Mindestens 330 Millionen Euro für ein weitgehend nutzloses Medikament

Bild: Transparency

Transparency International hat mit Hilfe von Informationsfreiheitsgesetzen ermittelt, wie viel Geld Bund und Länder für Tamiflu und andere antivirale Medikamente ausgegeben haben

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Deutsche Behörden haben in den Jahren zwischen 2002 und 2009 Tamiflu und Neuraminidase-Hemmer für mindestens 330 Millionen Euro gekauft, berichtet die Nichtregierungsorganisation Transparency International. Dabei handelt es sich um Tamiflu-Kapseln und den Wirkstoff Oseltamivir in Pulverform, beides hergestellt vom Pharmakonzern Roche, außerdem um Relenza der Firma GlaxoSmithKline. Dieser Vorrat sollte ausreichen, um im Fall einer Epidemie eines neuen Influenza-Erregers 20 Prozent der Bevölkerung zu versorgen.

Allerdings waren manche Bundesländer deutlich kauffreudiger als andere: Während Mecklenburg-Vorpommern beispielsweise nur 1,27 Euro pro Einwohner ausgab, waren es in Bayern 3,98 Euro. Dazu kamen Anschaffungen der Bundesbehörden. Als erste hatten Innenministerium und Verteidigungsministerium einen Vorrat zur eigenen Verfügung angelegt. Insgesamt flossen in dem Zeitraum pro Einwohner Deutschlands 4,10 Euro. Diese Bevorratung entsprach den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation (WHO) und dem Nationalen Pandemieplan.

2010 haben die deutschen Behörden die Einkäufe dann scheinbar eingestellt, obwohl eigentlich weiterhin die Vorgabe gilt, für den Fall einer Pandemie Medikamente für jeden fünften Einwohner zur Verfügung zu halten. Laut einem Bericht des Spiegels überarbeitet das Robert-Koch-Institut gegenwärtig den Pandemieplan. Tamiflu hat eine begrenzte Haltbarkeit, ein großer Teil der Medikamente ist mittlerweile nicht mehr brauchbar und musste entsorgt werden.

Panik und Geschäft

Überall in Nordamerika und den USA wurden während des vergangenen Jahrzehnts große Vorräte mit Tamiflu und anderen antiviralen Mitteln angelegt. Weltweit sollen dafür ungefähr acht Milliarden US-Dollar gezahlt worden sein (Im Schweinsgalopp ins Impfchaos). Es grassiert die Angst vor einer weltweiten Grippewelle, die wie die Spanischen Grippe nach dem 1. Weltkrieg Millionen Menschen das Leben kosten würde. Allerdings stellten sich die Ausbrüche der Vogelgrippe im Jahr 2005 und der Neuen Influenza ("Schweinegrippe") im Jahr 2009 als vergleichsweise harmlos aus.

Dass es sich damals zweimal um einen Fehlalarm handelte, ist aber wohl gar nicht der entscheidende Punkt. Denn auch wenn sich ein neuer aggressiver Influenzavirus global verbreitet hätte, hätten die Vorratslager wenig genutzt. Neuraminidase-Hemmer stoppen die Vermehrung der Viren, indem sie ihre Ablösung von den Wirtszellen verhindern. Laut Studien der unabhängigen Cochrane Collaboration verkürzt Tamiflu aber die Grippesymptome nur um einige Stunden. Umstritten ist vor allem, ob Tamiflu hilft, zusätzliche bakterielle Entzündungen in den unteren Atemwegen zu verhindern, eine häufige Todesursache bei Infektionen. Damit Tamiflu wirkt, muss das Mittel wahrscheinlich unmittelbar nach einer Ansteckung eingenommen werden, was praktisch schwer festzustellen und umzusetzen ist.

Darstellung eines Influenza-Virus. Bild: CDC

Eine Studie von Cochrane-Autoren bezweifelt sogar, ob Tamiflu überhaupt die Neuraminidase hemmt. Laut Experten wie dem Epidemiologen Ulrich Keil von der Universität Münster ist die Wirksamkeit "vergleichbar mit gründlichem Händewaschen" - was allerdings eine wesentlich günstigere Behandlungsweise als die Einnahme von Oseltamivir wäre, das pro Kilo 7.700 Euro gekostet hat.

Tatsächlich hatten Experten der US-amerikanischen Federal Drug Administration (FDA) schon im Rahmen der Zulassung 1999 Zweifel geäußert, ob Tamiflu die Ausbreitung und Schwere einer Epidemie mildern könne. Tamiflu und Relenza (Wirkstoff Zanamivir, ebenfalls ein Neuraminidase-Hemmer) wurden dennoch volle Verkaufserfolge. Den Herstellern gelang es mit einer Kampagne, den Entscheidungsträgern die tödlichen Gefahren einer Pandemie vor Augen zu führen. Unter anderem finanzierten sie die European Scientific Working Group on Influenza (ESWI), die Einfluss auf die Empfehlungen des Notfall-Komitees der WHO hatte. Später stellte sich heraus, dass Experten dieses Komitees Beziehungen zur Pharmaindustrie unterhielten.

Laut Transparency International gab es in den deutschen Behörden zögerliche und skeptische Stimmen, die eigentlich gegen den Ankauf von Tamiflu und Relenza waren, sich aber nicht durchsetzen konnten. Eine Schlüsselrolle spielte bei der Entscheidung wohl das RKI, das ebenfalls mit dem ESWI zusammen arbeitete.

Erst die hartnäckigen Recherchen des British Journal of Medicine und der Wissenschaftler Peter Doshi und Tom Jefferson seit 2008 brachten Widersprüche und Übertreibungen in den Forschungsergebnissen von Roche ans Licht. So wurde das Medikament Tamiflu zu einem Lehrstück über die Meinungsmacht der Pharmaindustrie, die unangenehme Daten aus der Forschung herunterspielen oder verschwinden lassen kann. Transparency fordert jetzt "eine neutrale wissenschaftliche Bewertung des tatsächlichen Gefahrenpotentials" durch "unabhängige Experten".

Informationsfreiheitsgesetze schaffen Transparenz - ein bisschen

Hartnäckigkeit zahlt sich aus, manchmal wenigstens. Zwei Jahre lang bemühte sich eine Projektgruppe der Nichtregierungsorganisation um Informationen zu den Vorgängen um die Pandemie-Vorbereitungen. Die zuständigen Behörden zeigten sich überraschend hilfsbereit und überließen sämtliche Kaufverträge, wenn auch teils mit Schwärzungen. Nur Sachsen stellte sich quer. Dabei half möglicherweise, dass Tamiflu in der Öffentlichkeit mittlerweile deutlich skeptischer beurteilt wird. Transparency stelle gleichlautende Anträge nach den Informationsfreiheitsgesetzen an die zuständigen Bundes- und Landesbehörden. "Ohne diese Gesetze hätten wir die Informationen nicht bekommen", sagt der stellvertretende Vorsitzende Christoph Partsch.

Allerdings gibt es, von den Geldsummen abgesehen, wenig neue Informationen dazu, wie die Entscheidungsprozesse wirklich verlaufen sind. Und wenn es um wirklich unangenehme Sachverhalte geht, mauern die Behörden trotz geltender Informationsfreiheitsgesetze weiterhin. So weigert sich das Bundesinstitut für Arzneimittel trotz eines entsprechenden Gerichtsbeschlusses, Transparency Einsicht in Unterlagen zu geben, die Licht in die Praxis der sogenannten Anwendungsbeobachtungen bringen könnten. Mit diesen Beobachtungen sind finanzielle Zuwendungen verbunden, auf diese Art beeinflussen Medikamente-Hersteller die Verschreibungen von Ärzten.