Ukraine: Neue Kurve in der Gewaltspirale

Das Thema Waffenexporte bestimmte die Münchner Sicherheitskonferenz. Die Ukraine produzierte bis vor kurzem mehr Waffen als die meisten anderen Länder der Welt

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

Stärker noch als in den Vorjahren bestimmten imperiale Attitüden die diesjährige Sicherheitskonferenz in München. Im Mittelpunkt der öffentlichen Debatte standen unterschiedliche Möglichkeiten, mit dem Krieg in der Ukraine umzugehen. Dabei demonstrierten Politiker und Wirtschaftsvertreter aus den USA im Einklang mit der ukrainischen Regierung, was sie von der Europäischen Union erwarten: Mehr Geld.

Angeblich von ukrainischen Soldaten bei Debaltseve erbeuteter russischer T-72 Panzer

Pünktlich vor der diesjährigen Sicherheitskonferenz in München holte Amerikas führender Republikaner John McCain zu einer neuen Initiative aus, um den Konflikt um die Ukraine weiter zu eskalieren. Wie immer, wenn US-Außenpolitiker von ihren Verbündeten mehr Initiative erwarten, packte der langjährige Vorsitzende des Streitkräfteausschusses die Nazi-Keule aus dem Rhetorik-Koffer. Dass die deutsche Bundeskanzlerin gemeinsam mit dem französischen Präsidenten auf Verhandlungen setze, wirke auf ihn wie die Appeasement-Politik gegenüber Nazi-Deutschland, so John McCain: "Ihr Verhalten erinnert mich an die Politik der 30er Jahre."

Zuvor hatte John McCain bereits eine Reihe von Senatoren, auch aus dem Lager der Demokraten, für sein neues Ukraine-Projekt versammelt. Selbst der designierte Verteidigungsminister Ashton Carter unterstützt die Waffenlieferungen, bei denen es zunächst um Panzerabwehrraketen und Radarstellungen gehen soll. Damit seine Initiative auch das nötige Gehör findet, kleidete John McCain sie in drastische Worte. "Wenn man sich die Haltung der deutschen Regierung anschaut, könnte man meinen, sie hat keine Ahnung oder es ist ihr egal, dass Menschen in der Ukraine abgeschlachtet werden."

Entsprechend groß war die Aufregung in außenpolitischen Kreisen. Auf Zeit-Online forderte Niels Annen, einer der führenden SPD-Außenpolitiker, John McCain solle sich für seine beleidigenden Äußerungen entschuldigen. "Niemand in Europa hat sich so für den Frieden in der Ukraine eingesetzt wie Steinmeier und Merkel", meinte der Bundestagsabgeordnete.

Mit einem Blick auf die jüngere Geschichte hätte er auch gleich anfügen können, wer den Konflikt in der Ukraine angefeuert hat wie "niemand in Europa". Als Anfang Dezember 2013 gerade ausreichend Demonstranten auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew standen, traten dort John McCain und Victoria Nuland auf, um die Stimmung anzuheizen. Seinem außenpolitischen Verständnis entsprechend engagierte sich gerade John McCain im gesamten vergangenen Jahr dafür, Russland wirtschaftlich und politisch zu isolieren (Neue Energie für Europa).

Tweet von Russian Market

Militärisches Versagen der Kiewer Regierung

Den Hintergrund für die Bitte um waffentechnischen Beistand aus der NATO bildet das unbeschreibliche Versagen der pro-westlichen Regierung unter Arseni Jazenjuk und Petro Proschenko. Neben wirtschaftlichen Fragen allgemein betrifft diese skandalöse Unfähigkeit auch und vor allem den militärischen Bereich. So gehörte es zur Bilanz des Jahres 2014, dass Juri Biriukow, Berater des ukrainischen Präsidenten, nebenbei einräumte, dass 20 bis 25 Prozent des gesamten Verteidigungsetats "gestohlen" wurden. Biriukow sprach mit Blick auf das ukrainische Verteidigungsministerium von "totaler Korruption".

Bei gelegentlichen Berichten von den ukrainischen Truppen heißt es entsprechend, dass die regulären Soldaten ihren ohnehin geringen Sold selten oder nie erhalten. Die Kampfmoral dieser Truppe befindet sich in einem derartig schlechten Zustand, dass das ukrainische Parlament im Dezember den Einsatz von Schusswaffen gegen desertierende Soldaten genehmigte (Ukrainische Milizen wollen "parallelen Generalstab"). Inzwischen sollen hinter der Front Sperrverbände aus Angehörigen der faschistischen Freiwilligenbataillone stehen, um Deserteure zu erschießen, heißt es in Dokumenten, welche die Hackertruppe Cyperberkut veröffentlichte.

All das hindert insbesondere Arseni Jazenjuk nicht daran, regelmäßig vollmundige Ankündigungen vorzunehmen. Parallel zur verschärften Blockade gegen die Volksrepubliken kündigte der Ministerpräsident im Dezember an, die Gesamtzahl seiner Streitkräfte auf 250.000 Mann festzusetzen. Kurzfristig könne die Armee um 68.000 Soldaten aufgestockt werden. Zudem wollte das Ministerium für Verteidigung mehr als 100.000 Reservisten einziehen.

Das erste Ergebnis dieser groß angekündigten Offensive bestand darin, dass sich inoffiziellen Quellen zufolge bis zu 50.000 Ukrainer dem Einberufungsbefehl entzogen, ein Großteil von ihnen vermutlich durch eine Ausreise nach Russland. Die militärischen Aktionen der Regierungstruppen gegen die Milizen der Volksrepubliken endeten schon nach wenigen Tagen in einem unglaublichen Fiasko.

Nach einigen Scharmützeln um den Flughafen von Donezk gingen die Milizen der Volksrepubliken in die Offensive. Zunächst griffen sie die Stadt Mariupol an und zwangen dadurch die regulären Streitkräfte, ihre Angriffe auf Donezk und Lugansk abzubrechen. Nach wenigen Tagen schlossen sie mehr als 8.000 reguläre ukrainische Soldaten in einem Kessel um die Stadt Debalzewe ein, aus dem diese inzwischen durch einen Korridor Richtung Westen abziehen dürfen.

Seitdem beschränkt sich die reguläre ukrainische Armee wieder darauf, aus sicherer Entfernung mit Artillerie hinter die feindlichen Linien zu feuern. Nacht für Nacht kommen bei diesem Beschuss fünf bis zehn Zivilisten ums Leben. Insgesamt liegt die Gesamtzahl der Toten inzwischen bei 5.000, etwa 1,5 Millionen Menschen mussten ihre Häuser verlassen. Unterdessen stehen wegen des Mangels an Steinkohle etwa 30 Wärmekraftwerke in der Ukraine still. Nachdem von Kiew befehligte Truppen im November eine Schule in Donezk beschossen hatten, stellte die Volksrepublik die Lieferungen von Kohle an die Ukraine vorübergehend ein. Den Vorschlag, die Versorgung gegen Vorkasse wieder aufzunehmen, ignorierte die Poroschenko-Regierung.

Waffen für die Waffenfabrikanten

Angesichts dieser augenfälligen Mischung aus Ignoranz, Verantwortungslosigkeit und Korruption sollte die erste Frage innerhalb der EU eigentlich lauten, warum überhaupt irgendjemand mit Menschen verhandelt, die sich standhaft einer politischen Lösung verweigern, obwohl sie nicht ansatzweise in der Lage sind, eine militärische Lösung herbeizuführen. Anstatt diese Frage aufzuwerfen, lässt sich die europäische Politik seit Monaten mit den unglaublichsten Lügengeschichten aus Kiew vorführen.

Das jüngste Münchhausen-Stück lieferte Schokoladen-König Petro Poroschenko auf der Sicherheitskonferenz. Als Beleg dafür, dass Angehörige russischer Truppen in den Volksrepubliken kämpfen, wedelte er auf der Bühne mit russischen Pässen, die man angeblich bei Milizionären gefunden habe. Nun ist es so, dass mit dem Eintritt in die reguläre russische Armee - wie in jeder anderen Armee der Welt - die Pässen abgegeben und durch Identitätsmarken ersetzt werden. Wenn seine Pässen also als nahe liegendes Indiz für irgendetwas herhalten können, dann offensichtlich dafür, dass es sich bei ihren Inhabern genau nicht um Angehörige der russischen Streitkräfte handelt. Jede andere Deutung wäre zumindest erklärungsbedürftig.

Bild: president.gov.ua

Aber es geht noch schlimmer: Das Land, das nach Ansicht der transatlantischen Scharfmacher unbedingt mit Waffenlieferungen unterstützt werden soll, war bis vor kurzem einer der größten Hersteller und Exporteure von Waffen in Europa. Im Jahr 2012 bestand die ukrainische Rüstungsindustrie aus 132 Firmen mit etwa 120.000 Angestellten. Von eigenen Schusswaffen, Munition, Raketen und Raketenwerfern über gepanzerte Fahrzeuge, Panzer bis hin zu Schiffen und Flugzeugen bedienten ukrainische Staatsunternehmen die gesamte Palette an Kriegswerkzeugen.

Alleine 2012 beliefen sich die Einnahmen aus Rüstungsexporten laut Sipri auf 1,34 Milliarden US-Dollar, wobei Panzer und gepanzerte Fahrzeuge den größten Teil der Lieferungen ausmachten. Damit erreichte das Land noch vor zwei Jahren den vierten Rang auf der Liste der weltweiten Rüstungsexporteure. Zwischen 2009 und 2013 lag es an achter Stelle. Wenn John McCain als Vorsitzender des amerikanischen Streitkräfteausschusses nun der Meinung ist, dass dieses Land in den USA Waffen kaufen müsse, dann erwartet er wohl, dass die Ukraine einen relevanten Teil der vom Westen gewährten Kredite in den USA ausgibt.

Europäer am kürzeren Hebel

Jenseits vom Propaganda-Getöse fallen auf der Münchner Sicherheitskonferenz jedoch auch Jahr für Jahr klare Worte. So nutzte Vizepräsident Joe Biden die Bühne für einen kurzen wirtschaftspolitischen Hinweis: Anstatt sich über die hohen Kosten für den Ukraine-Konflikt zu beklagen, sollten die Europäer bedenken, dass auch sie vom derzeit niedrigen Ölpreis profitieren - und nachdenken, ob dieser nicht im Zusammenhang mit der entschlossenen Politik der USA stünde.

Wie zu erwarten, nutzte Joe Biden seine Rede am Samstag außerdem dafür, den Europäern noch einmal Öl- und Gasimporte aus den Fracking-Feldern der USA nahezulegen, um "sich aus der Energieabhängigkeit von Moskau zu befreien". Außerdem sollte die EU "umgehend das Freihandelsabkommen TTIP abschließen, um einen neuen verlässlichen Grundpfeiler für die globale Ordnung zu schaffen" (TTIP, US-Frackinggas und die Sicherheitskonferenz).

Auch der aus Osteuropa stammende Finanzspekulant George Soros, der sich mit der Renaissance-Stiftung und dem Ukrainian Crisis Media Center stark in dem Land engagiert, hatte es in seinem Beitrag auf der Sicherheitskonferenz vor allem auf Geld aus den öffentlichen Haushalten der Europäischen Union abgesehen. Mit seinem Appell, der ukrainischen Regierung sofort mehr finanzielle Mittel zur Verfügung zu stellen, schloss er an Forderungen an, die er zuvor bereits ausführlich in der FAZ darlegen durfte: "Europa muss aufwachen und begreifen, dass es unter Angriff von Russland steht. Die Unterstützung der Ukraine sollte darüber hinaus als Verteidigungsausgaben der EU-Staaten angesehen werden."

In Bezug auf die deutsch-französische Initiative, mit den Regierungen in Kiew und Russland zu einer friedlichen Regelung des ukrainischen Bürgerkriegs zu kommen, ist angesichts des scharfen transatlantischen Gegenwinds Skepsis angebracht. Zum einen weist Mathias Müller von Blumencron in der FAZ zurecht darauf hin, dass der europäische Handlungsrahmen gegenüber Washington und Kiew beschränkt ist: "Werden die Europäer sich durchsetzen? Sie haben das Heft nur halb in der Hand. Niemand kann die Amerikaner davon abhalten, eigene Wege zu gehen."

Zum anderen stehen, egal wie überzeugend Angela Merkel und François Hollande bei den Gesprächen in Moskau und Kiew wirkten, die deutschen Verständigungsbemühungen unter einem äußerst schlechten Vorzeichen. Als der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier vor genau einem Jahr in Kiew eine Vereinbarung für einen geregelten Übergang mit dem ehemaligen Präsidenten Viktor Janukowitsch aushandelte, dauerte es keine 24 Stunden, bis Teile der Opposition das Feuer auf ihre eigenen Mitstreiter eröffneten. Im vergangenen September setzte sich die Eiserne Kanzlerin öffentlich für Verhandlungen mit Moskau ein und signalisierte, dass bei einer Einstellung der Kämpfe in der Ostukraine auch die geplante nächste Stufe der Sanktionen ausgesetzt wird. Völlig überraschend traten die Sanktionen dennoch in Kraft (Doppeltes Spiel in Berlin und Brüssel).

Genau wie vor einem halben Jahr heißt es nun, kurz nach der Sicherheitskonferenz, die EU schiebe neue Sanktionen gegen Russland auf. Die Ergebnisse der Konferenz im weißrussischen Minsk sollen zeigen, wie es weitergeht. Dort sollen am Mittwoch der russische Präsident Wladimir Putin, Petro Poroschenko sowie der französische Präsident und Bundeskanzlerin Angela Merkel zusammenkommen, um einen Waffenstillstand zu erreichen. Einen Tag später wollen die Staats- und Regierungschefs der EU in Brüssel über weitere Schritte im Ukraine-Konflikt beraten. Zu hoffen bleibt, dass inzwischen der Appell im Kanzleramt angekommen ist, den unter anderem der ehemalige Organisator der Münchner Sicherheitskonferenz, Horst Teltschik, veröffentlichte: "Wir dürfen Russland nicht aus Europa hinausdrängen. Das wäre unhistorisch, unvernünftig und gefährlich für den Frieden."