Charlie Hebdo vs islamisches Bilderverbot

Islamische Institutionen sehen in der neuen Ausgabe von Charlie Hebdo die alte Provokation am Werk, die Hass schürt statt zur Versöhnung beizutragen

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In Frankreich - und vermutlich auch in anderen westlichen Ländern - verkauft sich die Charlie-Hebdo-Ausgabe nach dem Attentat wie eine Aktie, von der große Wertsteigerung erwartet wird. Islamische Institutionen reagieren mit Empörung auf das Titelbild, das als Provokation gewertet wird. Ein radikaler Prediger sprach sogar von einem "Akt des Krieges".

In der Redaktion von Charlie Hebdo wird das Titelbild, gestaltet vom Zeichner Luz - "Auf unsere Schultern hat man eine symbolische Last gelegt, die es in unseren Zeichnungen nicht gibt und die uns etwas überfordert. Ich gehöre zu den Leuten, die damit ihre Schwierigkeiten haben" -, gänzlich anders verstanden. Es sei voller Liebe und getragen vom Geist der Versöhnung, kommentiert eine Mitarbeiterin der Redaktion.

"Alles ist vergeben"

"Tout est pardoné" - "Alles ist vergeben", lautet die Überschrift des neuen Titels der "unverantwortlichen Zeitung", der Mohammed abbilden soll, in seinen Händen hält er das Schild mit dem Slogan der letzten Tage. Seinem linken Auge entspringt eine Träne.

Eine sanfte, doch kühne und wehrhafte Reaktion mit Finesse, könnte man meinen. Die Ausgabe wurde von überlebenden Redaktionsmitgliedern und Helfern hergestellt, nachdem ihre Kollegen am vergangenen Mittwoch regelrecht hingerichtet wurden. Von Männern, die, wie die aus Angst flüchtenden Mitarbeiter hörten, ihre Tat vor der Redaktion mit den Worten begründeten: "Ihr werdet bezahlen, weil ihr den Propheten beleidigt habt". Vollstrecker eines Todesurteils (von Al-Qaida auf der arabischen Halbinsel laut einer Aqab-Erklärung).

Eine Woche später reagiert die Redaktion mit: "Alles ist vergeben". Man kann sich fragen, was in "alles" inbegriffen ist. Außer Frage steht, dass dies keine aggressive Botschaft ist. Die Chuzpe liegt in der zweifachen Vereinnahmung des Propheten in der Gestalt einer Karikatur: Dass er als solidarisch mit Charlie Hebdo dargestellt wird, indem er dem Betrachter genau den Spruch entgegenhält, mit dem sich Millionen weltweit mit den Opfern des Anschlags identifiziert haben plus die Vereinnahmung auf einer Instanzenebene: Man lässt die Karikatur verkünden, was Richtern vorbehalten ist (und für Glaubende letztlich nur Gott): die Befreiung von der Schuld.

"Nicht der echte"

Das Spiel hat einen doppelten Boden, weil sein Darsteller genau die Figur ist, die am Anfang der tödlichen Spirale steht: der gezeichnete Mohammed. Nicht der echte. Aber die künstliche Figur reagiert auf Vorgänge im echten, tödlichen Leben. Und sie tut das mit Trauer und Versöhnung. So wird die Anmaßung - die ja zuvor schon die Attentäter mit ihrer "Urteilsverkündung- und vollstreckung" begangen hatten - "mit höherem Witz" beantwortet. Fein ausbalanciert. Mit einer fiktiven Figur, die ein Eigenleben entwickelt hatte.

Vertreter großer islamischer Institutionen sehen das nicht so, sie haften an der Einheit von Abbild und der Person des Propheten. Die versöhnliche Botschaft der Karikatur ignorieren sie. Es geht um das Bilderverbot (das nach Auffassung mancher Islam-Kenner nicht im Koran fundiert ist) und darum, dass Mohammed erneut karikiert wird: Das ist eine Provokation, so die Einschätzung des ägyptischen Fatwa-Amts Dar al-Ifta, einem hoch angesiedeltem und einflussreichen Zentrum für islamische Rechtsfragen.

"Gefühle von Muslimen weltweit verletzt und provoziert"

Auf der verlinkten deutsch-sprachigen Webseite von Dar al-Ifta ist das Statement nicht veröffentlicht, auch nicht auf der englichsprachigen. Die ägyptische Zeitung al-Ahram gibt es in Auszügen wieder. Daraus ist nicht deutlich zu entnehmen, ob es sich auf die gesamte Neuausgabe bezieht oder speziell auf das Titelbild eingeht. Der Zeitungsbericht suggeriert, dass sich das Statement auf den Titel bezieht, wenn es heißt, dass "menschliche Werte" angegriffen werden - "Freiheiten, kulturelle Unterschiede, Toleranz und die Achtung von Menschenrechten". Der Hass und die Diskriminierung zwischen Muslimen und anderen werde dadurch vertieft.

Am Anfang des Artikels heißt es, dass die Entscheidung von Charlie Hebdo erneut Karikaturen des Propheten zu veröffentlichen, ein Akt sei, der auf nicht zu rechtfertigende Weise die Gefühle von 1,5 Milliarden Muslime weltweit prophoziere, die ihren Propheten lieben und respektieren. Die neue Charlie-Hebdo-Ausgabe werde zu einer neuen "Welle des Zorns" in Frankreich und im Westen führen, warne das Statement. Sie trage nicht zum Dialog zwischen den Zivilisationen bei, den die Muslime suchen.

Auch al-Azhar, die hoch angesehene Institution der sunnitischen Islamgelehrten, sieht keine friedliche Botschaft im neuen Charlie-Hebdo-Heft, sondern warnt vor einer "Anstiftung zum Hass". Der friedlichen Koexistenz zwischen Völkern werde dadurch nicht geholfen. Das Büro des Großmuftis von Ägypten wird ähnlich zitiert: "Dies wäre ein rassistischer Akt, erklärte das Büro von Schauki Allam." Enstprechendes wird auch von der saudi-arabischen Seite Arab News berichtet, ansonsten ist auf deren Webseite keine andere Perspektive zu finden.

Laut der libanesischen Zeitung Daily Star vertritt die Sprecherin des iranischen Außenministeriums, Marzieh Afkham, die Auffassung, dass das Charlie-Hebdo-Titelbild "Gefühle von Muslimen weltweit verletzt und provoziert, was den Teufelskreis des Extremismus neu entflammen könnte".

Die New York Times berichtet, dass der als radikal geschildert Prediger Anjem Chourdry das Titelbild als "Kriegsakt" bezeichnet habe, dass vor einem Schariah-Gericht mit dem Tode bestraft werden könnte: So baut man Brücken zu Extremisten auf der anderen Seite.

Ägyptens Präsident as-Sisi hat sich für eine Gefahrenabwehr entschieden, die seine bisherige repressive Politik gegenüber Meinungsfreiheit konsequent fortsetzt: Er hat eine Dekret erlassen, wonach sein Premierminister die Macht hat, jegliche ausländische Publikation, die religiöse Gefühle verletzen könnte, zu verbieten.