Die Dekonstruktion der Kategorie Geschlecht und Strategien auf einem Beziehungsmarkt

Gérard Bökenkamp über Judith Butler, sexuelle Doppelmoral, Pornographie und Michel Houellbecq - Teil 2

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In seinem Buch Ökonomie und Sexualität versucht Gérard Bökenkamp mit dem theoretischen Rüstzeug der österreichischen Schule der Wirtschaftswissenschaft den erfreulichen wie fatalen Wirrnissen der Liebe auf den Zahn zu fühlen: Über Faktoren wie Angebot und Nachfrage und unterschiedlicher Handelspositionen auf dem "Beziehungsmarkt" ist jeder Mensch bestrebt, seinem Geschlechtsleben den nötigen Raum zu verschaffen. Der Historiker gewährt hier (á la Honoré de Balzac) einige erstaunliche Einblicke in den Bereich menschlicher Sexualität, die auf ihre Art vollkommen schlüssig sind und lesenswert bleiben, auch wenn man seine Prämissen nicht teilt.

Zu Teil 1: Maximierung des psychischen Einkommens

Sie behandeln in Ihrem Buch den sozialen Konstruktivismus von Judith Butler. Inwiefern sind ihre Theorien beim Thema Sexualität und Ökonomie hilfreich?

Gérard Bökenkamp: Der Konstruktivismus als Methode hinterfragt ja grundsätzlich, inwieweit Kollektive tatsächlich "real" sind, oder einfach eine sprachliche Figur. Diese Methode ist in vielen Bereichen der Kulturwissenschaft inzwischen ziemlich beliebt. Judith Butler hat das nun auf den Bereich des Geschlechts übertragen und in Frage gestellt, ob es diese kollektive Kategorie Geschlecht so überhaupt gibt. Das führt dann regelmäßig zu Kopfschütteln und Stirnrunzeln, wenn ihre Anhänger darüber streiten, wie viele Geschlechter nun eigentlich existieren.

Das geht aber aus meiner Sicht schlicht an dem Kern der Sache vorbei. Das Entscheidende ist, dass das Geschlecht kein historisches Subjekt ist, das irgendwie durch die Zeiten wandelt und gemeinsame kollektive Interessen hat. Eine Bäuerin auf Borneo im 18. Jahrhundert und eine Spitzenmanagerin in einem Software-Konzern sind eben nicht irgendwie mystisch miteinander verbunden, weil sie Frauen sind. Sie sind einfach Individuen, die mit vollkommen unterschiedlichen Interessen und Strategien ihr Leben zu gestalten. Die Dekonstruktion der Kategorie Geschlecht ebnet den Weg für eine Betrachtung, die es erlaubt, sexuelle Beziehungen als Summe individueller Interessen und Strategien auf einem Beziehungsmarkt zu sehen und nicht als ewig währenden Kampf der Geschlechter.

Sie ernennen die Doppelmoral zum "Königsweg" aus den Aporien moralischer Selbstbeschränkung. Können sie uns das erläutern?

Gérard Bökenkamp: Doppelmoral ist offensichtlich allgegenwärtig. In jedem Land und zu jeder Zeit. Also muss das für den Einzelnen eine sehr gute Strategie sein, um sein psychisches Einkommen zu maximieren. Wir fragen uns ja sehr oft: Wie kann jemand mit einem bestimmten Widerspruch überhaupt leben, etwa eine bestimmte Sexualmoral zu vertreten und gleichzeitig eine Geliebte haben. Das geht offenbar sehr gut. Als öffentliche Figur eine bestimmte Moral zu vertreten bringt bestimmte Vorteile. Im Privatleben gegen diese Moral zu verstoßen, offenbar auch. Also ist Doppelmoral eine nutzenmaximierende Strategie. Man genießt das Beste aus zwei Welten, man darf sich nur nicht erwischen lassen. Bedauerlicherweise wird uns das Phänomen also noch weiter begleiten.

"Widerspruch zwischen Konsumgesellschaft und konservativen Sittlichkeitsvorstellungen"

Sie bezeichnen der 68er als "Eisbrecher der Konsumgesellschaft". Warum?

Gérard Bökenkamp: Weil ich glaube, dass es so etwas wie einen soziokulturellen Verzögerungseffekt gibt. Der ökonomische Wandel ist schneller als die Kultur. Politik, Recht und öffentlicher Diskurs hinken der realen Entwicklung oft hinterher. Das war nach meiner These auch in der frühen Bundesrepublik der Fall. Ludwig Erhards Wirtschaftswunder hat eine moderne Konsumgesellschaft geschaffen. Eine solche baut einerseits auf dem Leistungsprinzip auf, aber auch auf hedonistischen Werten wie Lebensgenuss und Selbstverwirklichung. Gleichzeitig haben Politik und Kirchen versucht, eine traditionelle Sexualmoral zu reanimieren, die schon in den 1920er Jahren nicht mehr der Lebenspraxis entsprach. Ein solcher Widerspruch musste irgendwann einmal aufgelöst werden. Die Studentenvolte ging dann von der Generation aus, die in diesem Widerspruch zwischen Konsumgesellschaft und konservativen Sittlichkeitsvorstellungen aufgewachsen war und diesen nicht mehr mitgetragen hat.

Wie beurteilen Sie aus Ihrer Warte Phänomene wie Pornographie und Prostitution?

Gérard Bökenkamp: Friedrich August von Hayek hat den Grundsatz vertreten, dass sich eine freie Gesellschaft dadurch auszeichnet, dass sie keine willkürlichen Einzelentscheidungen trifft, sondern allgemeine Prinzipien formuliert, die dann auf den Einzelfall angewendet werden. Das soll verhindern, dass Menschen anderen Menschen ihre persönlichen Gefühle und Moralvorstellungen per Gesetz aufzwingen. Ein solches (inzwischen allgemein akzeptiertes) Prinzip ist, dass erwachsene Menschen einvernehmlich miteinander Sex haben dürfen. Der Staat muss den Jugendschutz garantieren und die Rechte des Einzelnen schützen, nicht aber den Menschen eine bestimmte Moral aufzwingen.

Das heißt, ob wir persönliche Pornographie, Prostitution, Promiskuität, SM, Homosexualität, Fetischismus, oder andere Dinge, an denen Menschen im Laufe der Kulturgeschichte Anstoß genommen haben, nun persönlich mögen (oder nicht mögen), darauf kommt es nicht an. Sondern darauf, dass erwachsenen Menschen selbst entscheiden, mit wem, auf welche Weise und aus welchem Grund sie miteinander Sex haben. Das heißt, dass die Menschen, die in der Sexindustrie arbeiten, einfach nach denselben Regeln behandelt werden sollten, wie alle anderen Bürger. Und ihre Kunden auch.

In dem neuen Buch von Michel Houellebecq "Unterwerfung" erwägt eine Romanfigur im Geiste des Neoliberalismus den Islam als ernsthafte Lösung für sexuelle Probleme: Wer mehr Geld verdient, soll auch mehr Frauen haben et cetera. Können Sie sich vorstellen, dass es in dieser Richtung eine Verbindung zwischen Sex, Hayek und dem Islam gibt?

Gérard Bökenkamp: Mit der Vereinbarkeit mit dem Islam dürfte es dann schwierig werden, wenn eine wohlhabende Frau ihre zwei jüngeren Liebhaber heiraten möchte - Aber Spaß beiseite: Das Zentrale im Denken von Friedrich August von Hayek ist die individuelle Freiheit. Dazu gehört sowohl die Religionsfreiheit als auch die sexuelle Selbstbestimmung. Es gibt sicher Menschen, die sich, wenn sie sexuelle Probleme haben, an religiöse Autoritäten wenden. Andere bevorzugen den Weg zum Paar- oder Sexualtherapeuten. Wenn Houllebecq meint, dass der Islam für seine Probleme die Lösung darstellt, dann hat er ja die Freiheit, das für sich selbst so zu entscheiden. Das Problem ist nur, dass viele Menschen, die in islamischen Ländern aufwachsen, diese freie Wahl nicht haben.

Zwangsheirat oder die Verfolgung von Homosexuellen sind mit den Prinzipien der liberalen Sexualethik und einer freien Gesellschaft unvereinbar. Der zentrale Gegensatz zwischen Hayeks Position und dem politischen Islam ist genau dieser Gegensatz zwischen Freiheit und Zwang.

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