syrien gelang ISIS auch im Irak ein durchschlagender Erfolg, als sie dort innerhalb weniger Tage die mehrheitlich von Sunniten bewohnten Gebiete durch die Unterstützung der Bewohner fast kampflos eroberten und ihr Kalifat in den von ihnen besetzten Gebieten des Iraks und Syriens ausriefen. Dabei änderte sich der Name der Organisation erneut, diesmal in IS - Islamischer Staat.

Inzwischen haben islamistische Terrororganisationen weltweit, darunter al-Qaida, Boko Haram und viele salafistische Organisationen aus Afghanistan, Pakistan, Nigeria, Nord und Mittelafrika sowie auf der arabischen Halbinsel die Macht des Kalifats akzeptiert und sich mit dem IS verbündet oder sich diesem direkt angeschlossen. Die Kämpfer des IS verfügen über moderne Waffen aus US-Beständen, die sie von der irakischen Armee erbeutet haben, sowie russischen und chinesischen Waffen, die sie der Syrischen Armee abgenommen haben und Waffen der sogenannten Freien Syrischen Armee (FSA), mit der diese von westlichen NATO-Staaten beliefert wurde.

Die Finanzierung des IS vollzieht sich im Wesentlichen wie die anderer arabischer Staaten - über Ölverkäufe und Steuern. Der IS hat innerhalb ihres Kalifats mit dem Aufbau einer eigenen Verwaltung begonnen, die Sicherheitskräfte, eine Rechtsprechung gemäß der Scharia und Schulen beinhaltet, in denen sie die salafistische Ideologie unterrichtet und Kinder als Dschihadisten für ihre Zwecke vorbereitet.