Nach Charlie versteht Frankreich keinen Spaß mehr

Frankreich geht gegen Terrorismus vor und trifft die Meinungsfreiheit

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Darf Satire alles? In Frankreich darf sie offenbar immer weniger. Nach den Anschlägen auf Charlie Hebdo gehen Behörden hart gegen jene vor, die vermeintlich "Terrorismus verherrlichen". Im Zweifel reicht schon ein Facebook-Posting im Charlie-Stil.

Nur auf den ersten Blick sieht das Bild aus wie ein Cover von "Charlie Hebdo": Ein emotionslos blickender Mann versucht sich mit einer Zeitschrift vor heranfliegenden Gewehrkugeln zu schützen. Vergeblich. Dazu der Kommentar: "Charlie Hebdo ist scheiße. Es hält die Kugeln nicht auf."

Der Mann auf dem Bild ist Stéphane "Charb" Charbonnier. Er war der Chefredakteur des Satiremagazins Charlie Hebdo, bis zwei Attentäter ihm und elf weiteren Menschen am 7. Januar das Leben nahmen. Veröffentlicht hat die Karikatur ein 16-jähriger französische Schüler auf seiner Facebook-Seite. Kurz darauf wurde er von Polizisten verhaftet. Die Anklage: "Anstiftung zum Terrorismus".

Der französische TV-Sender France 3 berichtete am Wochenende über den Fall. Dass nichts bei dem Jungen auf einen "dschihadistischen Hintergrund" hindeute, sagte sogar der zuständige Staatsanwalt. Der Junge habe das Bild stattdessen wohl einfach "lustig" gefunden.

Nun mag man darüber streiten, welchen komödiantischen Wert Witze über ein gerade erst begangenes Massaker haben. Doch das gilt wohl ebenso für Charlie Hebdo selbst. Denn das Bild sieht dem Satiremagazin auch deshalb zum Verwechseln ähnlich, weil es auf einer Ausgabe von Charlie Hebdo beruht: Statt "Charb" hatte dieses im Juli 2013 einen bärtigen Mann auf dem Cover, der offenbar einen ägyptischen Muslimischer darstellen soll. Dieser versucht sich damals ebenfalls vergeblich mit einem Koran vor heranfliegenden Gewehrkugeln zu schützen. Der Kommentar auf dem Cover damals: "Der Koran ist scheiße. Er hält die Kugeln nicht auf." Juristische Konsequenzen hatte die Veröffentlichung damals freilich nicht.

Der 16-jährige Jugendliche ist nicht der einzige gegenüber dem die französische Justiz nach den Massakern vom 7. und 9. Januar keinen Spaß versteht. In der Woche, in der Millionen Menschen in Frankreich für die Meinungsfreiheit auf die Straße gingen, verhaftete die französische Polizei mindestens 69 Personen wegen "Anstiftung oder Verherrlichung des Terrorismus", berichtet Amnesty International: "Alle Verhaftungen scheinen auf Basis von Äußerungen infolge der tödlichen Angriffe auf das Magazin Charlie Hebdo und einen koscheren Supermarkt sowie Sicherheitskräfte am 7. und 9. Januar in Paris erfolgt zu sein." Als "Lackmustest für ihr Bekenntnis zu den Menschenrechten" bezeichnete der Chef von Amnesty-Europa John Dalhuise die Reaktionen der französischen Behörden auf die Anschläge. Der Test dürfte gescheitert sein.

Nur drei Tage nach den Anschlägen wies Justizministerin Christiane Taubira die Behörden an, "Äußerungen und Fehlverhalten, die Hass oder Verachtung" zum Ausdruck bringen, "mit großem Nachdruck zu verfolgen". Es folgten dutzende Verhaftungen und Verurteilungen im Schnellverfahren. In der französischen Stadt Lille wurde ein Schüler wegen "Verharmlosung des Terrorismus" angeklagt, nachdem er und zwei Mitschüler sich weigerten, an einer Schweigeminute für die Opfer der Anschläge teilzunehmen. In Paris wurden ein psychisch kranker 38-jähriger Mann zu drei Jahren Haft verurteilt, nachdem er Polizisten gegenüber gesagt hatte: "Die französischen Schweinefressen haben bekommen, was sie verdient haben."

210 Sozialstunden ableisten muss eine 18-Jährige aus Bordeaux, die in einer Polizeikontrolle geraten war und gegenüber den Beamten die Anschläge begrüßt hatte. Zehn Monate Haft erhielt ein 21-jähriger Mann, der gegenüber einem Schaffner in der Straßenbahn sagte: "Die Kouachi-Brüder sind nur der Anfang. Ich hätte bei ihnen sein sollen, um noch mehr Menschen zu töten." Die Äußerung: "Wir sind die Kouachi-Schwestern und werden nach unseren Kalaschnikows greifen", wurde hingegen einem 14-jährigen Mädchen in der Straßenbahn zum Verhängnis.

Das Gesetz, welches jede dieser Verhaftungen ermöglichte, ist gerade erst zwei Monate alt. Unter harscher Kritik von Bürgerrechtlern verabschiedete der französische Senat das Gesetz gegen die "Verharmlosung von Terrorismus" im November letzten Jahres. Französische Behörden können nun ihren Bürgern die Ausreise verweigern, wenn diese in Verdacht stehen, sich im Ausland an "terroristischen Aktivitäten" beteiligen zu wollen. Das Gesetz ermöglicht es aber auch, Webseiten zu schließen, auf denen zu Terrorismus "angestiftet" oder auf denen dieser "verherrlicht" wird. Eines richterlichen Beschluss bedarf es hierfür nicht. Von einer "Gefahr für die Meinungsfreiheit" warnte damals Human Rights Watch, da selbst Facebook-Posts nun mit bis zu sieben Jahren Haft und 100.000 Euro Geldstrafe geahndet werden können.

Facebook-Postings wie der von Dieudonné M'bala M'bala. Er ist das prominenteste Opfer der aktuellen Verhaftungswelle. Den französischen Kabarettisten als umstritten zu bezeichnen, wäre wohl untertrieben. In den letzten Jahren fiel er mehr durch antisemitischen Ausfälle und seine Nähe zum rechtsextremem Front National auf als durch sein komödiantisches Talent. Auf ihn geht möglicherweise die Veröffentlichung des gefälschten Charly Hebdo-Covers zurück. Auch ihm wurde ein Facebook-Posting zum Verhängnis.

Verhaftet wurde Dieudonné, nachdem er am 14. Januar auf seinem Facebook-Profil die Worte veröffentlichte: "Heute Abend fühle ich mich wie Charlie Coulibaly." (Wenn Antisemiten witzig sein wollen) Auch deutsche Medien sahen darin eine pietätlose Unterstützung von Amédy Coulibaly, jenes Islamisten, der am 9. Januar in einem koscheren Pariser Supermarkt vier Menschen ermordete. Doch in einem Brief Dieudonnés an den französischen Innenminister Bernard Cazeneuve wird deutlich, was er eigentlich gemeint hatte. Dass er sich fühle wie ein Komiker, der als Islamist behandelt werde: "Du hältst mich für einen Amedy Coulibaly, dabei bin ich doch nicht anders als Charlie." Er dürfte nicht der einzige Franzose sein, der momentan so empfindet.