320 Kilometer erobern statt vier Kilometer bauen?

Eine Einnahme von Mariupol wäre sowohl für Russland als auch für die Donezker Separatisten nur von begrenztem Wert

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

In der Ostukraine kommt es seit letzter Woche wieder zu schweren Auseinandersetzungen zwischen Regierungstruppen und Separatisten (vgl. Schwere Kämpfe in der Ostukraine). Am Freitag kündigte Alexander Sachartschenko, der Präsident der "Donbasser Volksrepublik" (DVR), eine Großoffensive an (vgl. Separatisten wollen vom Minsker Abkommen nichts mehr wissen). Dabei sollen angeblich nicht nur von ukrainischen Truppen und westukrainischen Freischärlern gehaltene Gebiete in der Umgebung der Oblasthauptstadt Donezk in Angriff genommen werden, sondern auch Stellungen der ukrainischen Streitkräfte in der Nähe der Hafenstadt Mariupol.

Unklar ist allerdings, ob die DVR-Streitkräfte auch für den Einschlag von Raketen oder Artilleriegeschossen in einem Wohnviertel und einem Markt im Osten der Halbmillionenstadt verantwortlich sind, bei dem in der Nacht zwischen Freitag und Samstag über 20 Zivilisten ums Leben kamen und mindestens 75 teilweise schwer verletzt wurden.

Ukrainische Militärs, die NATO und die OSZE teilten der Öffentlichkeit gestern mit, dass die Einschläge ihrer Ansicht nach Teil eines Angriffs der Donezker Separatisten waren (vgl. OSZE: Raketenbeschuss auf Mariupol). Dabei stützen sie sich auf Berechnungen, nach denen Grad-Raketen und Urugan-Raketen aus Gebieten gestartet wurden, die von den Separatisten kontrolliert werden.

Ein Vertreter des "Volkswehrstabes in Donezk" sagte dagegen dem russischen Regierungsportal Sputniknews: "Unsere Kräfte im Raum von Mariupol verfügen nicht über Artilleriesysteme, die für den Beschuss der genannten Ortschaft hätten eingesetzt werden können - die Entfernung ist zu groß". Seinen Worten nach geht man bei den Separatisten davon aus, dass das ukrainische Militär den Angriff von der Siedlung Stary Krim am nördlichen Stadtrand von Mariupol aus durchführte, um zu "provozieren".

Mariupol ist etwa hundert Kilometer von Donezk entfernt. Die vordersten Stellungen der Separatisten liegen 14 Kilometer vor der Stadtgrenze. Grad-Raketen, mit denen der Angriff westlichen Medienberichten und der OSZE nach durchgeführt worden sein soll, haben eine Reichweite von 30 Kilometern. Die von Urugan-Raketen beträgt 35 Kilometer. Russische Medien sprechen allerdings nicht von einem Angriff mit Grad- und Urugan-Raketen, sondern von einem Angriff mit Artilleriegeschossen.

Eine Äußerung zur Offensive, die als Willenserklärung zur Eroberung von Mariupol verstanden worden war, wurde von Sachartschenko mittlerweile, relativiert. Seiner Ergänzung nach will er lediglich Stellungen der ukrainischen Streitkräfte angreifen, aber nicht die Stadt einnehmen.

Mariupol wäre für die Donezker Separatisten nur von begrenztem Wert: Erobern sie die Stadt, hätten sie zwar einen Zugang zum Meer, könnten von dort aus aber wahrscheinlich auch lediglich aus und nach Russland im- und exportieren, was auf dem Landwege viel einfacher und kostengünstiger geht.

An der engsten Stelle der Kertsch-Meerenge beträgt die Entfernung zwischen Russland und der der Krim nur vier Kilometer. Bereits jetzt überwinden weltweit 61 Brücken größere Entfernungen. Foto: NASA.

Die in westlichen Medien häufig genannte Einrichtung einer russisch kontrollierten Landbrücke zur Krim befriedigt als Erklärung ebenfalls nur bedingt: Zwischen Mariupol und der Krim liegen nämlich über 320 Kilometer Küste, die erobert werden müssten. Da käme Russland der Bau einer nur vier Kilometer langen Brücke zur Kertsch-Halbinsel womöglich deutlich günstiger. Ähnliches gilt für zwei Stahlwerke in Mariupol, die angeblich Profit erwirtschaften und die das ZDF als Grund für einen Vorstoß vermutet.

Vielleicht geht es den Rebellen aber auch um eine "Befreiung" der russischen Minderheit: In der ehemals von einer griechischen Mehrheit besiedelten Metropole sprechen nämlich ungefähr 90 Prozent der Bewohner Russisch als Muttersprache. Der Anteil der Ukrainischsprecher liegt unterhalb von 10 Prozent.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

Mit Ihrer Zustimmmung wird hier eine externe Buchempfehlung (Amazon Affiliates) geladen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen (Amazon Affiliates) übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.