Die Wahrheit ist nur eine Fußnote der Geschichte

Warum der Streit um ein inszeniertes Bild am Kern der Kritik vorbeigeht

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Der Diskurs, der nun anhand des "historischen" Bildes und der Kritik daran geführt wird, ist eine Scheindebatte. Regierungschefs taten so, als wären sie an der Spitze der Demonstration in Paris mitmarschiert, während sie - aus Sicherheitsgründen - nur einen isolierten Auftritt wagten, um zu insinuieren, sie seien mit dem Volk gegen die Islamisten vereint. Medien verbreiten die inszenierten Bilder, ohne explizit zu erwähnen, wie sie zustande kamen. Es geht nicht darum, ob, wo und wie inszeniert wurde. Es geht auch nicht darum, ob es aus der Perspektive von Sicherheitsbeamten sinnvoll ist, die politische Elite zu separieren oder nicht. Es geht um die transportierten Inhalte und um das Selbstverständnis von Journalisten.

Screenshot aus dem Brennpunkt vom 12. Januar.

Die Bundesregierung meldete: "Gemeinsam mit Staats- und Regierungschefs aus der ganzen Welt haben die Bundeskanzlerin und weitere Kabinettsmitglieder an der Solidaritätskundgebung für die Opfer in Paris teilgenommen. 'Wir stehen eng an der Seite unserer französischen Freunde', so Merkel." Das wollten Merkel und Co. mitteilen, die Medien haben dies weitergereicht.

Kai Gniffke, Chefredakteur von ARD-aktuell, zeigt in einem Rant im Blog der Tagesschau, das Differenzierung und Selbstkritik sein Ding nicht sind. Auch wenn er mit der Distanz von einem Tag und großer medialer Resonanz relativiert. Anstatt, wie es dpa und Reuters getan haben, so etwas Ähnliches wie Einsicht zu zeigen - "unglückliche Situation" -, ist Gniffke der Meinung, dass Kritik seine Grenzen kennt. Soviel zu "je suis Charlie". Denn wenn es gegen eine gute Sache geht, dann muss man auch mal ein Auge zudrücken können oder auch einfach den Journalismus neu definieren.

Auch auf die Gefahr hin, dass ich jetzt wieder richtig auf die Fresse bekomme: Mir langt’s. Heute geistern schon wieder wilde Verschwörungstheorien durch soziale und traditionelle Medien. Kritiker bemängeln, dass die Darstellung der Staats- und Regierungschefs am Sonntag in Paris eine reine Inszenierung gewesen sei. Ich möchte versuchen zu erklären, warum ich das für kompletten Unfug halte.

Kai Gniffke

Nun könnte man einfach ein paar Sätze weiter gehen, um aufzuzeigen, wie weit es her ist mit Gniffkes Analysefähigkeit:

Aber es ist doch so: Wenn sich Politiker vor eine Kamera stellen, ist das immer eine Inszenierung, jede Pressekonferenz ist eine Inszenierung.

Kai Gniffke

Die Erklärung, warum der Vorwurf der Inszenierung kompletter Unfug ist, ist dann wohl Unfug. Dabei könnte man es belassen. Zum sich vollkommen abnutzenden Vorwurf der Verschwörungstheorie, bedarf es auch keiner weiteren Worte. Seriös argumentiert hier doch niemand mit einer Verschwörung. Was Gniffke nicht verstehen kann oder will, hier wird mit der Seriosität der Medien selbst argumentiert.

Wenn Politik immer Inszenierung ist, dann ist es Aufgabe des Journalismus diese Inszenierung zu hinterfragen und den Bürgern die Symbolik zu decodieren. Es ist wohl kaum anzunehmen, dass man bei der ARD der Meinung ist, dass Journalismus und Nachrichten daraus bestehen, die Inszenierung einfach nur aufzugreifen und wiederzugeben. Dafür benötigt man keine Redakteure, keine öffentlich-rechtlichen Rundfunksender und keinen Kai Gniffke. Dafür gibt es PR-Agenturen und das Bundespresseamt, die können inszenieren, wie sie wollen. Wenn diese Inszenierung aber unkommentiert in den seriösen Medien aufgenommen wird, dann wird aus Inszenierung Manipulation. Nämlich die Manipulation der Rezipienten, die Manipulation des kollektiven Gedächtnisses. Dann wird aus Information Formation. Dann wird das Wir-Bild, das Bild der Deutschen oder gleich des Westens formiert. Und wer diesen Zwang zum Konformismus nicht mitmachen will, wird als Verschwörungstheoretiker stigmatisiert.

Es ist vor allem auch deswegen so absurd von Gniffke, gegen die treffende Kritik anzureden, da jeder den Grundgedanken des abgesicherten Bereiches für 40 Staatschefs unmittelbar plausibel finden wird. Es geht nicht um den eigenen Bereich, es geht darum, dass eine andere Wahrheit konstruiert wurde und Gniffke damit offensichtlich kein Problem hat:

Kein Foto zeigt "die" Realität. Jedes Foto zeigt einen Ausschnitt, und gleichzeitig gibt es viel mehr, was das Foto nicht (!) zeigt. Das ist kein Frisieren, kein Zensieren und kein Inszenieren. Das ist Journalismus, das ist die Auswahl von Bildern, Ausschnitten und Fakten. Das ist harte journalistische Arbeit, die sich an ethischen und handwerklichen Standards messen lassen muss.

Kai Gniffke

Welche ethischen Standards bezüglich der manipulativen Berichterstattung bei der ARD zu herrschen scheinen, kann der Umgang Gniffkes mit der Kritik am Vorgang durchaus beleuchten. Es ist also harte journalistische Arbeit und entspricht den ethischen und handwerklichen Standards der ARD, wenn man die banale Realität ein wenig in der Perspektive verschiebt, um der politisch gewollten Inszenierung nachzukommen. Das kann man durchaus Propaganda nennen. Da hilft auch nicht der Verweis darauf, dass es sich in diesem Falle um eine moralisch einwandfreie Situation gehandelt hat. Gerade deshalb wäre es doch allen verständlich gewesen, hätte man die Wahrheit berichtet. Wenn die ARD bei solch eigentlich unstrittigen Themen schon unsauber arbeitet, was geschieht denn bei strittigen Themen?

Bedenklich ist der Gedanke, der dahinter steckt: In solchen Ausnahmesituationen muss der kritische Journalismus für die gute Sache etwas zurückstecken. Ein Mechanismus, der nach dem 11. September 2001 zu einer Selbstzensur in amerikanischen Medien geführt hat. Ein Mechanismus, der die Mehrheit der amerikanischen Medien zu kriegstreibenden Instrumenten an der Heimatfront hat werden lassen.

So entstand auch ein unvorstellbares Bild, eine Jahrhundertaufnahme, ein Wimpernschlag der Geschichte: Renzi aus Rom, Cameron aus London, Rajoy aus Madrid, die gesamte deutsche Regierungsspitze, ein Israeli, ein Araber - vereint und "an der Spitze des Zuges" Hunderttausender Menschen. Zu sehen waren: unsere Werte, unser Glaube, unsere Stärke. Vor allem aber: unsere Geschlossenheit. Wir gegen die, das war die Botschaft. Und sie kam an.

Gerhard Matzig

Die Botschaft, die diese Inszenierung vermitteln sollte, ist laut Gerhard Matzig von der Süddeutschen Zeitung also mal wieder ein "Wir sind bereit für den Krieg gegen den Terror". Wir gegen die. Es ist das einfache Freund-Feind-Denken, das solche Kommentatoren anfachen. Es ist die gleiche Rhetorik und die gleiche Logik, mit denen die USA in Afghanistan und in den Irak eingefallen sind. Es ist die Logik des Patriot Act und der totalen Überwachung. Matzig will ein Kollektiv herbeischreiben, ein "großes Ganzes", ein "Wir", das "untrennbar" zusammensteht. Das erinnert arg an die "uneingeschränkte Solidarität", die nach Terroranschlägen ausgerufen wird. Uneingeschränkt und alternativlos sind jedoch nicht die Begriffe der Demokratie, sondern die Begriffe des Totalitarismus. Der Krieg gegen den Terror ist dabei kaum etwas anderes als ein Krieg gegen die Demokratie.

Als in Paris die Politiker zur ihrer eigenen, absolut nachvollziehbaren Sicherheit wie auch zu unserem Bilde einer Politik, die ein untrennbares Ganzes in Stunden der Gefahr sein muss, zusammenfand, da ereignete sich Geschichte. Die Wahrheit über dieses Bild gibt es auch. Trotzdem ist das kein Skandal, sondern eine Fußnote der Geschichte.

SZ