Der Journalismus muss sich der Diskussion um Objektivität stellen

Kommunikationswissenschaftlerin Cornelia Mothes über den Kampf um die Deutungshoheit und ihre Studie zur Objektivität in den Medien

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Was hat es mit der Objektivität von Journalisten auf sich? Wie objektiv sind Journalisten im Gegensatz zu Nicht-Journalisten, wenn es um die Einordnung von zentralen politischen Themen geht? Die Kommunikationswissenschaftlerin Cornelia Mothes hat sich des Themas angenommen und ist in einer interessanten Studie den Fragen nachgegangen. Eines ihrer Ergebnisse lautet, dass auch Journalisten dann, wenn Objektivität gefragt ist, ihre individuellen Eigeninteressen nicht unterbinden können, "da die Auslegung der Objektivitätsnorm scheinbar selbst von persönlichen Interessen der Journalisten abhängig ist".

Im Telepolis-Interview beschreibt Mothes, die zur Zeit an der Ohio State School of Communication forscht, wie sie für ihre Studie vorgegangen ist und welche weiteren Ergebnisse sie zu Tage gefördert hat. Mothes macht außerdem darauf aufmerksam, wie wichtig journalistische Selbstreflexion und Selbstkritik in einer Zeit ist, in der, so Mothes, "vermehrt Unsicherheit darüber besteht, was Journalisten eigentlich ausmacht und welche Qualitätsmerkmale sie auszeichnen" Gerade dann sei es von Bedeutung, sichtbare Verbindlichkeiten zu schaffen.

Frau Mothes, Sie haben sich bei Ihrer Forschung als Kommunikationswissenschaftlerin mit dem Thema Objektivität im Journalismus auseinandergesetzt. Was war denn der Ausgangspunkt ihrer Arbeit?

Cornelia Mothes: Der Ausgangspunkt meiner Arbeit war die Frage, wie sich professionelle Journalisten in Deutschland heute von Nicht-Journalisten abheben, wenn es um die Qualität der Informationen geht, die sie veröffentlichen.

Warum interessiert Sie gerade das?

Cornelia Mothes: Den Hintergrund zu dieser Frage liefert der stetige Anstieg an Informations- und Kommunikationsangeboten, der vor allem durch die starke Ausbreitung des Internets beflügelt wurde.

Sie meinen, dass im Internet selbst jeder, sagen wir mal: zu einer Ein-Mann-Zeitung werden kann, also selbst Informationen aufarbeiten und verbreiten kann?

Cornelia Mothes: Sagen wir es so: Mit dem Internet ist es heute theoretisch jedem möglich, sich aktiv am Sammeln, Bearbeiten und Verbreiten von Nachrichten zu beteiligen. Ich sage ausdrücklich "theoretisch", da die Realität stark davon abweicht, was potenziell möglich ist.

Wie meinen Sie das?

Cornelia Mothes: Eine Reihe von Studien der letzten Jahre hat gezeigt, dass insgesamt nur sehr wenige Bürger finanzielle Ressourcen, Zeit und Interesse haben, selbst kontinuierlich über das aktuelle Geschehen in Deutschland und der Welt zu berichten. Vielmehr wünschen sich die meisten Bürger weiterhin, dass Journalisten diese Aufgabe übernehmen.

Die meisten Bürger wollen "Gatekeeper", die Informationen für sie vorselektieren

Sie sagen, die meisten Bürger wünschen sich, dass Journalisten diese Aufgabe machen. Wie kommen Sie darauf?

Cornelia Mothes: Sowohl im deutschen als auch im amerikanischen Raum zeigen Befragungen, dass die publizistische Eigenbeteiligung von Bürgern überwiegend auf Themen aus dem Privatleben beschränkt bleibt. Wenn sich Bürger am öffentlichen Diskurs über gesellschaftspolitische Themen beteiligen, so ist dies meist kein kontinuierlicher, sondern ein zyklischer Prozess. Die Beteiligung steigt vor allem in politischen Hochphasen an, etwa vor Wahlen, geht aber in politischen Routinezeiten auf ein Minimum zurück.

Zu viele aktive Partizipationsmöglichkeiten scheinen Bürger sogar eher zu überfordern, als dass sie zwingend einen Mehrwert darstellen. Nur wenige Nutzer haben zum Beispiel das Bedürfnis, von Medien am Rechercheprozess beteiligt zu werden. Vielmehr wünschen sich die meisten Bürger, dass es weiterhin "Gatekeeper" gibt, die Informationen für sie vorselektieren, deren Wahrheitsgehalt prüfen und sie in einen größeren Zusammenhang stellen.

Christoph Neuberger, ein Kollege von der Ludwig-Maximilians-Universität München, hat in einer 2012 veröffentlichten Studie zeigen können, dass sich die deutsche Bevölkerung diese Leistung von Berufsjournalisten wünscht. Zwei Drittel der Internetnutzer dieser Studie waren der Meinung, dass nur Berufsjournalisten über die notwendigen Kompetenzen verfügen, komplexe gesellschaftliche Themen angemessen aufzubereiten. Nur etwa ein Drittel der Befragten glaubte, dass Amateure in der Lage seien, diese Leistungen des Journalismus zu übernehmen. Und nur einer von zehn deutschen Internetnutzern nahm an, dass Weblogs und Social Media Angebote den professionellen Journalismus ersetzen können.

Selbst aktive Blogger agieren ja nicht losgelöst von journalistischen Medien. Ganz im Gegenteil sind sie - zumindest in politischen Routinephasen - oft auf journalistische Berichterstattung angewiesen. Medienberichte bilden häufig erst die Grundlage für den weiteren gesellschaftlichen Austausch im Internet. Sogar Gegenöffentlichkeiten im Internet erregen oft erst dann gesellschaftliche Aufmerksamkeit, wenn sie von journalistischen Medien als Thema aufgegriffen werden.

Eine der Kernaufgaben von Journalisten ist es, das Zeitgeschehen im journalistischen Sinne für die Rezipienten aufzuarbeiten. Immer wieder ist davon die Rede, dass professionelle Journalisten Orientierung im Informationsdschungel bieten sollen.

Cornelia Mothes: Ja, durch die wachsende Informationsflut scheint es heute sogar wichtiger denn je, dass Journalisten Orientierung bieten, indem sie eine verlässliche Auswahl an wichtigen Informationen vornehmen und diese Informationen einzuordnen helfen. Mit dieser Kernfunktion des Journalismus ist ein bestimmter Qualitätsstandard ganz besonders verbunden, nämlich die Objektivitätsnorm.

Objektivität im Journalismus

Und hier kommt Ihre Arbeit ins Spiel. Was verstehen Sie unter Objektivität im Journalismus?

Cornelia Mothes: Im Allgemeinen meint Objektivität im Journalismus, dass Journalisten versuchen, das gesellschaftliche Geschehen möglichst unbeeinflusst von Eigeninteressen darzustellen, also zum Beispiel verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen Ansichten zu Wort kommen zu lassen oder Fakten deutlich von der eigenen Meinung zu trennen. Eine solche unverzerrte Zusammenstellung von Nachrichteninhalten soll es ermöglichen, dass sich jeder Bürger eine eigenständige, unabhängige Meinung bilden kann. Die Objektivitätsnorm ist aber nicht nur eine der wichtigsten, sondern gleichzeitig auch eine der umstrittensten Normen im Journalismus.

Warum?

Cornelia Mothes: Vor allem deshalb, weil sowohl von Wissenschaftlern als auch von Journalisten immer wieder angezweifelt wurde, inwiefern Objektivität überhaupt möglich ist.

Was durchaus verständlich ist.

Cornelia Mothes: Ja, schon. Und daher schlagen aktuellere Konzepte immer häufiger vor, Objektivität als einen Prozess zu verstehen und nicht nur am Endprodukt festzumachen. Auch ich habe in meiner Arbeit einen solchen Prozess der Objektivität zugrunde gelegt, der aus drei Komponenten besteht: einer inhaltlichen, einer beruflichen und einer gesellschaftlichen Komponente. Alle drei Komponenten sind wichtige Maßstäbe für die Professionalität von Journalisten im Umgang mit Informationen.

Auf der inhaltlichen Ebene ging es in meiner Studie konkret um die Frage, inwiefern sich Journalisten im Umgang mit Informationen tatsächlich auf ihre Objektivitätsnorm verpflichten, also Informationen unabhängig von persönlichen Ansichten nach rein professionellen Kriterien beurteilen. Auf der beruflichen Ebene ging es darum herauszufinden, inwiefern Journalisten dabei stärker in dem Bewusstsein handeln, objektiv sein zu müssen, als Personen, die nicht dem journalistischen Beruf angehören. Auf der gesellschaftlichen Ebene letztlich untersuchte die Studie, ob Journalisten die Verantwortung dafür übernehmen, wenn sie entgegen ihrer Objektivitätsnorm gehandelt haben, also zum Beispiel Informationen verzerrt ausgewählt haben.

Um diese Fragen zu beantworten, habe ich ein Online-Experiment mit 447 deutschen Journalisten und 507 deutschen Bürgern ohne journalistischen Hintergrund durchgeführt, das sich mit der Laufzeitverlängerung deutscher Kernkraftwerke befasste. Die Studie fand im Sommer 2010 statt, also kurz vor der Entscheidung der Bundesregierung über die Laufzeitverlängerung, und legte damit ein hoch kontroverses Thema zugrunde, bei dem sich zwei Lager (Kernkraftbefürworter und Kernkraftgegner) gegenüberstehen.

Was können Sie uns zur inhaltlichen Ebene noch sagen?

Cornelia Mothes: Auf der inhaltlichen Ebene wollte die Studie herausfinden, ob Journalisten - im Vergleich zu Nicht-Journalisten - die Objektivitätsnorm als einen verpflichtenden Standard wahrnehmen. Besonders deutlich kommt dies wohl dann zum Ausdruck, wenn Journalisten mit Ansichten konfrontiert werden, die sie selbst nicht teilen.

Und wie sind Sie nun in Ihrer Studie vorgegangen?

Cornelia Mothes: Ich habe den Teilnehmern der Studie ein Experten-Statement vorgelegt, das sich entweder für oder gegen die Laufzeitverlängerung deutscher Kernkraftwerke aussprach und damit entweder mit der individuellen Meinung der Journalisten übereinstimmte oder ihr widersprach. Nachdem die Studienteilnehmer das Statement gelesen hatten, wurden sie gebeten, dieses Statement nach verschiedenen Kriterien einzuschätzen. Zwei dieser Kriterien waren unmittelbar mit der professionellen Objektivitätsnorm im deutschen Journalismus verknüpft: Wie frühere Studien zeigten, sehen deutsche Journalisten Objektivität vor allem dann gegeben, wenn sich Nachrichten auf Fakten berufen und in erster Linie neutral informieren statt subjektiv Position zu beziehen. Damit scheinen Nachrichten aus Journalistensicht also besonders dann als objektiv gelten zu können, wenn sie faktenreich und informativ sind.

In meiner Studie sollten die teilnehmenden Journalisten die Experten-Statements deshalb danach einschätzen, wie "faktenreich" und "informativ" sie sind. Sofern Journalisten ihrem Objektivitätsstandard verpflichtet sind, dürfte es keinen Unterschied machen, ob sie ein Statement lasen, das ihrer Meinung entsprach oder widersprach. Die Ergebnisse der Studie zeigen allerdings, dass Journalisten ein einstellungs-konformes Experten-Statement als deutlich faktenreicher und informativer bewerteten als ein Experten-Statement, das ihrer Meinung entgegenstand.

Bitte mal konkret: Das heißt nun was?

Cornelia Mothes: Die Befunde legen nahe, dass die Objektivitätsnorm im deutschen Journalismus den Einfluss individueller Eigeninteressen derzeit eher nicht unterbinden kann, da die Auslegung der Objektivitätsnorm scheinbar selbst von persönlichen Interessen der Journalisten abhängig ist. Einschränkend sei allerdings bemerkt, dass nicht jedes gesellschaftliche Thema von so hoher Brisanz und Polarität geprägt ist, wie das Thema Kernenergie.

Ein sehr interessantes, aber doch auch ein vorauszusehendes Ergebnis, oder? Müsste eine Forschungsfrage nicht auch lauten, inwieweit Journalisten überhaupt in der Lage sind, die von Ihnen erwartete Objektivität zu erfüllen? Oder anders gefragt: Verfügen Journalisten überhaupt über die Instrumente, die notwendige Objektivität, die gerade dann besonders gefragt ist, wenn Sie Themen aufarbeiten, zu denen Sie eine klar positionierte Meinung haben, anzuwenden. Um eine wissenssoziologische Perspektive mit reinzudrehen: Wir Journalisten sind keine unbeschriebenen Blätter. Wie alle Menschen haben wir eine primäre und eine sekundäre Sozialisation erfahren. Es gibt eine schulische, eine universitäre, eine berufliche Sozialisation.

Um es abzukürzen: Wie alle anderen Menschen nehmen auch Journalisten die Welt durch eine bestimmte Brille wahr, wie es der französische Soziologe Pierre Bourdieu treffend festgestellt hat. Hinzu kommt: Im journalistischen Feld gibt es ein komplexes Wechselspiel zwischen den Einstellungen, Überzeugungen und Weltbildern, die Journalisten sozusagen in den Beruf mit reinbringen und eben dann den Einflüssen, die auf sie einwirken, wie z.B. die "ungeschriebenen Gesetze", die den Redaktionsmitgliedern, teilweise sehr subtil, aufzeigen, welches Thema bei einem bestimmten Medium "geht" und welches gar nicht "geht", welche Meinung der "Redaktionslinie" entspricht usw.

Nochmal anders gesagt: Um sich Objektivität zumindest anzunähern, müssen Journalisten das betreiben, was Bourdieu als die Objektivierung des objektivierenden Subjektes bezeichnet, d.h. sie müssen in der Lage sein, sich selbst zu objektivieren, sie müssen Kenntnis von den bewussten und unbewussten Einflussfaktoren erlangen, die ihre Wahrnehmung und ihr Denken prägen und leiten.

Von daher: Ist es nicht geradezu erwarten, dass Journalisten auch nur "Menschen" sind und sie in einem Fall, wo ihre eigene Meinung mit der Objektivitätsnorm kollidiert, zumindest tendenziell, auch wenn bei ihnen vielleicht das Objektivitätsgefühl besser ausgeprägt sein dürfte als bei einem Nichtjournalisten, genauso ihrer eigenen Weltsicht unterliegen, wie es auch bei vielen anderen Menschen der Fall ist?

Cornelia Mothes: Vollkommen richtig, weshalb am Objektivitätsbegriff bis heute auch immer wieder harsche Kritik geübt wird. Gerade aus konstruktivistischer Perspektive bleibt Realität immer an die Wahrnehmung des erkennenden Subjektes gebunden und lässt sich nicht unabhängig vom Subjekt erfassen. Dies schließt Journalisten natürlich mit ein. Die Frage ist aber: Was folgt daraus? Soll die Konsequenz lauten: Weil ein vollständiges "Ausschalten" der eigenen Subjektivität unmöglich ist, kann auch so etwas wie Objektivität keine journalistische Norm sein? Eine solche relativistische Perspektive würde schon allein den Versuch aufgeben, seine eigene Sicht auf die Welt für eine andere Sichtweise zu öffnen. Beide Betreuer meiner Doktorarbeit, Wolfgang Donsbach und Hans Mathias Kepplinger, haben sich schon in den 1980er und 1990er Jahren sehr intensiv mit genau dieser Frage beschäftigt und sie haben ihre Schlüsse daraus gezogen.

Objektivität muss fundamentale Norm im Journalismus bleiben

Welche denn?

Cornelia Mothes: Sie kommen zu dem Ergebnis, dass diese Schlussfolgerung wohl nicht gesellschaftlich wünschenswert wäre. Würde man der Objektivität als journalistischer Norm den Laufpass geben, würde man Journalisten - als zentrale Mitgestalter gesellschaftlicher Wirklichkeit - auch aus der Verpflichtung entbinden, zumindest den Willen aufzubringen, unabhängig von Eigeninteressen zu handeln. Ein solcher Relativismus immunisiert Journalisten nicht nur vor jeglicher Kontrolle und Kritik - ein Punkt, der heute immer wichtiger wird -, sondern würde auch der Identität des Journalismus nachhaltig schaden, die derzeit ebenfalls zur Disposition steht. Die Unterscheidung zwischen Journalismus und Werbung oder Propaganda wäre damit prinzipiell aufgehoben. Dies würde wiederum mit der öffentlichen Aufgabe der Medien kollidieren, wodurch letztlich die Legitimation des Journalismus im Ganzen infrage stehen würde.

Gerade aufgrund ihrer essentiellen Wichtigkeit für die journalistische Identität und Legitimation wird die Objektivität trotz massiver Kritik deshalb nach wie vor als fundamentale Norm im Journalismus angesehen, die gerade dann von besonderer Relevanz wird, wenn der Journalismus in eine Krise gerät. Diese Krise ist derzeit vor allem dadurch bestimmt, dass der Journalismus mit einer stetig steigenden Zahl an nicht-journalistischen Angeboten jedweder Art um die Aufmerksamkeit und das Zeitbudget von Mediennutzern kämpft. Meine Studie hat sich deshalb besonders mit der Sonderstellung des Journalismus gegenüber diesen nicht-journalistischen Akteuren auseinandergesetzt und dabei versucht, in Rechnung zu stellen, dass Objektivität nicht vollständig möglich ist, sondern als "Methode", als Prozess betrachtet werden muss.

Das oben angesprochene Ergebnis der Studie war vielleicht nicht überraschend, wenn man nur das Handeln der Journalisten betrachtet. Vergleicht man aber das Verhalten von Journalisten und Nicht-Journalisten, so fällt auf, dass Journalisten sogar eine stärkere Tendenz dazu hatten, einstellungs-konforme Inhalte als "informativer" und "faktenreicher" zu bewerten. Dies deutet darauf hin, dass Journalisten nicht in erster Linie Opfer ihrer Subjektivität sind, wie Sie es mit Ihrer Frage andeuten, sondern Informationen zugunsten ihrer Subjektivität instrumentalisieren können.

Das ist doch ein wichtiger Punkt. Wenn es so ist, wie Sie sagen, dass Journalisten nicht in erster Linie Opfer ihrer Subjektivität sind und Informationen zugunsten ihrer Subjektivität instrumentalisieren, dann wirft das doch die Frage auf, warum tun Sie es? Hier dürfte dann die "berufliche Ebene" ihrer Studie ins Spiel kommen, oder?

Cornelia Mothes: Genau. Diese berufliche Ebene schließt unmittelbar an das eben Gesagte an. Gerade von Bloggern wird geäußert, Journalisten handelten unter dem "Deckmantel" der Objektivität zugunsten von Eigeninteressen. Dies ist ein schwerer Vorwurf, der Intentionalität voraussetzt. Es handelt sich hier um eine Schlüsselfrage für den Beruf, da hieran die Glaubwürdigkeit des Journalismus geknüpft ist. Deshalb war es das Ziel der Studie, auf der beruflichen Ebene zu untersuchen, wie bewusst sich Journalisten im Vergleich zu Nicht-Journalisten ihren Einstellungseinflüssen - oder umgekehrt: ihrer Objektivitätsnorm - sind, wenn sie Informationen zusammenstellen.

Im zweiten Teil der Studie sollten die Studienteilnehmer daher aus einer Reihe von Informationen zum Thema Laufzeitverlängerung diejenigen auswählen, die sie verwenden würden, um das Thema für Personen zu beschreiben, die in diesem Bereich wenig Vorwissen haben. Die Hälfte der Teilnehmer wurde darauf aufmerksam gemacht, dass sie die Informationen möglichst unabhängig von ihrer eigenen Meinung auswählen sollen. Die andere Hälfte der Teilnehmer erhielt diesen Hinweis nicht. Im Ergebnis zeigte sich, dass Journalisten scheinbar ein tatsächlich höher ausgeprägtes Objektivitäts-Bewusstsein haben als Nicht-Journalisten, aber dennoch deutlich häufiger Informationen auswählten, die ihrer eigenen Meinung entsprachen.

Man kann aus diesem Befund zwei Schlussfolgerungen ableiten: Positiv ist, dass Journalisten die Notwendigkeit zur Objektivität scheinbar stärker reflektieren als Nicht-Journalisten. Sie besitzen damit durch ihre berufliche Sozialisation offensichtlich einen wichtigen Mehrwert gegenüber Nicht-Journalisten. Besorgniserregend ist allerdings, dass Journalisten sich trotzdem überwiegend für eine verzerrte Informationsauswahl entschieden haben, sich also vermutlich auch bewusst dagegen entscheiden (können), objektiv zu sein.

Journalistische Selbstreflexion und Selbstkritik haben einen eigenen journalistischen Wert der professionellen Verbindlichkeit

Bleibt die gesellschaftliche Ebene.

Cornelia Mothes: Gerade in jüngster Zeit wird vermehrt über die Notwendigkeit gesprochen, dass Journalisten mehr gesellschaftliche Verantwortung für ihre Nachrichtenentscheidungen übernehmen müssen. Der gegenwärtige Ruf nach stärkerer Verantwortungsbereitschaft im Journalismus folgt heute vor allem aus der zunehmend öffentlich werdenden Kritik am Journalismus, etwa über Watchblogs, und aus einem Vertrauensverlust in journalistische Akteure und Produkte. Aktuelle wissenschaftliche Konzepte sehen gerade auf dieser gesellschaftlichen Ebene noch ungenutzte Chancen für journalistische Professionalität.

Um das Verantwortungsgefühl im Journalismus etwas näher zu untersuchen, habe ich im dritten Teil der Studie diejenigen Journalisten besonders in den Blick genommen, die - entgegen ihrer Objektivitätsnorm - für die Darstellung des Themas Kernenergie vor allem Informationen verwendeten, die ihre eigene Sichtweise widerspiegelten. Im Vergleich zu Nicht-Journalisten zeigten Journalisten dabei eine höhere "Dissonanz". Das heißt, sie erkannten scheinbar in ihrem eigenen Verhalten einen Bruch mit der Objektivitätsnorm, den sie im Nachhinein als unangenehm empfanden. Eine solche Dissonanz zeigte sich nicht bei jenen Journalisten, die Informationen ausgewogen und damit unabhängig von ihrer eigenen Meinung ausgewählt haben.

Dieser Befund legt nahe, dass Journalisten gute Voraussetzungen dafür haben, Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen, weil sie Normbrüche im eigenen Handeln durchaus wahrnehmen. Gesellschaftliche Verantwortung verlangt aber nicht nur innere Einsicht, sondern immer häufiger auch öffentliche Bekenntnis. Zu dieser wiederum scheinen Journalisten noch nicht gänzlich bereit. Vielmehr folgt auf einen wahrgenommenen Normbruch ein ähnlicher Prozess, wie er sich in der Psychologie als "Dis-Identification" etabliert hat: Erhalten die Journalisten die Möglichkeit, sich von ihrer eigenen Handlung zu distanzieren, verschwindet die Dissonanz.

Kurioserweise war diese Distanzierung vom eigenen Handeln in der vorliegenden Studie am effektivsten, wenn Journalisten die Wichtigkeit der Objektivitätsnorm noch einmal bekräftigten. Anders ausgedrückt, scheint es Journalisten möglich zu sein, ihr eigenes Handeln als eine Art "Ausnahme" von der bestehenden Regel wahrzunehmen, was es erleichtern dürfte, auch die Verantwortung für diese "Ausnahme" von sich zu weisen.

Auf allen drei Ebenen scheint vor allem eines angebracht: Reflexion, oder, vielleicht besser: auch Selbstreflexion. Ist das richtig?

Cornelia Mothes: Aus meiner Sicht wäre dies richtig, denn journalistische Selbstreflexion und Selbstkritik haben einen eigenen journalistischen Wert und zwar einen Wert professioneller Verbindlichkeit: In einer Zeit, in der vermehrt Unsicherheit darüber besteht, was Journalisten eigentlich ausmacht und welche Qualitätsmerkmale sie auszeichnen, scheint es maßgeblich, sichtbare Verbindlichkeiten zu schaffen - gegenüber einem normativen Wertesystem, gegenüber dessen Umsetzung wie auch dessen Beschränkungen im täglichen Arbeitsumfeld.

Auch wenn die Frage, da sie sehr allgemein gestellt ist, vielleicht nicht einfach zu beantworten ist: Wenn Sie sich den Journalismus zu den großen politischen Themen dieser Zeit anschauen, würden sie sagen, dass hier ausreichend über die verschiedenen Ebenen, wo journalistische Objektivität gefragt ist, nachgedacht wird?

Cornelia Mothes: Ein normativ gefestigter, selbstreflexiver und gesellschaftlich verbindlicher Journalismus, ist - obwohl ihn sich die Bevölkerung scheinbar wünscht - paradoxerweise nicht immer gut mit den wirtschaftlichen Erwägungen von Medienunternehmen vereinbar. Wie andere Studien andeuten, ist es vor allem der steigende Aktualitätsdruck, der - gepaart mit Personaleinsparungen - für eine gründliche, unabhängige Recherche und eine reflektierte Nachbereitung nicht immer ausreichend Spielraum lässt.

Konkret mit Blick auf die Objektivitätsnorm kommt hinzu, dass Subjektivität und Einseitigkeit in der Berichterstattung durchaus auch einen wirtschaftlichen Wert haben kann. Dies sehen wir besonders deutlich im U.S.-amerikanischen Raum, vor allem bei den Cable News Programs, die sich im politischen Spektrum sehr klar rechts oder links einordnen lassen. Die Frage ist nur, wie wirtschaftlich nachhaltig eine solche Einseitigkeit ist (ganz abgesehen von den demokratiepraktischen Konsequenzen). Ich vermute, dass viele Medienunternehmen hier noch zu kurzfristig denken und den langfristigen Effekten ihrer Entscheidungen zu wenig Aufmerksamkeit schenken. Langfristig scheinen es gerade diese Aufweichungen professioneller Normen zu sein, die Informationsprodukte austauschbar erscheinen lassen und die Unsicherheit darüber erhöhen, wann es sich bei einem Inhalt um ein professionell-journalistisches Produkt handelt und wann um eine Pressemitteilung eines Unternehmens. Konsequenterweise dürfte es dadurch für Bürger auch immer schwerer nachvollziehbar sein, warum man für einen Medieninhalt überhaupt Geld bezahlen sollte.

Sie sprechen über die "ökonomische Dimension", die sicherlich einen gewaltigen Einfluss auf das journalistische Feld hat. Muss man das Verhalten von Medien nicht aber auch im Kontext von Herrschaft betrachten. Medien nehmen schließlich eine nicht unwichtige Rolle ein, wenn es um die Durchsetzung von Ideologien und politischen Interessen geht.

Cornelia Mothes: Definitiv. Die politische Dimension war in Deutschland lange Zeit sogar der dominante Einfluss auf den Journalismus. Heute spüren Journalisten aber deutlich mehr Druck von wirtschaftlicher als von politisch-ideologischer Seite. Dies mag allerdings auch daran liegen, dass beide durchaus zusammenfallen können, was das U.S.-amerikanische Beispiel zeigte. Es gibt Untersuchungen im amerikanischen Raum, die auch für den Printsektor belegen, dass politische Einseitigkeit der Berichterstattung oft mit dem Ziel der Leser-Blatt-Bindung zusätzlich erhöht wird.

Das Internet bietet der Kritik am Journalismus in erster Linie neue Möglichkeiten der Öffentlichkeit

Nochmal zur Objektivität: Was ist Ihrer Meinung nach dran an den Vorwürfen, dass die großen Medien ein Objektivitätsproblem haben?

Cornelia Mothes: Es ist meines Erachtens vor allem insofern etwas dran, als dass Objektivität ein normatives Merkmal darstellt, mit dem Journalismus besonders stark in Beziehung gebracht wird, an dem Bürger die Professionalität und Legitimation von Journalisten besonders stark messen. Insofern fallen Verletzungen dieser Norm auch stärker ins Gewicht. Gleichzeitig ist Objektivität eines der wenigen Merkmale, zu dessen Umsetzung Nicht-Journalisten nur begrenzt willens und/oder in der Lage sind. Während nicht-journalistische Akteure dem Journalismus auf anderen Qualitätsebenen durchaus gefährlich nahe kommen können, scheint der Objektivitätsstandard für Nicht-Journalisten als handlungsleitende Norm vergleichsweise unattraktiv und schwer umsetzbar. Gerade deshalb sollten derartige Vorwürfe auch nicht als Gefahr, sondern als Chance für den Journalismus betrachtet werden. Wie unsere Studie gezeigt hat, muss sich der Journalismus dabei aber wohl den Vorwurf gefallen lassen, dass er seinen zentralen Qualitätsstandard noch nicht ausreichend nutzt, um eben diese Angrenzung zum Nicht-Journalisten deutlich zu machen. Dabei haben wir Journalisten sogar schon bewusst aus ihrem wirtschaftlichen Medienumfeld herausgelöst betrachtet, um die journalistischen Potenziale zu objektiver Berichterstattung unabhängig von äußeren Zwängen einschätzbar zu machen.

Wie haben Sie die Auseinandersetzung zwischen Vertretern der großen Medien und Vertretern alternativer Formate, wie sie im Internet zu finden sind, wahrgenommen? Woher kommt diese massive Kritik am Journalismus?

Cornelia Mothes: Ich glaube, das Internet bietet der Kritik am Journalismus in erster Linie neue Möglichkeiten der Öffentlichkeit. Schon lange vor der Ausbreitung des Internets gab es kritische Stimmen zur Medienberichterstattung und alternative Formen des Journalismus, die medial vernachlässigte Themen und Standpunkte bearbeiteten. Die neue Qualität der Kritik am Journalismus ist ihre Sichtbarkeit. Die erhöhte Sichtbarkeit steigert natürlich auch ihre Relevanz und damit Brisanz. Die heutigen Diskussionen stellen die Deutungshoheit des professionellen Journalismus über gesellschaftliche Realität offensichtlicher infrage. Der Journalismus muss sich aus meiner Sicht diesen Diskussionen stellen und sie gerade nicht als Angriff auf seine Autonomie betrachten, sondern als wichtige Voraussetzung zur Aufrechterhaltung professioneller Identität.