Europa braucht einen neuen Islam

Ein innerislamischer Dialog findet so gut wie nirgendwo statt

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Ich habe mich immer gefragt, wie Neonazis und Rechtsradikale sich ein Deutschland ohne Ausländer vorstellen, zumal ein ausländerfreies Deutschland konsequenterweise auch ein deutschfreies Ausland bedeuten muss. Können die Deutschen etwa ohne Sushi-Restaurants, Pizzastuben und Hollywoodfilme auskommen? Reicht es den Deutschen aus, Urlaub nur in der Eifel oder auf Sylt zu machen? Sollten Volkswagen, Mercedes und BMW ihre Autos nur für den Binnenmarkt produzieren? Weil eine solche Vorstellung absurd ist und auf einen limitierten Horizont des Trägers solcher Vorstellung hindeutet, habe ich mir nie wirklich Sorgen um Ausländerfeindlichkeit und deren Verbreitung in Deutschland gemacht.

Durch die Entstehung der Pegida- und Legida-Bewegungen haben sich die ausländerfeindlichen Kräfte in Deutschland weiterentwickelt und eine intellektuelle Maske aufgesetzt. Aus den dumpfen rassistischen Köpfen, die gegen jeden Ausländer hetzen, sind angeblich anständige Bürger geworden, die sich um die Kultur des Abendlandes sorgen und sich gegen die Invasion des Morgenlandes stemmen. Dabei unterscheiden sich die Argumente gegen den Islam und Muslime kaum von den Argumenten gegen Ausländer und Asylbewerber im Allgemeinen (während Legida-Plakate die Multi-Kulti-Gesellschaft verdammen, beschwert sich die Pegida-Dame Kathrin Oertel in einer Talkshow-Runde im Fernsehen über die angebliche Tabuisierung der Themen Asyl und Migration).

Die Vorstellung, dass Nazis, Rechtradikale und andere konservative Bürger Seite an Seite nicht nur mit Franzosen, Italienern und Griechen, sondern auch mit in Deutschland lebenden Mosambikanern, Indern und Vietnamesen gegen muslimische Mitbürger protestieren, scheint daher absurd. Auch an dieser Stelle mache ich mir wenig Sorgen über die Verbreitung von Feindlichkeit gegen Ausländer muslimischer Herkunft, denn ich schätze die deutsche Bevölkerung als gebildet und schlau genug ein, um nicht auf eine billige Masche rechtsradikaler Gruppierungen reinzufallen.

Dennoch bedeutet die Absage an die Pegida-Bewegung keineswegs, dass man den Islam in seiner heutigen Form gutheißt und jede Art von Islamkritik missbilligt, zumal der Reformbedarf riesengroß ist. Der heutige Islam befindet sich in der größten Identitätskrise seiner tausendvierhundert Jahre alten Geschichte. Die Kluft zwischen seiner unverrückbaren Lehre und der modernen Welt des einundzwanzigsten Jahrhunderts ist enorm. Der Islam steht im Widerspruch nicht nur zu den kulturellen Werten westlicher Staaten, sondern auch zu deren demokratischen Gesetzen und sogar zu der UN-Menschenrechtscharta, insbesondere zu Artikel 18 - Religionsfreiheit - und zu Artikel 19 - Meinungsfreiheit. Als Beispiel sieht das islamische Recht die Todesstrafe für Religionsabtrünnige, Gottesleugner und Ehebrecher vor. Darüber hinaus steht der heutige Islam im Rechtfertigungszwang, weil sehr viel Terror in seinem Namen ausgeübt wird. Der Islam und die Muslime schulden der Menschheit eine Antwort auf die Frage, wie es zu der Entstehung von Taliban, Al Qaida, Islamischer Staat, Hisbollah, al-Nusra, Boko Haram sowie weiteren Djihadistengruppen und djihadistischen Zellen in westlichen Ländern kommen konnte. Die Zahl der Mitglieder und Sympathisanten dieser Terrororganisationen dürfte siebenstellig sein.

Im Gegensatz zu der polemischen und auf der Stammtischebene verlaufenden Islamkritik der Pegida-Anhänger muss die Kritik oder besser gesagt die Auseinandersetzung mit dem Islam konstruktiv sein und auf fachlicher Ebene geführt werden. Sie darf weder auf die Verbannung des Islams aus Deutschland und Europa abzielen, noch die Diskriminierung der Millionen in Deutschland und Europa friedlich lebenden Muslime unterstützen oder begünstigen. Die Auseinandersetzung mit dem Islam sollte gemeinsam mit friedlichen Muslime und deren moderaten Gelehrten erfolgen und das Ziel haben, einen innerislamischen Dialog unter europäischer Aufsicht zu initiieren - ein Dialog, der zur Entwicklung eines modernen Verständnisses vom Islam, ja sogar einer neuen islamischen Konfession führen soll.

Europa braucht dringend einen modernen Islam und muss seine Entstehung aus eigenem Interesse stark fördern. Die neue islamische Konfession muss friedlich und demokratisch sein, muss Frauen und Männer gleichstellen und die Rechte aller Menschen ohne Ausnahme respektieren. Dazu gehört auch das Recht auf Gotteslästerung, auf Gottesleugnung und auf den Besitz einer kritischen oder satirischen Meinung nicht nur zum Islam, sondern auch zu jeder anderen Religion. Zudem darf der neue Islam menschliche Handlungen und Neigungen, wie außerehelicher Sex oder Homosexualität, nicht kriminalisieren.

Im Grunde genommen braucht die Welt einen Islam, der lediglich auf den Anspruch auf politische und gesellschaftliche Verantwortung verzichtet. Er sollte seine Rolle auf die Betreuung der vertikalen Gott-Mensch-Beziehung beschränken und sich zu einem Rechtsstaat bekennen als einzige Instanz, die sowohl für das Erlassen von Gesetzen als auch für die Anwendung von Gewalt zur Durchsetzung von Recht und Ordnung befugt ist. Zwar hat sich die absolute Mehrheit der Muslime innerlich darauf verständigt oder sich zumindest damit abgefunden, friedlich zu leben, sich dem Staat unterzuordnen und keine Gewalt zur Erzwingung islamischen Rechts anzuwenden, aber andererseits findet ein innerislamischer Dialog so gut wie nirgendwo statt und die Muslime verhalten sich so passiv, als ob es sich bei der Misere des Islams um einen Meteoriten handele, der in einen fremden Planeten eingeschlagen wäre. Im besten Fall wird bei Gesprächen unter Muslime dem Westen, Israel oder Russland die Schuld für die islamische Krise in die Schuhe geschoben.

Kaum ein frommer Muslim stellt die Frage, ob der Fehler in dem tausendvierhundert Jahre alten Konstrukt des Islams liegen könnte. Kaum ein Muslim traut sich, die Elemente des Korans und des Hadith (die überlieferten Worte und Taten des Propheten), die Gewalt legitimieren, anzufechten oder in Frage zu stellen. Damit leben die moderaten Muslime in einer friedlichen Scheinwelt , während in einer Parallelwelt die Gewalt legitimierenden Elemente der eigenen Religion weiterhin bestehen bleiben, ihre Legitimation nie richtig verloren haben und wie eine Zeitbombe fungieren, die zur Explosion kommt, sobald das ökonomische und soziale Gefüge bei einem Muslim oder in einer islamisch geprägten Gesellschaft auseinanderbricht.

Auch wenn es sich manche sehr wünschen: Die Globalisierung und Verschmelzung der Kulturen der Welt sind Prozesse, die unumkehrbar und auch nicht mehr aufzuhalten sind. Dementsprechend gehört der Islam zwangsläufig zu Europa und Europa muss sich mit dieser Tatsache abfinden und sich mit dem Islam arrangieren. Wenn die Muslime es nicht aus eigener Kraft schaffen, islamische Reformen in Gang zu setzen, müssen die Europäer helfen.

In seinem neuen Roman mit dem Namen "Unterwerfung" zeichnet Houllebecq ein Bild von Frankreich, das im Jahre 2022 von einem muslimischen Präsidenten Namens Mohammed Ben Abbes regiert wird. Sollte sich bis dahin ein reformierter Islam in Frankreich und Europa durchgesetzt und verbreitet haben, wäre ein solches "Horrorszenario" völlig in Ordnung. Bis vor etwa einem Jahrzehnt war ein schwarzer amerikanischer Präsident unvorstellbar gewesen. Heute ist das mit Barak Obama Realität.

Yassin Nasri stammt aus Damaskus, hat in Deutschland Architektur studiert und hier auch lange Jahre gelebt. Neben seinen schriftstellerischen Aktivitäten ist Yassin Nasri auch als internationaler Business Development Consultant tätig. Beim VAT Verlag Mainz ist 2011 sein autobiographisch gefärbter Roman "Ich will kein Flachdach sein" über Deutschland und das Paradox der Integration erschienen. 2015 erschien im Verlag epubli sein politischer Roman "Der Golan-Marathon".

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