"Eigentlich müsste die UNO längst Blauhelmtruppen nach Spanien schicken"

Demo am 20. Dezember. Bild: No Somos Delito

Mit Geldstrafen von bis zu 600.000 Euro sollen in Zukunft auch die friedlichen Proteste der Empörten geahndet werden

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Die konservative spanische Volkspartei (PP) hat am 11. Dezember ein verfassungsausführendes Gesetz verabschiedet, das von der Opposition als Knebel- oder Maulkorbgesetz bezeichnet wird. Sogar die Richtervereinigung "Richter für die Demokratie" (JpD) fühlte sich bei der Vorlage an die "Zeiten der Franco-Diktatur" erinnert. Obwohl Strafen gegenüber dem einstigen Gesetzesentwurf nach großem Widerspruch zum Teil abgesenkt wurden, hat sich am Grundton nichts geändert. Wir sprachen mit Lorena Ruiz-Huerta über das "Gesetz zur Sicherheit der Bürger" und die Proteste am Wochenende dagegen. Sie ist Anwältin, Strafrechtsexpertin und Professorin an Universität Carlos III in Madrid. Sie hat sich mit anderen Aktivisten zur Gruppe "No somos delito" (Wir sind kein Delikt) zusammengeschlossen und zu den Protesten aufgerufen.

Am Wochenende haben in 30 Städten des Landes tausende Bürger gegen die neue Gesetzesreform demonstriert. Wie bewerten Sie die Proteste?

Lorena Ruiz-Huerta: Für uns war es sehr positiv, dass es nach der Verabschiedung des Knebelgesetzes im Parlament in so vielen Städten zu Protesten kam. Wir sind sehr zufrieden, denn wir organisieren und protestieren seit langem gegen die Gesetzesverschärfungen. Denn die Reform des Gesetzes zur Sicherheit der Bürger steht ja nicht allein. Es gibt noch zwei weitere, die auf dem parlamentarischen Weg noch nicht so weit sind, doch bei denen eine Verabschiedung auch absehbar ist. Dabei geht es um die Strafrechtsreform und ein Gesetz zur privaten Sicherheit. Bisher sind wir mit unseren Protesten ziemlich isoliert geblieben, weshalb die Mobilisierung jetzt sehr gut war.

Allerdings blieben die Proteste mit knapp 4000 Menschen in Madrid doch deutlich hinter anderen Demonstrationen zurück.

Lorena Ruiz-Huerta: Naja, da ist der Weihnachtstrubel und insgesamt sind die Leute nach Jahren mit vielen Protesten auf den Straßen etwas demonstrationsmüder geworden. Und dazu kommt, glaube ich, das Phänomen der neuen "Podemos-Partei".

Wirkt es demobilisierend, dass Podemos (Wir können es) als Wahlalternative aus der Empörten-Bewegung aufgestiegen ist und über die Parlamente "das spanische Regime stürzen"? Nach neuen Umfragen soll die Partei sogar stärkste Kraft bei den Parlamentswahlen im kommenden Herbst werden.

Ich glaube schon, dass die Tatsache, dass viele große Hoffnungen in Podemos setzen, derzeit zu kleineren Mobilisierungen führt. Das lässt sich derzeit überall feststellen. Allerdings gab es bisher zu dem Knebelgesetz nicht so viele und so große Demonstrationen. Viele hoffen aber darauf, dass Podemos tatsächlich an die Macht kommt und viele der Probleme lösen wird.

Weshalb bezeichnet die Opposition und ihre Gruppe das Gesetz als Maulkorb- oder Knebelgesetz?

Lorena Ruiz-Huerta: Es handelt sich um die Reform eines Gesetzes, das es schon 22 Jahre gibt. Lange Zeit war auch das für uns ein schlechtes und restriktives Gesetz. Doch im Vergleich mit der neuen Reform erscheint das alte fast als gutes Gesetz. Die Reform bedeutet das Ableben und die Beerdigung der fundamentalen demokratischen Beteiligungsrechte wie der Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit sowie der Meinungsfreiheit.

Lorena Ruiz-Huerta

Die Regierung begründet das Gesetz aber doch mit wachsenden Forderungen der Bürger nach mehr Sicherheit?

Lorena Ruiz-Huerta: Das Problem ist, dass die Regierung die Sicherheit der Bürger mit dem Schutz der öffentlichen Ordnung vermischt. Denn bei Schutz der Bürger müssten ja fundamentale Rechte garantiert werden, die nun aber klar verletzt werden. Die Verfassungsrechte werden ausgehöhlt und das geschieht praktisch wie in Spanien überall in Europa mit einem demokratischen Deckmäntelchen. Was als Begründung des Gesetzes angeführt wird, hat nichts mit dem zu tun, was schließlich mit dem Gesetz umgesetzt wird. Schauen wir uns das in Spanien konkret an, dann sehen wir anhand der offiziellen Zahlen, dass die Regierung zwar mit einer steigenden Unsicherheit argumentiert. Tatsächlich liegen wir deutlich unter dem europäischen Durchschnitt am unteren Ende der Liste in Europa. Auf 1000 Bürger kommen hier 43 Delikte, während es im EU-Durchschnitt 63 sind. Ähnlich sieht es damit aus, dass mit dem Gesetz angeblich die Rechtsprechung höchster Gerichte in ein neues Gesetz gegossen werden soll. Dabei sieht die vor, dass zum Beispiel das Demonstrationsrecht nur in sehr begrenzten und besonderen Fällen beschnitten werden darf.

Und wie sieht es mit dem neuen Gesetz nun real aus?

Lorena Ruiz-Huerta: In der Realität werden sogar 15 neue Vergehen eingefügt. Zentral ist, dass nun allgemein bestraft wird, was nicht zuvor angemeldet wurde, z.B. spontane Proteste. Wichtig ist auch, dass die Regierung sogar eine Entkriminalisierung vorgibt. Denn aus dem Strafrecht sollen Straftatbestände herausgenommen und nun administrativ über Geldstrafen geahndet werden. Diese sogenannte Entkriminalisierung führt aber dazu, dass 28 neue Tatbestände geschaffen werden, die nun mit Geldstrafen belegt werden. Und das hat damit zu tun, dass es in allen 447 Verfahren gegen Personen, die seit der Entstehung der Empörten-Bewegung 2011 wegen Störung der öffentlichen Ordnung festgenommen wurden, zum Freispruch kam.

"Das Gesetz ist direkt auf Bewegungen zugeschnitten, die in den letzten Jahren entstanden sind"

Können Sie die Auswirkungen des Gesetzes an ein paar Beispielen verdeutlichen?

Lorena Ruiz-Huerta: Dieses Gesetz ist direkt auf Bewegungen zugeschnitten, die in den letzten Jahren entstanden sind. Bei den sehr schweren Verstößen, die mit Strafen zwischen 30.000 und 600.000 Euro belegt werden, finden sich Versammlungen im Umfeld von kritischen Anlagen zur Basisversorgung. Das richtet sich zum Beispiel gegen Umweltorganisationen, die sich an Atomkraftwerken versammeln.

Die müssen also nicht mal eindringen wie Greenpeace 2011 in Cofrentes, wofür die 17 Aktivisten gerade zu einer Geldstrafe von 19.000 Euro verurteilt wurden?

Lorena Ruiz-Huerta: Nein, nein, es soll sogar schon eine Versammlung im Umfeld reichen, um dafür eine deutlich härtere Strafe zu bekommen.

Was sind schwere Verstöße gegen das Gesetz und welche Geldbußen werden dafür fällig?

Lorena Ruiz-Huerta: Dafür drohen nun Strafen zwischen 600 Euro und 30.000 Euro. Damit werden zum Beispiel die Proteste an den Parlamenten direkt geahndet, wie es sie immer wieder gibt. Die Bußen werden fällig, auch wenn keine Sitzung stattfindet. Wenn Versammlungen auf Anordnung der Polizei nicht sofort aufgelöst werden, fallen solch hohe Strafen an. In diese Kategorie fällt auch, die Ausführung einer Anordnung der Justiz oder der Administration zu verhindern. Das ist klar auf die erfolgreiche Bewegung gegen die Zwangsräumungen zugeschnitten, die immer wieder Räumungen verhindert. Da es auch eine Kampagne gibt, die darauf zielt, sich gegenüber der Polizei nicht auszuweisen, drohen demnächst solche Strafen bei einer verweigerten Ausweiskontrolle oder wenn falsche Angaben gemacht werden.

Bild: No Somos Delito

Und was sind leichte Verstöße?

Lorena Ruiz-Huerta: 100 bis 600 Euro drohen, wenn die Polizei fotografiert oder gefilmt wird. Fotos und Filme waren bisher wichtig, um die Willkürlichkeit von Festnahmen zu beweisen, weshalb die Angeschuldigten stets freigesprochen werden. Nun werden aber diese Aufnahmen verboten. Die Strafe gilt auch dafür, eine Straße, einen Platz oder Häuser zu besetzen. Dazu wird man auch bei mangelndem Respekt gegenüber Polizisten bestraft, was auch immer das sein soll. Ich wurde von der Polizei wegen Beleidigung angezeigt, weil ich im Fernsehen Folter kritisiert habe. Das wird wohl eingestellt. Es dürfte aber bald als Verstoß mit Geldstrafe geahndet werden. Das Gesetz ist voll von unkonkreten und weit auslegbaren Begriffen. Mit dem Gesetz wird auch die Praxis von illegalen Kontrollen mit einem klar rassistischen Charakter legalisiert. Denn vor allem wird schon jetzt ohne jeden Anfangsverdacht oder Hinweis auf eine Straftat der Ausweis derer kontrolliert, die anders aussehen.

In das Gesetz wurden ja auch noch nachträglich Sachen eingeschoben, um zum Beispiel das Rauchen von Marihuana, das Trinken von Alkohol in der Öffentlichkeit zu verbieten oder die Schnellabschiebungen von Leuten zu ermöglichen, die illegal von Marokko über die Grenzen in die spanischen Exklaven Melilla und Ceuta eindringen, was bisher illegal war und wofür auch Polizisten angeklagt werden. Wie wurde das umgesetzt?

Lorena Ruiz-Huerta: Durch einen Einspruch der Regierungspartei gegen ihr eigenes Gesetz. Damit legalisieren sie auch eine bisherige Praxis der heißen Abschiebungen. Dagegen sind Juristen Sturm gelaufen, weil das verfassungswidrig ist und gegen internationale Abkommen verstößt. Nun sind die legalisiert worden. Der Innenminister besaß sogar die Frechheit, den Gegnern, die auf einer Einzelfallprüfung von Asylanträgen bestehen, zu sagen, sie sollten ihm ihre Adresse schicken, dann würde er die Flüchtlinge zu ihnen nach Hause schicken.

Hoffen Sie darauf, dass das Verfassungsgericht dieses Gesetz wieder kippt?

Lorena Ruiz-Huerta: Zunächst müssen wir sehen, ob die Parteien oder der Ombudsmann, die dort Klage einreichen können, dies auch tun, worauf wir drängen. Doch wir wissen, dass das Abgleiten Spaniens in einen immer autoritäreren Staat mit der Kolonisierung der Justiz verbunden ist. Deshalb haben wir nur wenig Hoffnung auf das Höchste Gericht, sondern hoffen mehr auf internationale Instanzen wie den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg oder den Menschenrechtsgerichtshof in Straßburg. Beide intervenieren immer wieder gegen die massiven Verstöße hier. Und die Zwangsräumungsgegner haben schon gezeigt, dass dieser Weg erfolgreich beschritten werden kann.

Die Kolonisierung der Justiz zeigt sich auch daran, dass sich nun sogar Richter des Obersten Gerichtshof offen über die Einflussnahme der Regierung beschweren. Das Fass zum Überlaufen brachte gerade, als der Innenminister sie praktisch als Komplizen von Terroristen bezeichnete. Dabei haben die nur eine EU-Norm angewendet, weshalb nun erneut Gefangene der baskischen ETA freigelassen werden müssen. Die kürzlich in spanisches Recht umgesetzte Norm sieht vor, dass Strafen, die zuvor in Frankreich schon abgesessen wurde, auf die Strafe in Spanien angerechnet werden muss.

Und dann ist da natürlich auch die Tatsache, dass gerade der Richter abgesägt wird, der gegen die massive Korruption in der Regierungspartei ermittelt. Wir wohnen ja der Tatsache bei, dass ständig neue Korruptionsskandale auftauchen. Es gibt Leute, die praktisch das Land ausgeplündert haben und für die schwere Krise verantwortlich sind, die wir gerade durchmachen. Und dann erlaubt es sich diese Regierung, den Richter zu beseitigen, der die wichtigsten Ermittlungen führt, welche sie berühren. Und das kann dann zur Verjährung führen. Gleichzeitig verabschieden sie aber ein Gesetz, um die Aktivitäten von sozialen Organisationen abzuwürgen und anzugreifen, die eine wirkliche Sicherheit für die Bürger fordern. Denn die Leute wollen Arbeit, eine Wohnung, Bildung und Gesundheit und fordern sie auf den Straßen. Doch diese Forderungen sollen unterdrückt werden. Eigentlich müsste die UNO längst Blauhelmtruppen nach Spanien schicken.