Russland: "Todesspirale" oder wirtschaftliche Gesundung?

Sanktionen, sinkender Ölpreis, kontinuierlicher Wertverlust des Rubel gegenüber Dollar und Euro. Die Lage in Russland ist äußerst schwierig, aber nicht aussichtslos

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Die russische Zentralbank entschloss sich in der Nacht auf Dienstag zu einem radikalen Schritt. Nachdem der Rubel-Kurs am Montag an den Börsen um über zehn Prozent gesunken war, erhöhte die russische Zentralbank den Leitzins in einer Nachtsitzung von 10,5 auf 17 Prozent.

Es ist bereits die sechste Leitzinserhöhung seit Jahresbeginn. Erst am Donnerstag war der Leitzins von 9,5 auf 10,5 Prozent angehoben worden.

Die Zentralbank begründete ihren radikalen Schritt mit der Notwendigkeit die Inflation (zurzeit 9,4 Prozent) einzudämmen und die Abwertung des Rubel zu stoppen. Seit Januar hat der Rubel gegenüber dem Dollar die Hälfte seines Wertes verloren. Moskauer Experten sind skeptisch, ob die drastische Leitzinserhöhung die russische Währung stabilisieren kann. Viele Experten meinen, die Zentralbank müsse jetzt zusätzlich Dollars in den Markt pumpen.

Scharfe Kritik in der Duma

In der Duma wurde die Entscheidung der Zentralbank scharf kritisiert. Der stellvertretende Leiter des Komitees für Wirtschaftspolitik, Michail Emeljanow, erklärte, die Erhöhung des Leitzins verlangsame den Kursverfall des Rubel, gäbe der russischen Wirtschaft aber keine Chancen, sich zu entwickeln.

Der ehemalige russische Finanzminister, Aleksej Kudrin unterstützte die Entscheidung der Zentralbank, als zwangsläufig und richtig. Die Regierung müsse nun mit weiteren Schritten das Vertrauen der Investoren in die Wirtschaft Russlands erhöhen. Die Bevölkerung verhält sich noch abwartend. Krisen ist man in Russland gewohnt. Einen Run auf die Banken gab es bisher nicht.

Re-Export - das große Geschäft

Beim Blick in Moskauer Supermärkte kann man nur staunen. Die Regale sind prall gefüllt mit allem, was das Herz begehrt. Nur Käse aus Frankreich gibt es nicht. Dafür gibt es jetzt Fleisch aus Argentinien und Gemüse aus der Türkei und China.

Die russische Regierung hatte am 6. August einen Lebensmittel-Importstopp für Waren aus der EU, aus den USA, Norwegen und Australien eingeführt, als Antwort auf die Handels- und Finanzsanktionen des Westens gegen Russland.

Mancher Händler aus Europa hat auf dem Importstopp schnell reagiert. Der illegale Import nach Russland über Drittstaaten - genannt Re-Export - nahm Fahrt auf und ist bis heute nicht eingedämmt. Die größten Sünder sind nach Meinung russischer Behörden Albanien, die Schweiz und Weißrussland.

Albanien exportierte bisher kaum nach Russland, steigerte seine Obst-Exporte aber plötzlich. Russland hielt das für Re-Export und verhängte für Lebensmittel aus dem Nicht-EU-Mitglied einen totalen Importstopp. Die Schweiz, die sich an den westlichen Sanktionen gegen Russland nicht beteiligt und deshalb auch von Russland nicht mit Importverboten belegt wurde, konnte bisher nicht schlüssig erklären, warum der Export von Äpfeln aus der Schweiz nach Russland um das Vierfache gestiegen ist.

Markt in der sibirischen Metropole Irkutsk ("Die Ukraine liegt doch in Europa, nicht hier bei uns"). Bild: Ramon Schack

Mit Weißrussland führt Moskau zurzeit mal wieder einen Handelskrieg. Obwohl Weißrussland, Russland und Kasachstan seit 2010 durch eine Zollunion verbunden sind, kontrollieren russische Zöllner jetzt LKWs, die aus Weißrussland Transitware über russisches Territorium nach Kasachstan oder China transportieren. Der Grund: Russische Behörden verdächtigen weißrussische Händler, dass der Transit für den Schmuggel von Lebensmittel aus der EU nach Russland missbraucht wird. Der Moskauer Kommersant berichtete Erstaunliches. In russischen Supermärkten würden Krabben, Kiwis und Jamon-Delikatess-Schinken "aus Weißrussland" verkauft.

Um den Druck gegen Weißrussland zu erhöhen, verhängte Russland gegen einige Fleischfabriken aus Weißrussland Importverbote, wegen angeblicher Missachtung der Hygiene-Vorschriften.

"Sie lieben den Krieg wie die eigene Mutter"

Händler fänden gerade in Krisen- und Kriegszeiten immer eine Lücke, wo man einen besonders guten Gewinn machen kann, erklärte der Wachmann in einem russischen Supermarkt und zitiert das alte russische Sprichwort, nachdem manche "den Krieg so lieben, wie die eigene Mutter".

Die Preissteigerungen in den ersten vier Sanktionsmonaten - August bis November - waren bei einigen Lebensmitteln erheblich. Inwieweit unlautere Geschäftspraktiken oder gestiegene Transportkosten für die Preissteigerungen verantwortlich sind, lässt sich bisher noch nicht sagen. Dass Buchweizen um 76 Prozent teurer wurde soll mit einem Ernteausfall im Altai-Gebiet zusammenhängen. Nach Angaben der russischen Statistik-Behörde sind aber auch die Preissteigerungen bei anderen Lebensmitteln beachtlich, Quark (+5%), Schweinefleisch (+5,1%), Fisch (+7,9 Prozent) und Hühnerfleisch (+9,1%):

Sinkender Ölpreis lässt Rubel abstürzen

Wegen des sinkenden Ölpreises verliert der Rubel fast täglich an Wert. Weil die Vorräte an ausländischer Währung begrenzt sind, die Nachfrage aber zunimmt, müssen Bankkunden ihre Valuta-Kauf-Wünsche vorher anmelden. Kostete ein Dollar im August noch 36 Rubel, muss man heute 58 Rubel bezahlen. Der Euro verteuerte sich von 48 Rubel im August auf heute 72 Rubel.

Auslandsreisen und Importwaren sind horrend teuer geworden. Einige Läden, die mit teuren Waren aus Europa handeln, sind dazu übergegangen, die Preise nicht in Rubel sondern in "ue"-Verrechnungseinheiten anzugeben. "ue" ist ein Äquivalent für Dollar oder Euro und wurde schon in den chaotischen 1990er Jahren als Kennzeichnung genutzt, um nicht täglich neue Preisschilder schreiben zu müssen. Die "ue"-Kennzeichnung ist zwar nicht legal, die Strafen sind aber gering.

Russische Ernährungsindustrie auf dem Vormarsch

Der Preis eines iPhone 6 ist in Moskau von 30.000 auf 40.000 Rubel (555 Euro) gestiegen. Auch PKWs sind teurer geworden. Das ist einer der Gründe, warum der Absatz von Autos in Russland in diesem Jahr um 12,7 Prozent gesunken ist. Das St. Petersburger Ford-Werk hat 700 Mitarbeiter entlassen. VW-Kaluga hat für seine Mitarbeiter Zwangsurlaub angeordnet.

Ausländische Lebensmittelproduzenten, wie der deutsche Käsehersteller Hochland werben im Fernsehen kräftig für ihre Produkte und hoffen, die Krise durch Marktnähe zu überstehen.

Der große Gewinner der Rubel-Krise ist die russische Landwirtschaft und Ernährungsindustrie. Wie die Gesellschaft "German Trade and Invest" berichtete, führte der russische Boykott von Lebensmitteln aus der EU und den USA zu einem Investitionsboom bei der russischen Fleischerzeugung. Jährlich investiert Russland 3,4 Mrd. Euro im Rahmen eines Entwicklungsprogramms in die Agrar- und Ernährungswirtschaft. Allein in der südlich von Moskau gelegenen Region Belgorod erwartet das russische Landwirtschaftsministerium eine Ausweitung der Fleischproduktion um 186.000 Tonnen.

"Ihr zwingt uns nicht in die Knie"

Wer in Moskau die Menschen fragt, wie sie mit den Sanktionen und Gegensanktionen zurechtkommen, hört immer die gleiche Antwort: "Ihr zwingt uns nicht in die Knie." Von Panik ist nichts zu spüren. Zu viele Krisen haben die Russen durchgestanden. Schon im Sommer hat so mancher seinen Datschen-Garten wieder aktiviert, um im Notfall dort Kartoffeln, Mohrrüben, Rote Beete und Johannisbeeren ernten zu können.

Emblem der Bank Rossii, der Zentralbank der Russischen Föderation.

Nur in der russischen Mittelschicht herrscht Trauer, weil nun die Neujahrsreise in die Türkei oder Österreich gestrichen werden muss. Große Probleme haben auch 20.000 Moskauer, die 2007 einen Hypothekenkredit auf Dollar-Basis aufgenommen haben. Derartige Kredite waren damals wegen niedriger Zinsen verlockend. Weil die russischen Banken bisher nicht bereit sind, diese Hypotheken-Kredite von Dollar auf Rubel umzuschreiben, müssen jetzt vielleicht einige Kreditnehmer ihre Eigentumswohnung verlassen, wenn es nicht doch noch zu einem Kompromiss mit den Banken kommt. Dies forderten am 12. Dezember 60 Betroffene auf einer Kundgebung vor der Russischen Zentralbank.

Zentralbank will an die Einnahmen der Rohstoff-Exporteure

Die Maßnahmen der Zentralbank seien wie "heiße Umschläge für einen Toten", lästerte der Direktor des Instituts für strategische Analysen FBK, Igor Nikolajew. Nach Meinung des Analysten Nicholas Spiro steckt Russland gar in einer "Todesspirale".

Um den Rubel zu stützen, will die Zentralbank jetzt mit den russischen Rohstoff-Exporteuren über den Verkauf von Einnahmen in Fremdwährungen verhandeln. Liberale russische Finanzexperten schlagen Alarm, können aber keine Alternativen anbieten. Ein Zwangsverkauf von Fremdwährungen an die Zentralbank sei nicht marktgerecht und führe in die Sackgasse mit einem fixierten Rubelkurs und dem Verbot, mit ausländischen Währungen zu handeln, sagen die liberalen Finanzexperten. Wegen der Kreditsperren im Westen brauchen die Privatbanken in Russland heute selbst dringend Fremdwährungen und werden diese nur unter Zwang mit der Zentralbank teilen.

Der Artikel wurde um 10:20 aktualisiert.