Welt vor neuem Weltkrieg?

Wie die Großmächte mit ihrem neoimperialistischen Great Game auf einen neuen Großkonflikt zusteuern. Krisenimperialismus - Teil 2

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Was braucht die kriselnde und instabile kapitalistische One World derzeit am dringendsten? Bessere Atomwaffen selbstverständlich! Mitte November kündigte das US-Verteidigungsministerium an, binnen der nächsten Dekade 355 Milliarden US-Dollar in die Modernisierung des Atomwaffenarsenals der Vereinigten Staaten zu investieren. (Teil 1)

Die USA sind nicht allein in ihrem Bemühen, ihre nuklearen Massenvernichtungswaffen auf den neusten Stand der Technik zu bringen. Die Vereinigten Staaten "müssen weiterhin glaubwürdig bleiben", erklärte Maj. Gen. Sandra Finan, Kommandeurin der Nuklearstreitkräfte der US-Airforce anlässlich der Ankündigung dieses Modernisierungsprogramms, da "rivalisierende Mächte Milliarden in die Verbesserung und Modernisierung ihrer nuklearen Systeme investieren". Finan deutete damit auf das russische Rüstungsprogramm, das Militärausgaben von rund 560 Milliarden US-Dollar binnen der nächsten sechs Jahre vorsieht - an die 25 Prozent dieser Summe sind für das militärische Nuklearprogramm Russlands vorgesehen. Im vergangenen September führte Russland einen erfolgreichen Test einer neuen Interkontinentalrakete durch.

Mag die Weltwirtschaft schwächeln, der Atombombenbau hat derzeit Hochkonjunktur. Das Militär aller relevanten Atommächte sei derzeit bestrebt, seine Atomwaffen auf den neusten Stand der Technik zu bringen, wie Hugh Chalmers, Experte für Nuklearwaffenkontrolle am Londoner Thinktank Royal United Services Institute, gegenüber der International Business Times erklärte:

Alle Atomstaaten führen im Moment irgendeine Form von nuklearer Modernisierung durch, oder sie werden bald in diesen Prozess eintreten. Du kannst dich in der Welt umschauen und überall die Entwicklung neuer Raketen, neuer Atom-Uboote, neuer Cruise Missiles beobachten, deswegen sind die USA sicherlich nicht alleine in ihren Anstrengungen, ihre nuklearen Streitkräfte zu modernisieren.

Damit würden die Verpflichtungen der Nuklearmächte, ihre während des Kalten Krieges aufgebauten Waffenarsenale zu reduzieren, im Vorfeld einer für 2015 angesetzten diesbezüglichen Konferenz ausgehöhlt, warnte Chalmers.

Enormes Eskalationspotenzial

Die nukleare Aufrüstung oder Modernisierung ist mitunter schon länger geplant gewesen, sie wird aber aufgrund der aktuellen geopolitischen Entwicklung forciert. Die militärische Mobilisierung und die damit einhergehenden Drohgebärden zwischen den Machtblöcken nehmen seit Monaten zu. Nachdem die NATO damit begonnen hat, in Reaktion auf die Annexion der Krim eine neue schnelle Eingreiftruppe für Osteuropa aufzustellen und US-Truppen ins Baltikum zu verlegen, sind die russischen Luftstreitkräfte zu einer massiven Ausweitung ihrer Aktivitäten übergegangen, die seit dem Ende des Kalten Krieges nicht mehr zu beobachten gewesen war.

Anfang Dezember fand - nahezu unbeachtet von der Öffentlichkeit - die bislang größte diesbezügliche Konfrontation über der Ostsee statt, als Dutzende von NATO-Flugzeugen sich abmühten, rund 28 russische Kampfflugzeuge, darunter auch atomwaffenfähige strategische Bomber, abzufangen, die in einer Machtdemonstration binnen kürzester Zeit in der Ostseeregion ausschwärmten. Dieser Blitzvorstoß stellte nach Ansicht von Beobachtern eine Reaktion auf die Verlegung von atomwaffenfähigen Bombern der NATO ins Baltikum - also direkt an die Grenzen Russlands! - dar.

Die Konfrontationen weisen ein enormes Eskalationspotenzial auf, da es hierbei sehr schnell zu einem unbeabsichtigten Zusammenstoß kommen kann - wie etwa Anfang März in Dänemark, als ein russisches Spionageflugzeug beinahe mit einem Passagierflugzeug kollidierte. In diesem Jahr wurden 40 solcher "gefährlichen Zwischenfälle" gezählt. Wie nah sich die Kontrahenten bei diesen Abfangmanövern mitunter kommen, zeigt ein Video der norwegischen Luftwaffe.

Warnungen vor einer neuen nuklearen Katastrophe

Der letzte sowjetische Staats- und Parteichef Michail Gorbatschow warnte folglich bei einer Berliner Rede anlässlich des Mauerfalls vor einem neuen Kalten Krieg und einer drohenden Katastrophe, sollten die Spannungen zwischen Ost und West nicht bald abgebaut werden. Der Westen habe nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Schwäche Russlands ausgenutzt und die Grenzen der NATO entgegen früherer Zusagen massiv nach Osten verschoben.

Euphorie und Triumphalismus haben die Köpfe der westlichen Führer vernebelt. Unter Ausnutzung der Schwäche und des Souveränitätsverlusts Russlands beanspruchten sie ein Führungsmonopol und die Dominanz in der Welt...

Auch Noam Chomsky, einer der führenden Intellektuellen der USA, warnte in einem Interview mit Russia Today vor einer drohenden nuklearen Katastrophe, die bei einer Eskalation des gegenwärtigen Konflikts die menschliche Zivilisation auslöschen würde:

Das schlimmste Szenario stellt natürlich ein Atomkrieg dar, der furchtbar wäre. Beide Seiten, die ihn initiierten, würden ausgelöscht werden. Die Welt ist in der Vergangenheit etliche Male knapp an diesem Worst-Case-Szenario vorbeigeschlittert. Und dies könnte wieder passieren, nicht unbedingt geplant, sondern als Folge einer Serie von Interaktionen der Konfliktparteien. Es lohnt, sich in Erinnerung zu rufen, dass der Erste Weltkrieg vor Hundert Jahren infolge solcher Interaktionen ausbrach. Der Erste Weltkrieg war schrecklich genug, aber dessen aktuelle Wiederaufführung würde das Ende der menschlichen Spezies bedeuten.

Zusätzliches Öl ins Feuer gossen Resolutionen des US-Senats und Repräsentantenhauses, die weitere Sanktionen gegen Russland und direkte Militärhilfen für die Ukraine fordern, sowie Drohungen des Pentagons, die Stationierung von Atomwaffen in Europa auszuweiten. In russischen Medien wurden hierauf Stimmen laut, die davor warnten, dies Vorgehen läute einen Neuen Kalten Krieg ein - und bringe Russland und den Westen einer militärischen Konfrontation näher.

"Die westlichen Führer nehmen deutlich wahr, dass ihre Macht schwindet"

Warnungen vor einem Großkrieg zwischen Ost und West ertönen nicht nur in Moskau, auch westliche Analytiker warnen vor einer unkontrollierbaren Eskalation. Helge Luras, Direktor des norwegischen Thinktanks Centre for International and Strategic Analysis (SISA), sieht die Großmächte in einen Nuklearkrieg schlafwandeln.

Bisher habe die NATO es noch nie gewagt, eine andere Atommacht herauszufordern, und deswegen habe sie ihre bisherigen politisch-militärischen Eskalationen überlebt, so Luras, aber im Fall Russlands könnte die "fehlerhafte westliche Selbsteinschätzung" zu einem katastrophalen Krieg führen. Das auf "Vermutungen" basierende Bedrohungsszenarios in den baltischen Staaten und Polen, das die NATO zum Vorwand nahm, um "militärische Ressourcen" in diesen Raum zu verlegen, könnte sich nun zu einer "selbsterfüllenden Prophezeiung" wandeln, warnte Luras. In der Ukraine stehe für Russland "viel mehr auf dem Spiel als für den Westen". Deswegen könne Russland es nicht zulassen, dass es in diesem geopolitischen Kampf unterliege.

Seit dem Ende des Kalten Krieges habe der Westen große Teile des postsowjetischen Einflussbereiches unter seine Kontrolle gebracht, dessen "hegemoniales Denken dies als natürlich ansah". Doch nun dreht sich der Wind:

Die westlichen Führer nehmen deutlich wahr, dass ihre Macht schwindet. Das Zeitalter der Nationenbildung in weit entfernten Ländern geht für uns zu Ende. Das Ende der Omnipotenz, in der Tat ein Paradigmenwechsel, ist selbstverständlich traumatisch und schwer mit einem kühlen Kopf zu reflektieren. Aber der Schwund der politischen Macht des Westens geht nicht einher mit einer korrespondierenden Schwächung der militärischen Muskeln.

Die gegenwärtige geopolitische Eskalation entfaltet sich somit nicht aus einer Position der Stärke, sondern aufgrund eines massiven Verlusts ("Paradigmenwechsel") der Machtmittel des Westens. Hier scheint eine Ahnung des wahren Charakters des gegenwärtigen neoimperialistischen Großmachtpokers zwischen Ost und West auf. Es ist ein Kampf gegen den Abstieg - gegen den Verlust der dominanten oder hegemonialen Stellung der beteiligten Mächte.