(Fast) alle gegen Russland

Der EU-Gipfel beschließt neue Sanktionen gegen die Krim und fordert einen "radikalen Kurswechsel" von Moskau

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In Washington wird die Frage ganz unbefangen diskutiert. "Zerstört Obama die russische Wirtschaft?", titelte das Insider-Portal Politico, das im Frühjahr 2015 auch Brüssel erobern will. Doch beim EU-Gipfel in der belgischen Hauptstadt waren derlei Fragen tabu. Die Krise des Rubels und der drohende Zusammenbruch der russischen Wirtschaft wurden nicht öffentlich thematisiert - und wenn doch, dann nur als erfreulicher Beleg dafür, dass die von den USA und der EU verhängten Sanktionen funktionieren.

"Ich glaube, unsere Sanktionen zeigen erste Wirkung", freute sich die litauische Staatschefin Dalia Grybauskaite. Russlands Präsident Vladimir Putin müsse einen "radikalen Kurswechsel" vollziehen, warnte die neue Außenbeauftrage Frederica Mogherini. Auch Donald Tusk, der neue EU-Ratspräsident und Gipfelchef, markierte den starken Mann: Europa müsse ein "starkes Signal" für die Ukraine und gegen Russland setzen, so der ehemalige polnische Premier gleich zu Beginn des Gipfels.

Donald Tusk: "Starke Signale"; © European Union

Den Ton hatte wie immer schon am Morgen Kanzlerin Angela Merkel vorgegeben. In ihrer Regierungserklärung zum EU-Gipfel vor dem Bundestag war sie mit keinem Wort auf die schwere Wirtschaftskrise in Russland eingegangen. Stattdessen: Durchhalteparolen. Die Sanktionen müssten so lange aufrecht erhalten werden, wie Putin europäische Werte missachte und die Sicherheit Europas gefährde. Damit bestätigte Merkel die neue harte Linie, die sie zum ersten Mal in Sydney eingeschlagen hatte.

Unter Merkel und Tusk stehen die Zeichen auf Verhärtung

Offenbar gefällt es den EU-Chefs ganz gut, dass Putin nun in die Defensive geraten ist, zumindest wirtschaftlich. Und offenbar wollen sie nicht so schnell von ihrem neuen Lieblings-Feind ablassen. Nur Frankreichs Staatspräsident Francois Hollande plädierte in Brüssel dafür, auch mal eine "Deeskalation" ins Auge zu fassen und die Sanktionen zu lockern. Im kommenden März wäre eine gute Gelegenheit dafür - dann laufen nämlich die ersten, wegen der Annexion der Krim erlassenen EU-Strafen aus.

Doch Hollande ist in der Minderheit, unter Merkel und Tusk - die beiden arbeiten seit Jahren eng zusammen - stehen die Zeichen eher auf Verhärtung. Vor allem die Krim-Frage hat es dem neuen deutsch-polnischen Führungsduo angetan. Die EU müsse für "eine souveräne und territorial unversehrte Ukraine" eintreten, hatte Merkel am Morgen in Berlin gesagt. Kurz danach meldete der Ministerrat Vollzug: Noch vor Beginn des EU-Gipfels wurden neue Sanktionen gegen die Krim beschlossen.

Der "Östlichen Partnerschaft" geht das Geld aus

Europäische Firmen und Unternehmen dürfen demnach ab Samstag keine Immobilien, Finanzgesellschaften oder Dienstleistungsunternehmen mehr auf der Krim kaufen. Kreuzfahrtschiffe dürfen nicht mehr anlegen. Noch während die neuen Strafmaßnahmen - die sich in Wahrheit gegen Russland richten - verkündet wurden, winkte das Europaparlament das neue Assoziierungsabkommen mit Georgien durch. Das Signal war klar: Die EU baut ihre neuen Einflusszone im Osten systematisch aus.

Allerdings hat sie nicht die Mittel, um die neuen Partner zu reformieren und zu alimentieren. Die EU hat sich überdehnt - der "Östlichen Partnerschaft" geht das Geld aus. Auch das führte beim EU-Gipfel zu Diskussionen. Merkel lehnte es ab, der Ukraine mal eben 2 Mrd. Euro zu zahlen, wie es die Regierung in Kiew ultimativ gefordert hatte. Die Kanzlerin will EU-Hilfen an den IWF binden - und an neoliberale Reformen, die aber auf sich warten lassen und das Land noch weiter spalten dürften.

Hollande und Merkel; © European Union

Demgegenüber fordern Tusk, Hollande und andere "Freunde der Ukraine" schnelle, unbürokratische Hilfen. "Heute sollten wir ein starkes Signal senden, dass wir die Ukraine zu unterstützen bereit sind, auch finanziell", sagte Tusk. Da jedoch auch EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker abwinkte - die EU-Kassen sind leer - bleiben eigentlich nur noch bilaterale Hilfen übrig. Polen hat schon seine Bereitschaft signalisiert, der Ukraine unter die Arme zu greifen - möglicherweise sogar mit Waffen.

USA/EU: Power-Play gegen Russland, bei dem jeder auf eigene Rechnung spielt

Dasselbe planen selbstredend die USA, die offenbar die Geduld mit den Europäern verloren haben und wieder allein vorpreschen. Ein Kongress-Beschluss sieht neue Wirtschaftssanktionen gegen Russland sowie Waffenlieferungen an die Ukraine vor. US-Präsident Barack Obama will die neue Ermächtigung zwar nicht sofort umsetzen. Doch er hat nun einen neuen Hebel in der Hand, um sowohl die EU als auch Russland unter Druck zu setzen.

Was als abgestimmtes und abgestuftes Mannschaftsspiel angekündigt war, um eine "politische Lösung" in der Ukraine zu erreichen, entpuppt sich immer mehr als Power-Play gegen Russland, bei dem jeder auf eigene Rechnung spielt. Dem neuen EU-Ratspräsidenten Tusk kommt dabei eine Schlüsselrolle bei, da er neben Merkel auch das Vertrauen Obamas genießt. Seine erste Amtshandlung im neuen Brüsseler Büro war ein Anruf im Weißen Haus.

Und seine erste große Weichenstellung beim EU-Gipfel war, die Debatte über die Ukraine in eine Diskussion über Russland umzufunktionieren. Die EU müsse eine "konsequente Strategie gegenüber Russland" entwickeln, sagte der polnische Ex-Regierungschef. Diese müsse gleichzeitig "hart und verantwortungsvoll" sein. Eine moderne, stabile und unabhängige Ukraine sei aus seiner Sicht "die Grundlage dieser Strategie", sagte Tusk.

Sollte sich Tusk durchsetzen, wäre es vorbei mit der strategischen Partnerschaft, die die EU noch vor einem Jahr mit Russland unterhielt. Aus dem Partner wäre ein Gegner oder vielleicht sogar ein Feind geworden, der dem neuen EU-Partner Ukraine untergeordnet wird. So gesehen, ist es auch kein Wunder, dass sich die EU um die Rubel-Krise keine Sorgen macht, jedenfalls keine öffentlich vernehmbaren. Erst wenn der Crash in Russland die Wirtschaft in Europa und vor allem in Deutschland in Mitleidenschaft zieht, dürfte sich das ändern .