Die neuen europäischen Überwachungsmaßnahmen

Grenzbesichtigung. Bild: EUBAM/CC BY 3.0

Nach den Anschlägen in Paris werden wie nach 9/11 weitreichende Grundrechtseingriffe durchgepeitscht. Sie bewegen sich vielfach in einer rechtlichen Grauzone

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Auf dem jüngsten Treffen der EU-Innenminister in Riga standen neue Überwachungsmaßnahmen in der Europäischen Union auf der Agenda. Nach den Anschlägen in Frankreich will die EU ihre Mitgliedstaaten unterstützen, gegen "ausländische Kämpfer" ("foreign fighters" bzw. "foreign terrorist fighters") vorzugehen. Viele der Maßnahmen sind seit einigen Jahren in der Pipeline. Nun sollen die 17 Toten in Paris jede Kritik an den Plänen zum Schweigen bringen.

"Ausländische Kämpfer" meint Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten, die nach Kämpfen in Syrien oder dem Irak bzw. einer entsprechenden Ausbildung im Jemen nach Europa zurückkehren und dort womöglich Anschläge begehen könnten. Im September stellte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen in der Resolution 2178 eine "akute und zunehmende Bedrohung, die von ausländischen terroristischen Kämpfern ausgeht" fest. Angemahnt wird, dass alle UN-Mitgliedstaaten fortan die Reisetätigkeiten Verdächtiger überwachen.

Auch der Europäische Rat und der Europäische Auswärtige Dienst hatten zuvor ähnliche Beschlüsse gefasst. Demnächst soll die neue "Strategie für die innere Sicherheit" verabschiedet werden, die ebenfalls etliche Forderungen zur Bekämpfung "ausländischer Kämpfer" enthält. Nach den Anschlägen in Paris gab die EU-Kommission ein Fact Sheet zu allen geplanten Maßnahmen heraus.

Zehn EU-Innenminister einigten sich in einer Sondersitzung auf eine Erklärung von Paris. Am Donnerstag verabschiedete die EU-Innenministerkonferenz schließlich die fast gleichlautende Erklärung von Riga.

Die nun im Eiltempo durchgedrückten Maßnahmen haben eine ähnliche Dimension wie die "Anti-Terror-Gesetze" nach dem 11. September 2001. Mittlerweile ist das ganze Ausmaß von Gesetzesänderungen, Datensammlungen und neuen Zusammenarbeitsformen sichtbar geworden. Die meisten bewegen sich in einer rechtlichen Grauzone:

  • Systematische Kontrollen von Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten an Außengrenzen: Diese sind laut dem Schengener Grenzkodex ausgeschlossen, zulässig ist lediglich "Mindestkontrolle" zur Feststellung der Identität sowie zur Überprüfung der Echtheit und Gültigkeit des Reisedokuments (Bundesregierung will mehr Kontrollen bei Einreisen aus "Risiko-Destinationen"). Ein Abgleich mit Fahndungsdateien darf nur stichprobenartig erfolgen. Um die Kontrollen systematisch durchführen zu können, müssen die Mitgliedstaaten aber Kriterien ("Risikoindikatoren") definieren. Dies ist nicht vor Ende März zu erwarten. Dennoch haben Deutschland und Österreich nach Medienberichten bereits (vermutlich an Flughäfen) damit begonnen. Man behilft sich dabei wohl eines Taschenspielertricks, indem lediglich Reisende aus der Türkei in einem bestimmtem Alter kontrolliert werden.
  • Neue Kategorie zu "ausländischen Kämpfern" im Schengener Informationssystem (SIS II): Damit sollen Verdächtige bei der Ein- oder Ausreise in die EU von Grenzbehörden erkannt und dann besonderen Maßnahmen unterzogen werden. Auch ein Reiseverbot nach einer Passentziehung würde dort gespeichert. Vor Einrichtung dieser Kategorie müsste aber der entsprechende EU-Ratsbeschluss zum SIS II und die nachfolgende Verordnung geändert werden.
  • Europäische Fluggastdatensammlung: Vor allem Deutschland treibt die Einrichtung einer Vorratsdatenspeicherung von Fluggastdaten (EU-PNR) voran. Die dort verarbeiteten 42 Datenfelder würden ausführliche Kontaktangaben sowie die Reiseroute, Mitreisende oder Mailadressen enthalten. Viele Mitgliedstaaten hatten den Richtlinienentwurf wegen zu hoher Kosten, aber auch aus Datenschutzgründen kritisiert. Das EU-Parlament lehnte die Fluggastdatensammlung bereits einmal ab und kündigte vor einer neuerlichen Befassung an, eine Prüfung des Europäischen Gerichtshofes zu einem ähnlichen Abkommen mit Kanada abzuwarten. Die EU-Innenminister bestehen dennoch auf dem System. Mittlerweile haben auch andere Länder Interesse an PNR-Daten angemeldet (Russische Regierung fordert vor jedem Flug über eigenes Territorium Passagierdaten). Die EU-Kommission könnte dies als weiteres Druckmittel zur Verabschiedung einer PNR-Richtlinie nutzen.
  • Einrichtung einer Europol-Datensammlung zu "ausländischen Kämpfern": Die EU-Polizeiagentur Europol richtet eine Datei "Travellers" ein, um dort Angaben zu verdächtigen Personen zu speichern. Ihre Reisebewegungen sowie sonstige Informationen können mit neuartigen Data Mining-Methoden ausgewertet werden. Auch Bundeskriminalamt liefert hierzu Daten, deutsche Behörden stehen beim Datentausch mit Europol an zweiter Stelle aller Mitgliedstaaten.
  • Interpol-Datenbank soll von Privatfirmen genutzt werden: Die internationale Polizeiorganisation Interpol hat eine Datei für gestohlene und verlorene Reisedokumente eingerichtet. Die Datenbank soll von Grenzbehörden zukünftig immer gemeinsam mit dem SIS II abgefragt werden. Interpol fordert auch, Privatfirmen Zugang zu gewähren, wenn ein Bankkonto eröffnet, ein Auto gemietet oder in ein Hotel eingecheckt wird. Hierzu lancierte Interpol die Meldung, "ausländische Kämpfer" würden mittlerweile auch Kreuzfahrtschiffe nutzen, um unerkannt in die Türkei reisen zu können, präsentiert allerdings keine Belege dafür (Neue Vorratsdatenspeicherung für Kreuzfahrtschiffe und bald auch für Ausleihe von Jet-Ski?).
  • Zusammenarbeit mit Drittstaaten: Auf Initiative der USA haben mehrere Staaten (auch Deutschland) und supranationale Organisationen 2011 das Global Counterterrorism Forum gegründet. Unter Federführung der Niederlande und Marokkos wurde ein Arbeitsschwerpunkt "ausländische Kämpfer" eingerichtet. Über das GCTF kann auch mit anderen "Schlüsselländern" zusammengearbeitet werden. Hierzu gehören Libyen, Algerien, Ägypten, Jordanien, Libanon, Marokko, Tunesien und der Irak. Ein besonderer Augenmerk liegt aber auf der Türkei, die für "ausländische Kämpfer" als bevorzugter Transitstaat gilt. Die Bundesregierung plant deshalb ein Geheimdienst-Abkommen.
  • Aufspüren und Bekämpfen von "Terrorismusfinanzierung": Polizeibehörden sollen mehr Gebrauch von den bei Banken und Kreditinstituten auf Vorrat gespeicherten Finanzdaten machen. Europol führt hierzu eine Machbarkeitsstudie für ein Echtzeit-System durch, das von Behörden des Bundesinnenministeriums aus Datenschutzgründen nicht genutzt werden darf. EU-Polizeibehörden sollen außerdem verstärkt das mit den USA geschlossene "Programm zum Aufspüren der Finanzierung des Terrorismus" (TFTP oder "SWIFT-Abkommen") nutzen. In den USA werden hierfür Finanzdaten des belgischen Finanzdienstleisters SWIFT gespeichert und verarbeitet.
  • Maßnahmen gegen "terroristische Online-Aktivitäten": Die EU-Innenminister haben nach einem gemeinsamen Abendessen informelle Kanäle mit den Internetkonzernen Twitter, Google, Microsoft und Facebook etabliert. Ziel ist, "Instrumente und Techniken" zu entwickeln, um die Firmen im Eilverfahren zu Löschungen zu bewegen. Weil Rechtsänderungen hierzu schwierig sind, soll dies auf Ebene von "Soft Laws" erfolgen. Europol könnte hierzu als eine Art Meldestelle fungieren. Hintergrund ist, dass die Diensteanbieter auf Löschanfragen von Privatpersonen in weit geringerem Maße reagieren als wenn diese von einer Polizeibehörde kommen. Europol könnte auch selbst das Internet nach unliebsamen Inhalten durchforsten und hierfür seine wenig genutzte Plattform "Check the web" um "illegale islamistische Inhalte" aufbohren (Europol in der dritten Generation).
  • Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsdaten: Nach den Anschlägen von Paris wird auch von Deutschland die Neuauflage der vom Europäischen Gerichtshof gekippten Richtlinie gefordert. Die EU-Kommission lehnt eine Befassung mit dem Vorhaben zunächst ab, könnte aber vom Rat hierzu aufgefordert werden. Jetzt will die Kommission "Konsultationen" starten, die sogar eine Ausweitung einer etwaigen Richtlinie auf Soziale Medien beinhaltet. Einige Mitgliedstaaten haben bereits nationale Systeme errichtet. Wie im Falle von Fluggastdaten könnten nun einige Regierungen fordern, die einzelstaatlichen Regelungen zu "harmonisieren".
  • Cryptowars 3.0: Nach 15 Jahren steht wieder die Forderung an IT-Anbieter zur Hinterlegung von Crypto-Keys auf der Agenda. Polizeien und Geheimdienste wollen dadurch verschlüsselte Verbindungen oder Mails überwachen können. Deutschland, Österreich, Großbritannien, Frankreich und Finnland sowie die USA befürworten eine solche Regelung, auf Vorschlag des EU-Anti-Terror-Koordinators haben sich auch die EU-Innenminister damit befasst. Die EU-Kommission soll nun rechtliche Möglichkeiten untersuchen, nach denen die Firmen zur Herausgabe von Schlüsseln gezwungen werden könnten. Das Bundesinnenministerium rudert mittlerweile zurück und erklärt, immer stärkere Verschlüsselungsverfahren würden die Sicherheitsbehörden zum vermehrten Einsatz von Trojaner-Programmen zwingen.

Mindestens 239 Anti-Terror-Maßnahmen seit 9/11

Das Zustandekommen der neuen Maßnahmen wird zusehends undurchsichtig. Dies wiegt umso schwerer, als dass, wie im Falle des EU-PNR, die Funktionsweise des EU-Parlaments ausgehebelt werden soll. Viele Initiativen werden in informellen Zirkeln von Innenministern auf den Weg gebracht. Hierzu gehören die "Fünfländertreffen" (mit Österreich), die Gruppe der EU9 (mit Großbritannien, Frankreich, Niederlande) und die G6+1 (die einwohnerstärksten EU-Mitgliedstaaten mit den USA).

Seit 9/11 hat die EU mindestens 239 Anti-Terror-Maßnahmen beschlossen. Deren Nutzen ist nicht belegt und bislang auch nicht untersucht. Bevor weitere Maßnahmen beschlossen werden, müsste eigentlich eine Prüfung aller bisherigen Schritte erfolgen. So wird es auch von vielen EU-Abgeordneten gefordert.

Einmal eingerichtet dürfte jeder Widerstand gegen mehr Überwachung zwecklos sein: Gewöhnlich werden Gesetzesverschärfungen, neue Kompetenzen von Polizeibehörden oder neue Datenbanken nicht mehr zurückgenommen. Vielmehr ist insbesondere bei der Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsdaten eine weitere Ausweitung auf andere Zwecke zu erwarten.

Das Phänomen der "ausländischen Kämpfer" soll also Maßnahmen begründen, die längst in der Pipeline sind, aber politisch zunächst nicht durchsetzbar waren. "Extremismus", "Terrorismus" oder "Radikalisierung" sind Container-Begriffe und dadurch geeignet, sie jederzeit politisch neu zu definieren. Dann können sie gegen andere unliebsame Bewegungen in Stellung gebracht werden.