Ukraine: Amnesty und HRW kritisieren beide Konfliktparteien

In einem Bericht wird das Ausbleiben auch nur grundlegender Bemühungen, Zivilisten in der Ostukraine zu schützen, als schockierend bezeichnet

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Während der Druck in den USA wächst, der Ukraine Waffen zu liefern, wird trotz der zunehmenden Kämpfe und der Mobilmachung auf beiden Seiten weiterhin gefordert, den Waffenstillstand einzuhalten und das Minsker Abkommen umzusetzen. Dazu sind beiden Seiten derzeit nicht bereit, weil um die Demarkationslinie gekämpft wird. Die Separatisten wollen die Taschen in ihrem Gebiet, vor allem um Debaltseve und den Flughafen von Donezk begradigen, Kiew ist bereit, viele Soldaten in dem Kessel zu opfern, um das von ihnen kontrollierte Territorium zu halten. Die Separatisten werfen den ukrainischen Streitkräften vor, ihre Stellungen in Wohngebieten zu platzieren, diese werfen jenen vor, Wohngebiete zu beschießen. Gepflegt wird weiterhin das Spiel, den jeweils anderen für den Beginn von Kämpfen und das Töten von Zivilisten verantwortlich zu machen. Heißen die einen "Terroristen", so die anderen die "Bestrafer".

Das ist die übliche Propaganda, die beide Seiten betreiben, um den Gegner zu diskreditieren. Und es funktioniert in der Regel ganz gut, die jeweiligen parteiischen Medien inklusive. Werden Zivilisten in dem von den Separatisten kontrollierten Gebieten getötet, so versucht Kiew dies auf allerdings ziemlich durchsichtige Weise so darzustellen, als hätten dies die Separatisten als false-flag-Operation selbst gemacht, um diese den ukrainischen Streitkräften in die Schuhe zu schieben. Umgekehrt findet dies auch statt. Ansonsten werden von den Separatisten und den russischen Medien die Verbrechen der Milizen und Streitkräfte herausgestellt, während in Kiew und vielen westlichen Medien diese meist wenig beachtet werden. Dafür werden aber die vermutlich von Separatisten getöteten Zivilisten wie zuletzt in Mariupol besonders ausgeschlachtet. Es geht immer darum, mit den Medien auch die eigene Bevölkerung sowie die Politiker und Menschen der Alliierten hinter sich zu kriegen, schließlich wird der Krieg keineswegs nur mit Waffen, sondern vor allem durch Medien und die Beeinflussung der Öffentlichkeit geführt und gewonnen.

Man muss dankbar sein, dass es jenseits der Politik, der Militärs, der Wirtschaft und den Medien auch Organisationen wie Amnesty International oder Human Rights Watch gibt, die sich der Neutralität verschrieben haben, auch wenn es aus vielerlei Gründen stets schwierig bleibt, unvoreingenommen zu berichten. In einem aktuellen Bericht hat Amnesty vor Ort den Angriff auf einen Marktplatz in Donezk und auf Hilfslieferungen sowie den Beschuss von Wohngebieten in Debaltseve untersucht. Kurz nach den Vorfällen der letzten Tage wurden Zeugen und Opfer in den Krankenhäusern befragt, allerdings wurden keine Beweise gesammelt, es wird eher der Horror des Lebens in einem Kriegsgebiet geschildert. Vor allem der ungerichtete Beschuss mit Raketen und Granaten von Wohngebieten verursacht viele Opfer unter Zivilisten: "Solche Angriffe sind eine Verletzung des humanitären Rechts und können Kriegsverbrechen sein", so John Dalhuisen von Amnesty.

Der am 13. Januar von Raketen getroffene Bus an einem Kontrollpunkt bei Volnovakha. 13 Menschen wurden getötet. Bild: Quelle

Am 30. Januar starben in Donezk sechs Menschen, die sich in einer Schlange aufgestellt hatten, um Lebensmittelhilfe zu erhalten. Viele wurden verletzt. An dem Ort hatten sich 200 Menschen versammelt, als sich die Explosion ereignete und Körperteile von einigen Menschen durch die Luft flogen, wie Zeugen berichteten. Nach der OSZE handelte es sich um eine 122-mm-Granate, die nordwestlich abgefeuert wurde, also aus der Richtung der ukrainischen Streitkräfte, die im übrigen weiterhin Donezk unter Beschuss nehmen. In einem weiteren Vorfall wurden am 29. Januar auf dem Aquilon-Marktplatz in Donezk 2 Menschen getötet und 7 verletzt. Nach einer Zeugenaussage gab es zwei Explosionen kurz hintereinander. Hier wie auch in einem anderen Fall scheint nicht klar zu sein, wer hinter den Angriffen stand.

Die Stadt Debaltseve, die vermutlich noch von ukrainischen Kräften gehalten wird, wird seit zwei Wochen von der Artillerie der Separatisten angegriffen. Von den ursprünglich 25.000 Bewohnern sollen noch 7.000 dort leben und in den Kellern oder im Luftschutzraum unter dem Bahnhof Schutz suchen, wo es weder Strom noch Wasser gibt. Am 31. Januar wurden nach dem Polizeichef 12 Menschen durch Artilleriebeschuss getötet, am 1. Februar 7 verwundet. Evakuiert wurden in den letzten Tagen über die einzig noch freie Straße mehr als 2000 Menschen. Eine Brücke wurde gesprengt, die Hilfsbrücke verlangsamt die Evakuierung und setzt die Menschen großer Gefahr aus. Als am 1. Februar 26 Menschen evakuiert wurden, wurden 5 Zivilisten und 2 Helfer verwundet. DNR-Führer hatte gedroht, dass jeder, der die Stadt in den nächsten 2-3 Stunden verlässt, unter Artilleriefeuer geraten wird.

Menschen, so Amnesty, werden immer wieder durch zufällig ausgerichteten Raketenbeschuss in ihren Häusern oder auf der Straße getötet, wenn sie Lebensmittel oder Wasser holen wollen. Die Situation der Menschen ist in den Gebieten erbärmlich, die von den Raketen der Gegner erreicht werden. Vielen fehlt es an Trinkwasser und Lebensmittel, es fehlen auch Medikamente und die Gesundheitsversorgung liegt darnieder. "Das Ausbleiben auch nur grundlegender Bemühungen, Zivilisten in der Ostukraine zu schützen, ist schockierend", so John Dalhuisen. "Beide Seiten des Konflikts müssen dringend aufhören, von Wohngebieten aus zu schießen oder diese ungerichtet zu bechießen. Die internationale Gemeinschaft sollte den Druck auf sie erhöhen, um sie dazu zu bringen." Hier ist aber weder aus Russland noch aus den USA oder der Europa etwas zu hören. Es ist ein geopolitischer Stellvertreterkrieg der klassischen Art, die Kollateralschäden unter den Zivilisten und der zivilen Infrastruktur sind das Bauernopfer.

In Mariupol wurde festgestellt, aus welcher Richtung die Raketen kamen. Bild: HRW

Auch Human Rights Watch wirft in einem Bericht beiden Seiten Verletzungen des Kriegsrechts durch ungerichteten Raketenbeschuss vor. Am 24. Januar starben 30 Zivilisten und wurden mehr als 90 durch Raketen in Mariupol verletzt, die "vermutlich" aus dem von Separatisten kontrollierten Gebiet abgeschossen wurden, wie die Messung der Einschlagkrater zeigt. Hier war ein Stützpunkt der Asow-Miliz in der Nähe, was gerne nicht berichtet wird und auch nichts beschönigt, sondern nur bestätigt, dass Stellungen in Wohngebieten eingerichtet werden und die Angreifer einfach drauf losballern.

Davor hatten Raketen, wieder vermutlich von Separatisten abgefeuert, am 31. Januar an einem Kontrollpunkt bei Volovakha 12 Menschen getötet und 18 verletzt. Vermutlich durch einen Raketenangriff seitens der ukrainischen Streitkräfte sind am 13. Januar 2 Zivilisten in Donezk getötet worden. Es gebe seit dem 13. Januar zahlreiche weitere Fälle in den von den ukrainischen Streitkräften und von den Separatisten kontrollierten Gebieten, die HRW nicht untersuchen konnte. Am 22. Januar wurden in Donezk an einer Bushaltestelle 12 Zivilisten getötet. Nach HRW kam der Beschuss vermutlich aus dem von den Separatisten kontrollierten Gebiet, die haben Saboteure dafür verantwortlich gemacht. Weil in der Nähe ein Stützpunkt der Separatisten war, hätte dieser auch ein Ziel der ukrainischen Streitkräfte sein können, die ihn schon früher angegriffen hatten. HRW weist noch auf weitere Vorfälle hin, bei denen Zivilisten ums Leben kamen.

Rakete in Mariupol. Bild: HRW

HRW wirft beiden Seiten vor, ungerichtete Raketen und Granaten in Wohngebieten einzusetzen. Beide Seiten müssten ihre Verpflichtungen einhalten, mit allen Mitteln Zivilisten zu schützen und keine Stellungen in Wohngebieten einzurichten. Seit Beginn des Konflikts sei nichts geschehen, so HRW unisono mit Amnesty, schwere Verletzungen der internationalen Menschenrechte und des humanitären Rechts zu ahnden, weswegen Zivilisten weiterhin gefährdet sind. HRW fordert Präsident Poroschenko auf, das Statut von Rom zu ratifizieren und dem Internationalen Strafgerichtshof beizutreten. Das würde es ermöglichen, Kriegsverbrechen zu untersuchen. Poroschenko wollte hingegen nur den Beschuss von Mariupol vor den ICC bringen. Das lehnt HRW zurecht ab, der ICC sollte alle möglichen Kriegsverbrechen von Separatisten und ukrainischen Streitkräften untersuchen können.