Alexis Tsipras und die moralische Verpflichtung, sich gegen Berlin zu wehren

Alexis Tsipras macht Ernst mit dem Sparen. Bild: W. Aswestopoulos

Die programmatischen Erklärungen des Premiers im Parlament

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Alexis Tsipras hat am Sonntagabend in Athen seine Regierungserklärung abgegeben. Der neue griechische Premier zeigte sich offenbar unbeeindruckt von den Versuchen der EZB, in Griechenland einen Bankrun auszulösen. Die EZB möchte offenbar mit ihrem Drehen an der Geldschraube der von Berlin aus forcierten so genannten Sparpolitik Vorschub leisten. Internationale Beobachter erwarten eine Einigung der Griechen mit der Troika. Stimmen, die ein Ende der Sparprogramme fordern, kommen auch aus Deutschland. Seitens der Eurogruppe gab sich deren Chef Jeroen Dijsselbloem, der sich noch letzte Woche mit Finanzminister Yanis Varoufakis stritt, moderat.

Alexis Tsipras vor seiner Regierungserklärung. Bild: W. Aswestopoulos

Varoufakis zweifelt immer mehr an dem Spareffekt und der Logik der von der Troika verzapften Maßnahmen. Er sieht in dem Diktat aus Berlin und Brüssel den Grund für den in Europa registrierten Anstieg nationalistischer und nationalsozialistischer Tendenzen.

Für den Experten in der Spieltheorie ist klar, dass ein Austritt Griechenlands aus der Eurozone, das gesamte Konstrukt des Euro zusammenbrechen lassen würde. Daher pokert er ungerührt weiter und reagiert auf die Aktionen der Kreditgeber eher gelassen. Tsipras und Varoufakis haben eine satte Mehrheit hinter sich. Umfragen ergaben, dass 72 Prozent der Griechen der Konfrontation mit der Troika zustimmen.

Die Ausgangslage

Was die letzte Entscheidung der EZB dem Land bescherte, waren höhere Zinsen für die Banken. So lange die griechischen Staatspapiere als Sicherheit akzeptiert wurden, konnten sich die griechischen Geldhäuser wie alle anderen Banken in Europa auch für den EZB Leitzins von aktuell 0,05 Prozent. Liquidität besorgen. Nach Mario Draghis Entscheidung bekommen sie nun über den Bankenrettungsfonds Geld für knapp 1,5 Prozent Zinsen.

Weil die Geldinstitute diese Strafzinsen mit entsprechendem Aufschlag sofort an die Kunden, somit auch an Geschäftsleute und Industrielle weitergeben, ist klar, was mit der Maßnahme bewirkt werden soll. Die griechischen Banken geraten in eine Schieflage. Streng nach dem neuen Credo der EU, dass die Kunden verantwortlich sind, wenn sie einer schlechten Bank Geld anvertrauen, ziehen diejenigen, die es können, ihr Kapital ab. Ansonsten rechnen sie mit einem Verschwinden ihrer Einlagen, wie es bereits die Bürger Zyperns erleben müssten.

Ein wesentlicher Kollateralschaden ist ebenfalls sichtbar. Die griechische Wirtschaft, von der sich die EU vorgeblich eine Rückzahlung der griechischen Staatsschulden erhofft, wird weiter geschwächt (Re- oder Deformation der griechischen Wirtschaft?). Ein Schelm ist, wer hinter solchen Aktionen, die bereits mehrfach im Zusammenhang mit der Sparpolitik zitierte Erpressung sieht.

Der aktuelle Konflikt zwischen Athen, Berlin und Brüssel beruht darauf, dass die frühere griechische Regierung unter Antonis Samaras knapp 29 Monate lang die Vorgaben der Troika brav erfüllte. Somit erhalten die aktuellen Einwände des Präsidenten des Europaparlaments, Martin Schulz, insofern eine Grundlage, als dass die griechische Regierung den Maßnahmen zustimmte. Schulz erkennt an, dass die Troika Fehler gemacht hat, er weigert sich allerdings noch, die Konsequenzen daraus zu ziehen.

Samaras im November erfolgte Weigerung, weitere Renten- und Gehaltskürzungen anzuordnen sowie neue Steuern zu erheben, brachte das am 31.12.2014 auslaufende Rettungsprogramm mit EU und EZB zum Erliegen. Evangelos Venizelos, der Parteichef der PASOK, hatte seinem Koalitionspartner Samaras die Pistole auf die Brust gesetzt. Venizelos fürchtete, dass seine PASOK keine weiteren dieser Maßnahmen überleben werde. Die Regierungskrise muss Samaras zu den provozierten, vorgezogenen Neuwahlen bewogen haben. Er hat wissen müssen, dass das Spiel verloren war.

Erst in der vergangenen Woche legte der wuchtige Parteichef auf Abruf die Einzelheiten des vergangenen Herbstes der griechischen Öffentlichkeit vor. Demnach hatte er Samaras im September von einer Reise nach Berlin abgeraten. Der griechische Premier war zur Kanzlerin gereist und hatte eigentlich erneut, wie 2012 um Luft zum Atmen betteln wollen. Der Premier kam mit leeren Händen heim und versuchte, mit PR-Maßnahmen einen Erfolg vorzutäuschen. Er erzählte, dass Griechenland kein weiteres Geld brauche. Tatsächlich hatte der Premier sehr lang auf einen erneuten Schuldenschnitt oder aber ein neues, auf den Aufbau des Landes ausgerichtetes Programm gehofft.

Fakt ist, dass die bisherigen Maßnahmen dem Land keine Besserung, sondern vielmehr eine Verschlechterung der Lage einbrachten. Finanzminister Varoufakis predigte auf seiner Europatour in jedem Land, dass die aktuelle Politik ein ökonomisches Paradoxon sei, welches die Krise selbst anheizt. Für den smarten, unkonventionell auftretenden Professor ist es schlicht Unsinn, von einem bankrotten, zahlungsunfähigen Land im Gegenzug für zur Insolvenzverschleppung notwendigen Krediten zu verlangen, dass das für die Rückzahlung notwendige Einkommen immer weiter verringert wird. Nichts anderes wurde seit Mai 2010 in Griechenland praktiziert.

Mittlerweile ist selbst der frühere Premier Costas Simitis ins Lager der Sparprogrammgegner gewechselt. Der Reformfan sieht in der Architektur des Euros und in der Weigerung Deutschlands, die Exportüberschüsse über höhere Gehälter an die Bevölkerung zu verteilen, den Grund für die Krise.

"Wir sind gekommen, um das zu tun, was wir versprochen haben"

Unter diesen Vorzeichen trat Alexis Tsipras am Sonntagabend an das Rednerpult der Vouli, wie das offiziell Hellenische Parlament genannte Plenum heißt. Tsipras machte deutlich, dass er eine moralische Verpflichtung darin sehe, die Deutschen an die immer noch ausstehende Begleichung eines Zwangskredits der nationalsozialistischen Besatzungstruppen zu erinnern. Diese Tatsache wird auch in der internationalen Presse aufgegriffen. Genüsslich erwähnen Journalisten aus dem angelsächsischen Sprachraum, dass Deutschland historisch gesehen ein größerer Pleitegeier als Griechenland sei.

Tsipras machte allerdings klar, dass er zu sparen gedenke. Einer der drei Staatsjets soll verscherbelt werden. Die von Evangelos Venizelos während der Krise für 750.000 Euro pro Stück gekauften rundum gepanzerten Limousinen aus Deutschland stehen bereits zum Verkauf. Finanzminister Varoufakis benötigt keine gepanzerten Autos. Er rennt wie alle übrigen Griechen auch ohne Polizeischutz durch Athen.

Wenn Minister per Pedes durch die City gehen, wofür brauchen Parlamentarier dann ein vom Staat gesponsertes Auto, fragte sich Tsipras. Dieses Vorrecht wird ebenso fallen wie die in Gesetzen von Venizelos installierte Haftungsfreiheit des Zentralbankchefs, der Treuhand-Geschäftsführer sowie die Amnestierung der Sozialversicherungsleiter. Im gleichen Sinn möchte Tsipras endlich unter den Politikern nach den Verursachern der Krise suchen. Die mit der Politik verbundenen Oligarchen nimmt er ebenfalls aufs Korn. Außer Steuern von den Reedern möchte er auch endlich Abgaben von den Betreibern der Privatsender. Zuletzt hatte die Regierung Samaras diese sogar von Steuern auf die Werbeeinnahmen befreit.

Zudem verspricht sich Tsipras allein schon mit der Lizenzierung der theoretisch wie Piratensender operierenden privaten Fernsehsender einen mehrstelligen Millionenbetrag.

Alexis Tsipras sieht sich als Reformator der EU. Bild: W. Aswestopoulos

Auch für sich möchte Tsipras, der keine dicke Staatslimousine annahm, keine Extrawurst. Vierzig Prozent der für die Bewachung von Premiers abgestellten Polizisten zog er ebenso ab wie die Hälfte der Angestellten des Amtssitzes. Dieses öffentliche Personal, meinte Tsipras, solle der Öffentlichkeit dienen. Aus den gleichen Gründen, allerdings auch mit dem Segen der Lebensgefährtin verweigerte der Premier einen Umzug aus der Mietwohnung in Kypseli in eine besser zu schützende Wohnung im Diplomatenvorort Psychiko.

Die Sparsamkeit solle sinnvoll sein, erklärte der linke Politiker. Denn Schulden würden das Land in eine Abhängigkeit bringen und die Souveränität beschneiden. Der Premier möchte ein unabhängiges Vaterland. Die Einigung mit der EU hält er trotzdem für möglich. Alexis Tsipras sieht sich als Reformator des vereinten Europas.

Denn am jetzigen Modell hat er einiges zu bemängeln. Dem Griechen missfällt, dass Handelsketten, auch aus Deutschland, in Griechenland höhere Preise als in der Heimat kassieren, aber gar keine oder nur marginale Steuern zahlen. Das geht über so genannte europäische Dreiecksgeschäfte, bei denen zum Beispiel die Markenrechte eines Produkts in Luxemburg geparkt werden. Mit geschickten Rechnungen kann dann ein multinational operierendes Unternehmen seine Gewinne nach Luxemburg transferieren und dort von wesentlich niedrigeren Steuersätzen profitieren. Tsipras findet dies wenig solidarisch, und möchte mit der Bekämpfung solchen Handelns Milliarden in seine Staatskassen transferieren.

Dass Tsipras die auf Druck der Troika entlassenen 595 Putzfrauen (Der Aufstand der Putzfrauen), die übrigens auch entsprechende Urteile von Arbeitsgerichten haben, ebenso wieder einstellen möchte, wie Schülerlotsen, Hausmeister von Schulen und weitere, meist schlecht bezahlte Beamte, das versicherte er erneut. Das Geld dafür findet sich in Samaras Etatplan. Der frühere Premier hatte, offenbar mit dem Segen der Troika, die Einstellung von 15.000 Personen eingeplant. Das Wahlgeschenk, welches ihm Stimmen eingebracht hätte, konnte der Konservative nicht mehr in Angriff nehmen.

Samaras staatlich gefördertes Sprachrohr, der Senderkomplex NERIT, wird ebenfalls bald auch offiziell zur Vergangenheit gehören. Bereits seit der Vereidigung Tsipras wird der Sender in Journalistenkreisen nur noch ERT genannt - wie der von Samaras geschlossene öffentlich rechtliche Rundfunk (Chaos wegen Schließung des staatlichen Rundfunks). Auch bei diesem Programmpunkt braucht Tsipras kein Geld zur Durchführung. Die Gebühreneinnahmen der ERT lagen immer höher als die Ausgaben. Der Sender finanzierte den Staat.

Das Gleiche gilt für die beabsichtigte Einbürgerung von knapp 200.000 Immigranten der zweiten Generation. Hier könnte der Staat sogar Verwaltungsgebühren kassieren. Allerdings räumt der Premier auch bei der Verwaltung kräftig auf.

"Kein Amt soll mehr Papiere und Dokumente verlangen, die in Besitz eines anderen Amts oder einer anderen staatlichen Stelle sind", erklärte er. Allein dieser Schritt revolutioniert Griechenlands Verwaltung. Bislang mussten die Griechen bei jedem Antrag, den sie stellten, bei sämtlichen anderen staatlichen Stellen die entsprechenden Papiere persönlich beantragen. Je nach beabsichtigtem Antrag können damit ein paar Dutzend Unteranträge fällig werden.

Die Vereinfachung, die PASOK und Nea Dimokratia geschaffen hatten, bestand darin, dass solche Anträge in so genannten Bürgerzentren gestellt werden konnten. Im Zeitalter der Datenbanken und Computer kostet dieser Anachronismus Staat und Bürger unzählige Arbeitsstunden. "Wir sind gekommen, um das zu tun, was wir versprochen haben", betont Tsipras bei jeder Gelegenheit. Daran, wie viele Stimmen er am Dienstag um Mitternacht beim Vertrauensvotum sammeln kann, wird er erkennen können, ob er zumindest in Griechenland überzeugend wirkt.