Mit TTIP zurück in die imperiale Vergangenheit

Ein Überblick über die geopolitischen Implikationen des transatlantischen Freihandelsabkommens

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Gegen wen sich das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP richtet, war schon bei dessen großspuriger Ankündigung im Sommer 2013 sonnenklar. Den Machtblöcken beiderseits des Atlantiks eröffne die angestrebte Freihandelszone die Möglichkeit, die "globale Führung" des "alten Westens" in einer multipolaren Welt erneut geltend zu machen, jubelte das Wall Street Journal (WSJ) schon im Juni 2013.

Die Neue Züricher Zeitung (NZZ) wurde in ihrem Kommentar sogar noch deutlicher Die transatlantische Freihandelszone stelle letztendlich ein "diskriminierendes Präferenzabkommen" zwischen den USA und der EU dar, das ein "Handelsregime unter Ausschluss Chinas und anderer Schwellenländer" etablieren würde.

Die meisten bi- oder multilateralen "Freihandelsabkommen" dienten nicht dem Zweck der "Liberalisierung des Handels", sondern sie fungierten "als Schutzmechanismen vor allzu starker Konkurrenz". Damit begingen Washington und Brüssel "Verrat an ihren eigenen Idealen", die im Rahmen der Nachkriegsordnung auch eine "multilaterale Handelsordnung" propagierten, um "die diskriminierenden Abkommen der 1930er Jahre zu überwinden".

Die Zielsetzung des TTIP besteht somit in der ökonomischen Exklusion der Entwicklungs- und Schwellenländer, die als eine zunehmende Bedrohung für die erodierende Machtfülle der westlichen Zentren des kapitalistischen Weltsystems wahrgenommen werden: "Viele Bürgerinnen und Bürger in OECD-Staaten fragen sich, ob sie im globalen Wettbewerb mit den aufstrebenden Ökonomien werden bestehen können", so die NZZ.

Diskriminierendes Präferenzabkommen?

Die westlichen Funktionseliten reagieren auf diesen Erosionsprozess westlicher Machtfülle mit einer Art Freihandels-Protektionismus, der letztendlich einen Versuch darstellt, in die imperiale Vergangenheit zurückzukehren, als die ökonomische und militärische Überlegenheit des Westens unangefochten war.

Die NZZ benannte auch die geopolitische Dimension dieses "diskriminierenden Präferenzabkommens". Das TTIP zielt selbstverständlich auch auf die Ausgrenzung Russlands und die weitestgehende Zurückdrängung russischen Einflusses in Europa. Ein ähnlich strukturiertes "Freihandelsabkommen" forciert Washington auch im pazifischen Raum, das dort auf die Exklusion Chinas abzielt:

Zurzeit verfolgt die Regierung Obama nämlich nicht nur ein transatlantisches, sondern auch ein transpazifisches Grossprojekt. Am Transpazifischen Partnerschaftsabkommen (TPP) nehmen zwölf Länder, einschließlich des wirtschaftlichen Schwergewichts Japan, teil. China ist nicht eingeladen, diesem Abkommen beizutreten. Sollte es den USA gelingen, sowohl das transatlantische als auch das transpazifische Abkommen zum Abschluss zu bringen, wäre handelspolitisch eine neue, bipolare Ordnung entstanden.

Eine dermaßen global ausgedehnte atlantisch-pazifische Freihandelszone würde die meisten Schwellenländer und wichtigsten globalen Herausforderer der westlichen Hegemonie ausschließen, die mittelfristig die Dominanz des US-Dollar als Weltleitwährung infrage stellen könnten: China und Russland. Die Wochenzeitung Die Zeit bezeichnete auf Ihrer Internetpräsenz TTIP ebenfalls als einen "Schutzwall vor den Schwellenländern", als eine "Revanche des Nordens", der "die Dominanz der beiden größten Wirtschaftsblöcke der Welt festigen" wolle. Allein auf die transatlantische Freihandelszone würden rund 50 Prozent der globalen Wirtschaftsleistung und ein Drittel des weltweiten Handels entfallen.

Die Deutsche Welle zeigte in einem Kommentar konkret, welche ökonomischen Folgen die Ausschlußmechnismen der Freihandelszonen auf alle Volkswirtschaften haben, die ihnen nicht angeschlossen sind: "Wo es viele Gewinner gibt, muss es auch ein paar Verlierer geben", da die Volumina des Welthandels durch das TTIP keinen schnellen Anstieg, sondern eine Umleitung erfahren würden. Während die großen Handelsblöcke den Warenaustausch untereinander verstärken dürften, würden die Importe aus "Lateinamerika, Asien und Afrika" in diese "Super-Freihandelszonen" abnehmen.

TTIP als "Flucht nach vorn" vor der kapitalistischen Systemkrise

Deswegen hätten Kritiker das Vorhaben auch als "Handels-NATO" bezeichnet, die darauf abziele, "die Welt zu spalten." Die chinesische Zeitung Global Times kommentierte, dass die geplanten Freihandelszonen China "in die Ecke" drängen würden, weil die Volksrepublik und andere Schwellenländer es sich nicht leisten könnten, aus diesem ausgeschlossen zu werden und letztendlich "mit an Bord" kämen - zu Bedingungen des "Alten Westens", versteht sich.

TTIP stellt nicht nur eine kaum verhohlene Kriegserklärung an die aufstrebenden Schwellenländer dar, es ist auch ein Versuch, die Systemkrise des Kapitalismus auf beiden Seiten des Atlantiks durch einen weiteren Liberalisierungsschub zumindest zu verzögern. Es handelt sich um eine Art "Flucht nach Vorn" vor den zunehmenden Verwerfungen und Widersprüchen der kapitalistischen Systemkrise. Auf größerer, transatlantischer Ebene soll ein ähnlicher Prozess angestoßen werden, wie er im Rahmen der Gründung und Expansion der Europäischen Union ablief - und Europa bis zum Krisenausbruch ein knappes Jahrzent kreditfinanzierten Wachstums bescherte.

Zumindest innerhalb der EU wurde die transatlantische Integration auch als Reaktion auf die anhaltende Wirtschaftskrise verstanden. Die TTIP sei "das billigste Ankurbelungsprogramm, das man sich vorstellen kann", behauptete etwa EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso, der sich davon einen zusätzlichen Anstieg der Wirtschaftsleistung um 120 Milliarden Euro pro Jahr versprach.

Das Wall Street Journal brachte das Kalkül Brüssels, mit einer Art Flucht nach vorn den eskalierenden Krisenwidersprüchen zu entgehen, auf den Punkt:

Für die Führung der EU ist es ein Versuch zu demonstrieren, dass das europäische Projekt noch mehr zu bieten hat als Rezession und grimmige Austerität.

"Das billigste Ankurbelungsprogramm, das man sich vorstellen kann"

Die angestrebte Exklusion nahezu der gesamten Semiperipherie des kapitalistischen Weltsystems aus diesem exklusiven Freihandelsklub gründet vor allem auf dem strategischen Kalkül, mittelfristig die Abhängigkeit der Zentren von der wichtigsten Ware zu reduzieren, mit der Entwicklungs- wie Schwellenländer den "alten Westen" versorgen: den Energieträgern.

Die russische geopolitische Konzeption des "Energieimperiums", die auf die Kontrolle der gesamten Wertschöpfungskette von Energieträgern - von dem Öl oder Gasfeld, über das Pipelinenetz, bis zum Gasversorger und Tankstellennetz - setzt, um hierdurch auch machtpolitische Hebel zu gewinnen, würde so ins Leere laufen. Die verstärkten Bemühungen, Russlands Einfluss im osteuropäischen Energiesektor zurückzudrängen (Let's go East) können als eine strategische Offensive begriffen werden, mittels derer die russische Konkurrenz für diese amerikanischen Energieträger ausgeschaltet werden soll.

Mit dem TTIP könnte Europa seine Abhängigkeit vom russischen Erdgas reduzieren, erklärte Bruce Stokes vom German Marshall Fund of the United States gegenüber der BBC. Mittels der transatlantischen Freihandelszone könnten rechtliche Beschränkungen für Gasexporte ausgehebelt werden, die bislang den Export von amerikanischen Energieträgern von der Zustimmung des US-Energieministeriums abhängig machen.

Das amerikanische Schiefergas oder kanadisches Rohöl, das aus den Ölsandvorkommen in Alberta gewonnen wird könnte so auch verstärkt in die Eurozone exportiert werden. Hierdurch könnte das amerikanische Handelsdefizit verringert, und die Abhängigkeit vom russischen Gas in Europa reduziert werden, so Stokes:

Es gibt also schwerwiegende geostrategische Gründe für die USA, ihre Verbündeten durch Energieexporte an sich zu binden. Es wird sich zeigen, ob die Exporte hoch genug sein können, um russisches Erdgas gänzlich zu verdrängen, aber es wäre auch ein sehr wichtiges Symbol.

Im März 2014 sicherte Präsident Obama den Europäern bereits Lieferungen von Schiefergas zu. Die Energiefrage müsse einen essenziellen Bestandteil der Verhandlungen über das TTIP bilden, so Obama. Washington will im Zuge der Verhandlungen eine Vereinfachung der Vergabe von Lizenzen über die Lieferung von Flüssiggas in die EU durch US-Konzerne erreichen, die aufgrund der ökologisch desaströsen Fördermethoden in Europa heiß umstritten ist.

Das geopolitische Establishment der Vereinigten Staaten sieht in der forcierten Förderung fossiler Energieträger aus unkonventionellen Lagerstätten gar einen strategischen geopolitischen Umbruch, der die USA zu einer "Energiesupermacht" verwandeln werde. Neue Fördermethoden, die zuvor als nicht wirtschaftlich galten - horizontale Ölbohrungen und die als Fracking bezeichnete Förderung von Erdgas aus Schiefergesteinsschichten - haben zu einem "dramatischen Anstieg der Energieproduktion" in den Vereinigten Staaten geführt, jubelte die Zeitschrift Foreign Affairs (FA) im vergangenen März:

Zwischen 2007 und 2012 stieg die Produktion von Schiefergas um mehr als 50 Prozent jährlich, und ihr Anteil an der Gesamtförderung kletterte von fünf Prozent auf 39 Prozent. US-Terminals, die einst für den Import von Flüssiggas in die USA errichtet wurden, werden für den Export amerikanischen Flüssiggases umgerüstet. … Dieser Boom hat auch zur Umkehrung des langfristigen Niedergangs der Ölproduktion in den USA beigetragen, die zwischen 2008 und 2013 um 50 Prozent anstieg. Dank dieser Entwicklungen stehen die Vereinigten Staaten kurz davor, zu einer Energiesupermacht aufzusteigen. Letztes Jahr haben sie Russland als den größten Energieproduzenten überholt, und nächstes Jahr werden sie laut Prognosen der Internationalen Energieagentur Saudi Arabien als den Topproduzenten von Rohöl überflügeln.