Nie wieder Krieg (ohne uns)!

"Kosovo-Krieg": Wie die Erinnerung an den Holocaust als Rechtfertigung für die Remilitarisierung der deutschen Außenpolitik missbraucht wurde

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Mit der Beteiligung am NATO-Angriff auf Serbien 1999 vollzog Deutschland die Wende: Deutschland führt nicht mehr trotz, sondern gerade wegen seiner Vergangenheit Krieg.

Deutschlands Beteiligung am "Kosovo-Krieg" 1999: Eingreifen für die Menschenrechte?

Vom 24. März 1999 an bombardierte die NATO 78 Tage lang Jugoslawien, bis es im Juni die Stationierung westlicher Soldaten in seiner Krisenprovinz Kosovo akzeptierte. Deutschland hatte sich am Angriff beteiligt - doch wozu? Wieso griff der westliche Militärpakt, damals noch als Verteidigungsbündnis definiert, an, ohne zuvor selbst attackiert worden zu sein?

Begründet wurde es damit, den Albanern im Kosovo gegen die Unterdrückung durch Serbien zu helfen. Weil aber keine Ermächtigung durch den UN-Sicherheitsrat vorlag, argumentierte man damit, einen drohenden Völkermord zu verhindern. Von einem "neuen Auschwitz" (Joschka Fischer) konnte allerdings keine Rede sein. UNO-Generalsekretär Kofi Annan etwa stellte fest, dass Serben und Albaner gleichermaßen die Verantwortung für den jahrelangen politischen Konflikt, der ab 1998 zum Bürgerkrieg eskaliert war, trügen. Er rief zu einer politischen Lösung auf. Dies wurde aber vom westlichen Militärbündnis ignoriert und stattdessen die Schuld dem "neuen Hitler" Slobodan Milošević zugeschrieben.

Nach der Bombardierung von Novi Sad. Bild: Darko Dozet/CC-BY-SA-3.0

Die Luftangriffe verhinderten indes nicht, dass Hunderttausende flohen oder vertrieben wurden. Dennoch beschloss die NATO im April 1999 anlässlich ihres 50. Geburtstags, zukünftig weltweit zugunsten von unterdrückten Völkern einzugreifen. Was die einen als Schritt zur globalen Friedenssicherung begrüßten, kritisierten andere als Verwandlung eines Verteidigungs- in ein Angriffsbündnis und somit als Schritt Richtung neuer Angriffskriege. Deutschland, das seinen ersten Angriffskrieg seit 1945 geführt hatte, begrub mit den Bomben auf Belgrad das Motto "Nie wieder Krieg" und ersetzte es durch ein neues: "Nie wieder Auschwitz".

Der Weg in den Krieg

Vor der Matrix westlicher Berichterstattung des "Bosnien-Krieges", die großteils in serbische Aggressoren und bosnisch-muslimische Opfer unterteilt hatte1, wurde in der Bundesrepublik, aber auch in anderen westlichen Staaten, der seit Anfang 1998 eskalierende Konflikt zwischen der UÇK und serbischen Antiterroreinheiten im Kosovo zunehmend als Fortsetzung serbischer Vertreibungspolitik interpretiert.2

Dass sowohl die UNO als auch die vor Ort vermittelnde OSZE diese Wahrnehmung nicht teilten, verkam beim Gros der Massenmedien zur Randnotiz. Fakten wurden ignoriert und stattdessen moralisch argumentiert, indem der ebenfalls aus dem "Bosnien-Krieg" stammende Vergleich Serben = Nazis3 vehement kolportiert wurde. Die Regierungen der NATO-Staaten zeigten sich bemüht, der "humanitären Katastrophe" Einhalt zu gebieten, weshalb man die Konfliktparteien im Februar 1999 nach Rambouillet bei Paris lud. Dort wurde schließlich ein mehrseitiges, zuvor nicht verhandeltes Zusatzprotokoll zur Ratifizierung vorgelegt, welches dem Transatlantischen Bündnis u.a. erlaubt hätte, sich in ganz Jugoslawien frei zu bewegen. Serbien verweigerte daraufhin, selbst für Interventionsbefürworter wenig überraschend4, die Unterschrift. Der Öffentlichkeit blieb dieser Hintergrund jedoch bis nach Kriegsbeginn vorenthalten.

Bereits Mitte Januar 1999 hatte der Leiter der Kosovo Verification Mission der OSZE, der US-Diplomat William Walker, durch die Interpretation des Todes von 45 Albanern in Racak als serbisches Massaker für eine Verschärfung der Situation gesorgt.5

Als zwei Monate später der Luftkrieg begann, überschlugen sich mit den militärischen Ereignissen auch die verbalen Salven. Deutsche Politiker wie Joschka Fischer oder Gerhard Schröder, die in Fortsetzung der Balkanpolitik von CDU-FDP eine militärische Intervention gegen Belgrad gefordert hatten, bedienten sich dabei besonders einer "Holocaust-Rhetorik". Für ihren ersten Krieg seit 1945 musste die Bundesrepublik nämlich propagandistisch das moralisch stärkste Argument aufbieten, das möglich war: die Berufung auf Verhinderung eines "neuen Auschwitz". Kritiker befürchteten, dass damit eine Relativierung der NS-Verbrechen und Verdrängung der deutschen Geschichte einhergehen könnte.

Die Warnung des grünen Oppositionspolitikers Joseph Fischer 1994, die Kohl-Regierung würde Deutschland "an der humanitären Nase in den "Bosnien-Krieg" führen, war durch ihn als Außenminister Makulatur geworden. Unter den von NATO-Sprecher Jamie Shea für die Formierung der öffentlichen Meinung hoch gelobten deutschen Politikern Schröder, Fischer und Scharping6 stach besonders letzterer hervor, der u.a. von einem "serbischen KZ"7 und dem "Blick in die Fratze der deutschen Vergangenheit"8 sprach.

Und während Shoa-Überlebende für die Publikation ihrer Kritik an den Auschwitz-Vergleichen Fischers und Scharpings bezahlen mussten9, wetteiferten letztere öffentlich um den bizarrsten Holocaust-Bezug - und erhielten moralische Unterstützung durch Günter Grass, der seine Bewunderung über das politische Agieren Fischers und Scharpings verkündete.10 Als schließlich auch noch Daniel J. Goldhagen, Autor von "Hitlers willing executioners", in der Süddeutschen Zeitung zur Besetzung und Umerziehung Serbiens nach dem Beispiel Westdeutschlands ab 1945 aufrief11, war die moralische Kriegsrechtfertigung gelungen.

Die Kriegsbefürworter setzen sich durch - Deutschland darf wieder Krieg führen

Wie Goldhagen argumentierten zahlreiche Intellektuelle für einen Krieg, der zwar meist mit Bauchschmerzen, nichtsdestotrotz aber in aller Deutlichkeit als vermeintlich einzige Lösung akzeptiert wurde. Mit Ausnahme der taz waren dabei die Interventionsbefürworter in den großen deutschen Printmedien überrepräsentiert, während dezidierte Kriegsgegner in überregionalen Blättern teilweise gar nicht zu Wort kamen oder als Nazi-Revisionisten und "Verschwörungstheoretiker und Serbenfreunde"12 diffamiert wurden.13

Mit der gelungenen Rechtfertigungsstrategie des "Kosovo-Krieges" und der erfolgten Umwandlung der NATO vom Verteidigungs- zum Interventionsbündnis waren schließlich die Weichen für das 21. Jahrhundert gestellt: Out-of-Area-Einsätze der NATO werden ebenso wie der Einsatz der Bundeswehr außerhalb der Grenzen Deutschlands seit 1999 öffentlich nicht mehr ernsthaft in Frage gestellt.

"Wenn wir die öffentliche Meinung in Deutschland verloren hätten, dann hätten wir sie im ganzen Bündnis verloren." (NATO-Pressesprecher Jamie Shea)

Für die NATO war die bundesdeutsche Öffentlichkeit richtungsweisend, da das Land als Beleg für die "richtigen" Geschichtslehren galt. Dazu wurde suggeriert, die Alliierten hätten im Zweiten Weltkrieg gegen Hitler-Deutschland zur Verhinderung der Shoa und nicht aus Eigeninteressen gekämpft. Dabei waren nicht einmal die Zufahrtsgleise zu Auschwitz bombardiert worden14, obwohl die Alliierten wiederholt von jüdischen Organisationen dazu aufgefordert worden waren und ab 1944 neben ausreichenden Kenntnissen über das Todeslager - "By July 1944 the Allies knew both the location and purpose of Auschwitz, including the way in which Jews, deported to the camp from all over Europe, were killed by gassing."15 (Martin Gilbert) - auch konkrete Handlungsmöglichkeiten besaßen.

Während in England Churchills Pläne, die Zufahrtswege zum Vernichtungslager zu bombardieren, mit der Begründung, man wolle das Leben britischer Piloten nicht gefährden, durchkreuzt wurden, flogen im selben Jahr 1944 alliierte Freiwillige über dem Gebiet von Auschwitz Unterstützung für den polnischen Widerstand. US-Bomber überquerten das KZ zwischen August und September 1944 regelmäßig, wobei es wiederholt aus der Luft fotografiert und sogar versehentlich mit vereinzelten Bombenabwürfen belegt wurde.16

Historisch bedingte Schuldgefühle oder ökonomisch-militärisches Kalkül?

Spielte also beim Versuch, im Kosovo "ein neues Auschwitz zu verhindern", gerade das Schuldgefühl, gegen Hitlers Ausrottungspolitik versagt zu haben, eine Rolle? Oder manifestierten sich dahinter vor allem politische und ökonomische Interessen, die durch den vorgeblich moralisch motivierten Impetus kaschiert werden sollten?

Die postume Reduzierung der verschiedenen Motivationen und Interessen der Anti-Hitler-Koalition auf den Kampf gegen Faschismus und Völkermord gehörte 1999 jedenfalls so zur Legitimationsstrategie der NATO wie die bedingungslose Stilisierung der Alliierten des Zweiten Weltkriegs zu den "Guten", da ja die damaligen "Bösen" leicht zu identifizieren waren. Die Wahrnehmung des kosovarischen Bürgerkriegs in den Parametern der NS-Verbrechen sowie die Gleichsetzung der Anti-Hitler-Koalition mit den Alliierten von 1999 verunmöglichte es, kritische Fragen zu stellen, ohne moralisch diskreditiert zu werden.

Der Bezug zur Shoa diente der Legitimation des Angriffs ebenso wie der Verschleierung der dahinter liegenden Interessen. Sich mangels Fakten auf die Definitionsmacht der Moral zu stützen, erhöht die Gefahr militärischer Willkür, denn:

Wer die Definitionshoheit über die menschlichen Feinde der Menschheit hat, kontrolliert den Zustimmungsbedarf für militärischen Humanismus.

Walter van Rossum

Bürgerkrieg statt Holocaust im Kosovo

Historisch ist die Unterscheidung zwischen Massakern in Krisen- und Kriegsgebieten einerseits und dem deutschen Völkermord andererseits relativ leicht zu ziehen. Warum also konnten sich Gegner der NATO-Eskalationspolitik 1999 nicht argumentativ durchsetzen? Die Erklärung liegt darin, dass die Befürworter militärischen Eingreifens sehr früh einen taktischen Sieg davontrugen: Es gelang ihnen nämlich, die Kosovo-Frage von der Ebene der Fakten auf jene der Ideologie zu verlagern, und die allermeisten Kriegsgegner folgten ihnen dorthin, ohne sich der argumentativen Falle bewusst zu werden, in die sie geraten waren.

Auf der Ebene der Fakten gab es nämlich zahlreiche bedeutende Unterschiede zwischen dem NS-Genozid und Serbiens Kosovo-Politik. So töteten die albanischen Terroristen oder, je nach Blickwinkel, Freiheitskämpfer der UÇK Serben und staatsloyale Albaner (bis 1998 ermordete die UÇK mehr Albaner als Serben), um ihr Ziel, die Loslösung des Kosovo von Belgrad, mit Gewalt zu erreichen. Darauf reagierten die serbisch/jugoslawischen Antiterroreinheiten mit übertriebener Härte und eskalierten so ihrerseits wiederum den Bürgerkrieg. Und während ab Mitte Oktober 1998 unter OSZE-Vermittlung die serbische Gewalt massiv zurückging, steigerte die UÇK ihren Terror mit dem erklärten Ziel, die serbischen Einheiten zu Reaktionen zu provozieren und somit der NATO einen Vorwand zu liefern, in den Konflikt einzugreifen.

Dies gelang schließlich mit dem umstrittenen Massaker von Raçak Mitte Januar 1999 sowie dem darauf folgenden "Diktat"17 von Rambouillet (Wolfgang Petritsch) und der massenmedialen Inszenierung Slobodan Miloševićs als neuen Hitler. Dabei schaffte es die NATO (ähnlich wie 2011 mit der Inszenierung Gaddafis als blutrünstigem Diktator) auf ideologischer Ebene, die Kosovo-Frage auf eine der Menschenrechte und der Dualität "Eingreifen oder Zuschauen" zu reduzieren. Und angesichts der scheinbaren Alternativlosigkeit ließen sich viele vor dem Hintergrund der realen, massiven Menschenrechtsverletzungen (die es auf allen Seiten, auf albanischer wie serbischer wie jener der ethnischen Minderheiten gab) von der Idee, "einen neuen Holocaust zu verhindern" und Krieg durch Krieg zu beenden, verführen.

Kriegsgegner: Gefangen in der "Auschwitzfalle"

Durch die ideologische Argumentation bewegten sich Pazifisten, Sozialisten und Linksliberale in eine "Auschwitzfalle"18, in der sie schließlich feststeckten. Sie mussten sich der moralischen Überlegenheit jener, die sich auf die Shoa beriefen, beugen. Dies deshalb, weil in einer "faktenresistenten" und ideologisch argumentierenden Gesellschaft immer derjenige Recht hat, der sich argumentativ zuerst auf "Auschwitz" beruft.

Durch monatelange mediale Reduktion des Kosovo-Konflikts auf Unterdrücker und Unterdrückte überzeugt davon, dass Serbien sein Territorium von den Kosovo-Albanern "säubern" wollte, und angereichert durch Berichte über angebliche und tatsächliche Massaker verloren auch zahlreiche NATO-Kritiker den Blick für die Fakten. Nur wenige forderten wie der pazifistische Politologe Theodor Ebert die Rückkehr zur Analyse.19 Das Hauptproblem der Kriegsgegner war, dass sie ohne Faktenbezug nur noch ihre edle Gesinnung ins Feld führen konnten. Wenn aber die Alternative Verhinderung eines Völkermords heißt, sind pazifistische Motive (Krieg ist immer abzulehnen), sozialistische (der imperialistische Krieg ist abzulehnen) oder linksliberale (Krieg ohne UN-Mandat ist abzulehnen) Positionen argumentativ unterlegen.

Wer den Krieg gegen Hitler begrüßt, muss auch den aktuellen Krieg befürworten

Ohne Fakten, auf der Ebene der Ideologie, hatten die Interventionsgegner dem stichhaltigsten Argument der Befürworter, dass man nämlich mit dieser Gesinnung nie Krieg gegen Hitler-Deutschland hätte führen können, nichts mehr entgegenzusetzen.

Das Scheitern einer Politik des Entgegenkommens als Argument für militärische Eskalation oder gar Präventivkrieg zu verwenden, ist nicht neu und war u.a. schon im Falkland-Krieg 1982 und vor dem Angriff auf den Irak 1991 von Bellizisten als abschreckendes Beispiel propagiert worden. 2003 mit der Invasion des Iraks sowie 2011 mit der Einmischung in den libyschen Bürgerkrieg sollte es erneut zur Anwendung kommen. In den ersten Monaten 2012 kursierte dieses Argument zudem massiv in Bezug auf einen möglichen US-amerikanisch-israelischen Angriffskrieg gegen den Iran. Dass jede militärische Eskalation eines Bürgerkriegs die Anzahl der Toten massiv erhöht (im Fall Kosovo hat sie sich durch das NATO-Eingreifen mehr als verzehnfacht20), wird dabei unterschlagen.

Kosovo war nicht Bosnien oder: Warum die NATO den "Kosovo-Krieg" führte

Die Beteiligung der Bundeswehr am NATO-Krieg gegen Serbien mit der Bündnispflicht zu erklären, hieße, den politischen Willen der bundesdeutschen Eliten auszublenden, am Krieg als vollwertiger Verbündeter teilzunehmen. Gerhard Schröder und Joschka Fischer erkannten frühzeitig, dass das Mitmachen am als humanitäre Intervention verschleierten Krieg die lang ersehnte Rückkehr zur "Normalität" von militärischer Gewalt als Mittel der Außenpolitik bedeuten würde. Und gerade weil insbesondere die Grünen als Oppositionspartei eine solche Remilitarisierung stets abgelehnt hatten, wirkten sie nun umso unverdächtiger darin, Deutschland wieder in den Kreis der Krieg führenden Nationen zurückgeleiten. Es sollte ja kein Krieg sein, sondern im Gegenteil die Verhinderung von Schlimmerem, von Völkermord. Und die deutsche Geschichte sollte nachgerade den Beweis dafür liefern, dass eine geläuterte Nation nicht nur wieder Krieg führen darf, sondern sogar muss.

Zugleich wurde wiederholt darauf hingewiesen, dass Deutschland ja schon an der Beendigung des Bosnien-Kriegs durch die NATO teilgenommen habe, wenngleich damals in Form unbewaffneter Flüge. Dabei ist dieses Argument für die Kosovo-Intervention nicht haltbar, denn während in Bosnien die Zustimmung des UN-Sicherheitsrates vorlag, fehlte diese später. Aber auch abseits der rechtlichen Unterschiede gab es beträchtliche Differenzen: Im Kosovo provozierte eine von BND und USA ursprünglich als Terroristen bezeichnete Gruppe21 ein bewaffnetes Eingreifen der Staatsmacht, während in Bosnien drei Bürgerkriegsparteien gegeneinander kämpften.

Kosovo hätte, das zeigen die Erfolge der keineswegs wie vorgesehen unterstützten OSZE-Mission KVM22, durchaus befriedet werden können, ohne dass ganz Jugoslawien mit einem - ein weiterer Unterschied zu Bosnien - Massenbombardement über mehrere Monate hätte belegt werden müssen.

Doch 1999 standen handfestere Interessen im Raum: Der Ausbau der NATO als maßgebliches Mittel der US-amerikanischen Europapolitik, die militärische Emanzipation Deutschlands und nicht zuletzt die Umwandlung der NATO von Verteidigung zu Out-of-Area-Einsätze.23 Der Schutz der Albaner war Nebensache. Ziele des Militärpakts waren: 1. zu zeigen, dass er nach dem Ende des Kalten Krieges noch eine Aufgabe hatte, 2. sich vom Defensiv- zum Interventionsbündnis zu wandeln und 3. der Profit einzelner Mitglieder.

Deutschland z.B., das erstmals seit 1945 Krieg führte, gewann außenpolitischen Handlungsspielraum. Den größten Erfolg verbuchten die USA. Ihnen gelang es, ein Exempel zu statuieren: die Lösung der NATO aus dem Veto-Bereich des UN-Sicherheitsrates. Für den "Weltfrieden" sollte zukünftig nicht mehr ausschließlich die UNO zuständig sein. So wurde der "Kosovo-Krieg" zum Türöffner für weltweites militärisches Eingreifen der westlichen Staatengemeinschaft, die ihre ökonomischen, strategischen und geopolitischen Interessen nun unter dem Mantel humanitärer Hilfe wahrnimmt.

Im Kern geht es der NATO, geht es den USA, aber auch Deutschland nicht um die Durchsetzung und Wahrung der Menschenrechte, sondern um neokolonialistische und neoimperialistische Machtpolitik. Nicht Menschenleben, sondern Märkte, nicht humanitäre Hilfe, sondern Truppenstationierung und Ressourcenkampf sind der Motor der neuen Kriege. Kosovo stand dabei am Anfang. Die argumentativ erfolgreiche Bezugnahme zum Holocaust ebnete damit den Weg zu weiteren Kriegen (Afghanistan 2001, Irak 2003, Libyen 2011, Ukraine 2014).

Dr. Kurt Gritsch, Zeithistoriker und Konfliktforscher. Zahlreiche Veröffentlichungen in Fachzeitschriften und Magazinen zum Kosovo-Krieg, zur Medien- und Rezeptionsgeschichte, zu den arabischen Revolutionen sowie zur Diskussion über Peter Handke und Jugoslawien (Vgl. Kurt Gritsch, Inszenierung eines gerechten Krieges? Intellektuelle, Medien und der "Kosovo-Krieg" 1999, Olms-Verlag, Hildesheim 2010.