Der "Stille Weltkrieg" und die linke Schockstarre

Hintergründe zu den Ursachen des IS-Terrors und Überlegungen zu linken Reaktionen - Teil II

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Die jüngsten Ereignisse im Nahen Osten erscheinen nur bei oberflächlicher Betrachtung als regionaler Konflikt. Wie ich in Teil 1 "Der Terror der IS: Ideologie, Akteure und Faktoren" dargestellt habe, existiert in Wirklichkeit eine Vielzahl regionaler und internationaler Kräfte, die das Geschehen von außen und innen zu bestimmen versuchen. Vor diesem Hintergrund zeigen sich die Auseinandersetzungen in Syrien, Irak und Rojava tatsächlich als "stiller Weltkrieg" mit regionalem Schwerpunkt. Doch auch wenn die hauptsächliche Wucht des Krieges die Bevölkerung im Nahen Osten trifft, hinterlassen seine Auswirkungen weltweit ihre Spuren, auch in Europa und Deutschland, wie der Aufstieg des Islamismus zeigt. Es ist entscheidend, dass die Linke die beteiligten Akteure und Interessen nicht nur kennt, sondern dass sie sich in diesen Auseinandersetzungen bewusst verhält, wenn sie sich nicht in einer Front mit falschen Freunden wiederfinden will.

Im Folgenden werde ich mich vor allem mit der Haltung der Linken zu Islamismus und Rassismus beschäftigen, wobei ich sowohl den deutschen als auch migrantischen Rassismus behandeln werde. Ich habe diesen Schwerpunkt gesetzt, weil ich den Eindruck habe, dass sich die deutsche Linke zu diesen Themen überwiegend nicht verhält, mit zweierlei Maß misst oder in Widersprüchen verwickelt, die auf blinde Flecken in der Theorie zurückzuführen sind und auf ideologische Verdrängung. Anregungen zu einem freiheitlichen und solidarischen Widerstand gegen die Macht- und Wirtschaftsinteressen der hiesigen Eliten enthält der Text weniger - nicht, weil diese Diskussionen nicht ebenfalls wichtig wären, sondern weil Auseinandersetzungen hierüber bereits stattfinden.

Bevor es aber möglich ist, die Haltung der deutschen Linken zum Islamismus zu bestimmten, halte ich es für sinnvoll, den politischen Islam in seinen verschiedenen Erscheinungsformen zunächst genauer ins Auge zu fassen.

Der moderate, politische und radikale Islam und ihre Haltung zum IS

Der Islam ist eine Religion, die von verschiedenen muslimischen Gruppen unterschiedlich interpretiert und praktiziert wird. In der islamischen Gesellschaft gibt es zahlreiche unterschiedliche Gruppierungen und Sekten, die sich ideologisch jedoch alle auf dieselben Quellen beziehen: den Koran, die Sunna und Hadithen. Wie kann es sein, dass ein Sufist (friedlicher mystischer Islam), ein Alevit und ein Salafist an den gleichen Gott (Allah) glauben?

Es gibt einen nur schwer zu lösender Grundwiderspruch zwischen einer Ideologie oder Religion mit Absolutheitsanspruch und dem Versuch, eine freiheitliche und solidarische Gesellschaft aufzubauen, in der viele Lebensweisen und Weltanschauungen Platz haben. Das unvollendete Projekt der Aufklärung zeichnete sich deshalb unter anderem dadurch aus, den Menschen als selbstbestimmtes Wesen vom Zwang religiöser Dogmen zu befreien. Bei der Bestimmung politischer Fragen und Institutionen sollte deshalb die Orientierung an religiösen Dogmen außen vor bleiben. Religion und der Aufbau der gesellschaftlichen Organisation müssen bewusst voneinander getrennt werden.

Ein in diesem Sinne aufgeklärtes religiöses Selbstverständnis bedeutet also, den Absolutheitsanspruch des Glaubens gegenüber Andersdenkenden (und Andersgläubigen) zurückzustellen und die Existenz anderer Glaubensrichtungen als ebenfalls legitim anzuerkennen. Für aufgeklärte Religionen, die dieses Prinzip verinnerlicht haben, kann und sollte auch in einer freien Gesellschaft durchaus Platz sein. Freiheitliche Bewegungen müssen diese Forderung aber an sämtliche Religionen richten und die reaktionären Inhalte von Religionen kritisieren.

Es ist also klar, dass auch Muslime mittelalterliche Ideen und Handlungen strikt ablehnen müssen. Muslime sollten sich primär für einen zeitgenössischen Islam aussprechen und nicht dafür, dass Ungläubige zum Islam konvertieren. Tun sie das? Diejenigen Muslime, die friedlich leben und an einen Gott glauben, der alle Menschen gleich behandelt und Nächstenliebe und Toleranz als Werte in den Mittelpunkt stellen, tun dies. Sie lehnen die radikale Auslegung des Islam ab, distanzieren sich von dem Terror und politisieren ihren Glauben nicht. Wie die Gruppe Antikapitalistischer Muslime in der Türkei, die sich sowohl gegen den moderaten als auch den radikalen politischen Islam ausspricht. Oder die jungen muslimischen Menschen, die über soziale Medien ihre Ablehnung gegenüber den Taten der radikalen Muslime kundtun. Aber sie sind eine Minderheit. Ihre positive Auslegung des Islam hat nur sehr begrenzten Einfluss und sie sind und waren immer Opfer des dominanten, orthodoxen sunnitischen und schiitischen Islam. Die Mehrheit der Muslime vertritt diesen moderaten oder radikalen politischen Islam.

Moderater politischer Islam

Die Vertreter des moderaten politischen Islam sind in vielen Staaten an der Macht und in der ganzen Welt durch Moscheen, Vereine, Schulen oder Hilfsorganisationen vertreten. Sie missbrauchen diese formal demokratischen Strukturen um ihre Ideologie zu verbreiten.

Dabei ist es eine typische Strategie des moderaten politischen Islam, sich als friedlich zu erklären und zu betonen, dass es im Islam keinen Zwang gebe und man eine tolerante Religion praktiziere, die alle anderen Religionen und Minderheiten respektiere. Ein Beispiel für dieses Verhalten waren die Demonstrationen am 19. September, an denen sich mehrere islamische Vereine beteiligten, um sich einerseits von ISIS abzugrenzen, andererseits Islamophobie und Angriffe auf Moscheen zu kritisieren. Es bleibt jedoch der begründete Verdacht, dass die Distanzierung vom IS unter dem Druck öffentlicher Kritik nur pro forma stattfand, denn für viele Vereine war es ein einmaliges Abweichen von ihrer sonstigen Haltung.

In der Praxis ist der moderate politische Islam häufig die Basis der Fundamentalisten. Er betreibt eine Opferpolitik, innerhalb derer er sich zum Verfolgten aller nicht muslimischen Gruppen (Christen, Juden, Buddhisten, Atheisten usw.) stilisiert, die ihn vernichten wollten. Mit dieser Politik gelingt es den moderaten Islamisten, große Mengen zu mobilisieren und rassistische und fundamentalistische Taten propagandistisch zu rechtfertigen. Der IS-Terror wird von ihnen so als Widerstand gegen Unterdrückung und Islamfeindlichkeit erklärt und positiv dargestellt. Ohne diese Politik und Basis könnten der Salafismus oder andere fundamentalistische Ideen nie überleben. Die vielen Salafisten, die für den Gotteskrieg in Krisenregionen der ganzen Welt reisen, fallen nicht vom Himmel. Sie haben sich in der Umwelt des moderaten Islam organisiert und von sogenannten friedlichen Muslimen Unterstützung bekommen.

Diese Auslegung des Islam, die auch den Nährboden für die radikaleren Formen stellt, beinhaltet viele diskriminierende Aspekte: Antisemitismus, Antiziganismus, Sexismus, Homophobie und anti-kurdischen Rassismus, Rassismus gegenüber schwarzen Afrikanern und Berbern. Diese Tatsache wurde und wird von der muslimischen Welt jedoch weder thematisiert noch findet eine selbstkritische Auseinandersetzung damit statt. Im Gegenteil legitimierte auch der sogenannte moderate Islam Unterdrückung, Diskriminierung, sowie Massaker und Plünderungen gegen nicht-muslimische und friedliche muslimische Gruppen.

Man darf nicht übersehen, dass der Terror, den wir heute im Irak und in Syrien sehen, nicht nur von ausländischen Salafisten verübt wird, sondern auch von einer Mehrheit der irakischen und syrischen Sunniten. Sie beteiligen sich an dem Genozid der salafistischen Terroristen, sie greifen Minderheiten an, die nicht muslimisch sind oder deren Islamverständnis sie in den Augen der Salafisten zu Ungläubigen macht, wie z.B. Schiiten und sunnitische Kurden. In vielen Städten im Irak gibt es heute Sklavenmärkte, auf denen tausende ezidische, schiitische und christliche Frauen und Mädchen von der sunnitischen Bevölkerung gekauft werden. Das macht deutlich, dass wir es nicht nur mit einem Problem von wenigen Fundamentalisten zu tun haben, sondern mit großen Teilen der muslimischen Gesellschaft.

Die Eziden und Christen, die die Massaker überlebt haben, wollen nicht mehr in das Land zurückkehren, in dem sie seit Tausenden von Jahren gelebt haben und das für sie heilig ist. Sie wurden von ihren eigenen Nachbarn angegriffen und sehen für sich und im Zusammenleben mit der sunnitisch-arabischen Bevölkerung in diesem Gebiet keine Zukunft und Sicherheit mehr. Und diese Geschichten erleben wir nicht nur in Syrien und dem Irak. In allen muslimischen Gesellschaften kann man Diskriminierungen wie diese sehen.

Als Kurden in Solidarität mit Kobanê in der Türkei auf die Straße gegangen sind, wurden sie von fundamentalistischen und auch nationalistischen Menschen, aber auch von Menschen, die wir als einfache Bürger bezeichnen würden, mit Messern, Äxten, Schwertern und Schusswaffen bedroht und gejagt. Diese haben - oftmals zusammen mit Polizisten - Parolen wie "Es lebe ISIS" gerufen und töteten in zwei Tagen über 40 Kurden. Auch in der Bundesrepublik gab es solche Vorfälle, bei denen Islamisten prokurdische Demonstrationen und kurdische bzw. ezidische Geschäfte und Vereine angriffen. Ihre Botschaft war: Wir werden euch nochmal massakrieren.

Es fällt auf, dass Millionen von Muslimen, die wegen einer dummen, rassistischen Karikatur Mohammeds auf die Straße gingen, sich gegenüber den aktuellen Massakern still verhalten oder darin einen legitimen Aufstand gegen US-amerikanischen Imperialismus oder schiitische Unterdrückung sehen. Auch in Deutschland haben viele muslimische Gruppen, die sich hier zu Recht von antimuslimischem Rassismus betroffen und diskriminiert fühlen, diesen Terror nicht offen und vehement angeprangert.

Eine der wenigen Kampagnen gegen den IS-Terror wurde von jungen Muslimen über Facebook und YouTube unter dem Motto "#not in my name" initiiert. Sie wurde von unterschiedlichen Vertretern des moderaten Islam kritisiert. Auf die Frage, wieso sie sich nicht offen gegen den IS-Terror positionieren, antworten diese häufig, dass dieser sie nicht betreffe und sie sich nicht damit auseinandersetzen müssten. Sie beziehen sich in ihrer Argumentation dabei auf die Deutschen, die sich ebenfalls nicht mit den Taten während der NS-Diktatur auseinandersetzten, oder die katholische Kirche, die sich nicht vehement gegen den Missbrauch an Kindern in ihren eigenen Reihen stelle. Mit dieser schlauen Argumentation, die auf die sehr realen Unterlassungen anderer verweist, offenbaren die moderaten Islamisten zugleich aber ihre wirkliche Position und unterbinden jede weitere Kritik.

Die Methode ist dabei keineswegs fremd. So dient der breite gesellschaftliche Rassismus in Deutschland dem Terror der Nazis zugleich als Basis und als Rechtfertigung. Auch in ihrer eigenen Variante des Opferdiskurses finden die sogenannte Mitte, moderate und äußerste Rechte zusammen. Es ist deshalb wichtig zu betonen, dass es sich bei diesen Argumentationsformen keineswegs um Spezialitäten des Islamismus handelt. Es handelt sich vielmehr um typische Merkmale reaktionärer Diskurse. Wenn ich sie hier fast ausschließlich am Beispiel des Islamismus aufzeige, tue ich das nicht in der Absicht, den Rassismus der deutschen Mehrheitsgesellschaft, den christlichen Fundamentalismus oder andere reaktionäre Ideologien zu verbergen, sondern um Widersprüche und Probleme der Linken im Umgang mit dem Islamismus sichtbar zu machen und zu thematisieren.

Noch ein Beispiel um den Antisemitismus und antikurdischen Rassismus in muslimischen Ländern zu verdeutlichen: Wenn Israel Palästinenser angreift, demonstrieren Muslime auf der ganzen Welt zu Recht gegen den Terror des israelischen Staates. Geht es aber um islamistischen Terror, wie zum Beispiel Selbstmordanschläge auf die jüdische Bevölkerung oder aktuell den Terror des IS, bleiben sie still. Dann spielen dieselben Menschen drei Affen oder unterstützen den Terror.

Wie kann das sein? Wie kommt es zu diesem Widerspruch? Der Widerstand des palästinensischen Volkes gegen die Besatzungsmacht des israelischen Staates wird von vielen Muslimen für ihre antisemitische Ideologie instrumentalisiert. Was diese Menschen auf die Straßen treibt, ist der Hass gegen Juden und nicht die Solidarität mit dem unterdrückten palästinensischen Volk. Das zeigt sich auch an den Parolen, die bei diesen Anlässen gerufen werden.

Man muss wissen, dass Antisemitismus in der muslimischen Gesellschaft noch offener präsent ist als in der westlichen Welt. Bis jetzt wird dies unter Muslimen nicht thematisiert. Ebenso wie der antikurdische Rassismus, der in der muslimischen Welt bis heute nicht kritisiert oder als Unterdrückung benannt wird. Als 1989 in Halabdscha durch Saddam Hussein 5.000 Kurden bei einem Giftgasangriff ermordet wurden, gab es keine Reaktion seitens der muslimischen Welt. Selbst die Vertreter der Palästinenser, die von Kurden aktiv unterstützt wurden, sahen Massaker wie in Halabdscha als interne Angelegenheiten des Iraks oder der Türkei. Sehr schmerzhaft war die Unterstützung der antikurdischen Massaker durch palästinensische Flüchtlinge im Irak, die Ende der 1980er Jahre in irakischen Gefängnissen junge kurdische Frauen vergewaltigten und mit ihrem Blut "Freiheit für Palästina" auf die Wände der Gefängnisse schrieben. Die Frauen, die überlebt haben, wurden später als Sexsklavinnen nach Ägypten verkauft.

Dieser Hass gegen Kurden existiert nicht nur in den Ländern, die Kurdistan besetzt halten und die dort lebenden Kurden unterdrücken. Antikurdischen Rassismus gibt es in nordafrikanischen arabischen Ländern, in muslimischen Staaten und bei Gruppen im Kaukasus, in Europa, Asien und an vielen anderen Orten. Er funktioniert wie viele Formen der Diskriminierung: Viele Muslime haben einen tiefen Hass gegen Kurden verinnerlicht, ohne Kurden zu kennen oder Erfahrungen mit ihnen gemacht zu haben - wie in jedem Rassismus und im Antisemitismus werden kollektive Vorurteile unabhängig von deren tatsächlicher Lebensweise und Weltsicht auf andere Menschen projiziert. Dieser Hass wurde dann mit der Verbreitung des Islam auch an anderen Orten eingeführt.1

Obwohl die Mehrheit der Kurden Muslime sind und in der islamischen Geschichte zahlreiche bekannte kurdische Gelehrte und andere wichtige Figuren existieren, wie Abu Muslim Horasani, der den Aufstand gegen die Umayyaden anführte, oder Saladin, der die von den europäisch-christlichen Kreuzzüglern besetzten Gebiete zurückeroberte, ist der Hass gegen Kurden nicht geringer geworden. Vielmehr haben arabische und türkische Muslime bis vor kurzer Zeit versucht, solche wichtigen Personen und Ereignisse zu arabisieren oder zu türkisieren.

In diesem Versuch, kurdische Einflüsse aus der Geschichte des Islam zu entfernen, offenbart sich ebenfalls der antikurdische Rassismus. Auch die Hartnäckigkeit, mit der die kurdische Bevölkerung entmenschlicht wird, indem sie z.B. als primitiv und unzivilisiert dargestellt werden, als "Sklaven der Juden", als eine Mischung von Tier und Mensch oder gar als "Kinder des Teufels", unterstreicht den aggressiven Charakter des antikurdischen Rassismus. Solche Beispiele finden sich vor allem in der mündlichen Tradition, vereinzelt aber auch in der islamischen Literatur.

Insgesamt zeigt sich also, dass ebenso wie in anderen diskriminierenden Ideologien hinter der Klage über die eigene Unterdrückung kein Wille zur Bekämpfung jeder Unterdrückung steht. Die Erfahrung von Diskriminierung oder Unterdrückung verleiht aber keinem das Recht, selbst andere zu diskriminieren oder zu unterdrücken. Im Gegenteil: Eine ernsthafte Ablehnung von Diskriminierung und Unterdrückung muss sich als Prinzip gegen all ihre Formen stellen und den Zusammenschluss mit anderen Unterdrückten suchen - ansonsten wird das Argument der Ungleichbehandlung nur instrumentalisiert, um der eigenen Gruppe Raum für ihre Machtpolitik zu verschaffen und ihre Herrschaft über andere zu etablieren.