"Wir können nicht davon leben, uns gegenseitig die Haare zu schneiden"

Warum Dienstleister auch ohne Industrie Wohlstand produzieren können

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"Wir können nicht davon leben, uns gegenseitig die Haare zu schneiden." Mit diesem Basta-Dogma wollte der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder bei einem Besuch im Bochumer Opel-Werk im Bundestagswahlkampf 2002 daran "erinnern", dass die Industrieproduktion Basis allen deutschen Wohlstandes sei, und dass Dienstleister wie Friseure nur einen Reichtum umverteilten, der anderswo erzeugt werde.

Ähnlich äußerte sich die Wirtschaftsredakteurin Jutta Vossieg 1994 im Kölner Stadt-Anzeiger.1 Sie hatte per Statistik festgestellt, dass die Bereiche Energie, verarbeitendes Gewerbe (Industrie) und Bau 1970 noch rund 55 Prozent der westdeutschen Arbeitsplatze stellten, 1992 aber nur noch rund 35 Prozent, während Banken und Versicherungen, kommerzielle Dienstleistungen, Organisationen ohne Erwerbszweck und Gebietskörperschaften gewachsen waren. Ihr verbissener Kommentar dazu: "Nur wenn sie [die Industrie] und ihre mittelständischen Zulieferer konkurrenzfähige Produkte herstellen und erkaufen, kommt Geld herein, um Dienste zu bezahlen und den dort Beschäftigten ebenfalls ein Auskommen zu sichern."

Diese Lehre geht zum Teil auf Karl Marx zurück, zum Teil wurde sie ihm wohl unterstellt.2 Und sie ist falsch. Wertschöpfung entsteht - das ist in der Volkswirtschaftslehre eigentlich unbestritten - in der gesamten Wirtschaft und nicht bloß in der Industrie. Überall, wo jemand eine Leistung verkauft, die ein anderer haben will, weil sie ihm nützlich ist, und wo der erzielte Preis die Kosten des Anbieters übersteigt, wird Wert geschöpft.

Auszug aus dem gerade im Westendverlag erschienenen Buch "Die dümmsten Sprüche aus Politik, Kultur und Wirtschaft und wie Sie gepflegt widersprechen" von Jens J. Korff.

Sprüche wie "Es gibt keine Alternative" oder "Viel hilft viel" werden gerne benutzt, um Diskussionen zu beenden. Jens Jürgen Korff zeigt mit seinen munteren Dogmenkritiken das genaue Gegenteil, dass an diesem Punkt nämlich die Diskussion erst beginnt. Er entlarvt "unumstößliche Wahrheiten" als Glaubenssätze und erschüttert das festgefügte Weltbild so manches Betonkopfs mit schlagenden Gegenbeispielen.

Schauen wir uns dazu folgendes Szenario an: Die Lehrerin Schulze bringt dem Sohn des Bankkaufmanns Meier Lesen und Schreiben bei und bekommt dafür 50 Euro Gehalt vom Staat. Der Bankkaufmann Meier handelt mit der Damenmodehändlerin Lehmann einen Kredit aus und bekommt dafür 50 Euro Gehalt von der Bank, die diese aus Lehmanns Zinszahlungen finanziert. Die Damenmodehändlerin Lehmann verkauft der Frau des Sachbearbeiters Berger eine Bluse und verdient damit 50 Euro. Der Sachbearbeiter Berger sorgt dafür, dass die Friseurin Schmidt bei Tag und Nacht telefonieren kann, und bekommt dafür 50 Euro Gehalt vom Telefonkonzern, finanziert aus Frau Schmidts Telefonrechnung. Die Friseurin Schmidt schneidet der Lehrerin Schulze die Haare und verdient damit 50 Euro. Ihren Verdienst muss sie versteuern; aus der Einkommensteuer der Friseurin Schmidt finanziert der Staat ein paar Tage Gehalt der Lehrerin Schulze.

Dieser Kreislauf der Dienstleistungen funktioniert, und das Statistische Bundesamt registriert 5 mal 50 = 250 Euro Bruttoinlandsprodukt, auch wenn keine einzige Tonne Stahl oder Beton und kein einziges Auto produziert und verkauft wird. Sicher, viele Dienstleistungen sind von Industrieprodukten abhängig, aber das gilt genauso anders herum: Die Industrieproduktion ist auf Dienstleister angewiesen, auf Finanzdienstleister, Logistiker, Handler, Softwaredienstleister, Marketingdienstleister, Unternehmensberater, Juristen, Reinigungskräfte, Kantinenpersonal, Arzte, Krankenschwestern, Friseurinnen, Lehrerinnen und beamtete Verkehrsplaner.

Das Verrückte ist: Auch der Umstand, dass Industrie ohne Dienstleister nicht funktionieren kann, wird von vielen Autoren als "Beweis" für den Primat der Industrie gedeutet. Sie sagen dann: Industrieunternehmen bilden den Leistungskern der Wirtschaft, und die "unternehmensnahen" Dienstleister die Peripherie, die von den Aufträgen des Kerns lebt.3 Hier also entscheidet nach dem Glauben der Industriedogmatiker der Auftrag über das Machtverhältnis. Dass in einer Beziehung zwischen Kunde und Lieferant beide Seiten voneinander abhängig sind - der Kunde braucht die Leistungen des Lieferanten, der Lieferant braucht die Aufträge des Kunden -, fällt in dieser Sichtweise unter den Tisch.

Was ist in den vielen umgekehrten Fällen, die es ja schon lange gibt? Telefonunternehmen verkaufen und verwalten Handyverträge, und ihre industriellen Zulieferer liefern die Handys dazu. Medienkonzerne produzieren und verkaufen Fernsehsendungen und Musik; Hersteller von Unterhaltungselektronik liefern die nötigen Gerate dazu. Software-Unternehmen entwickeln und vermarkten faszinierende Computerprogramme; Hardware-Hersteller liefern die dafür nötigen Gerate.4 Die Deutsche Bahn organisiert und vermarktet Verkehrsdienstleistungen; industrielle Zulieferer produzieren die nötigen Loks und Waggons. Banken und Versicherungen organisieren Finanzdienstleistungen; Büromöbelhersteller liefern ihnen die dafür nötigen Möbel. Krankenhäuser kümmern sich um Gesundheit und Pflege ihrer Patienten; Arzneimittel- und Medizintechnikhersteller liefern die nötigen Hilfsmittel dazu. In allen diesen Fallen bilden Dienstleister den Leistungskern und "unternehmensnahe" Industriebetriebe stellen peripher die nötigen Gerate oder Hilfsmittel her. Wenn die Industriedogmatiker einmal solche Fälle betrachten sollten, dann werden sie entdecken, dass nicht die Aufträge, sondern die Leistungen die Abhängigkeit begründen; dann ist auf einmal nicht der Auftraggeber, sondern der Lieferant entscheidend, denn ohne seine Leistung läuft nichts.

Das Problem ist auch philosophisch interessant. Arbeit, bei der Gegenstände entstehen, die hoffentlich auch menschliche Bedürfnisse befriedigen, gilt als wertvoll. Arbeit, die ganz direkt und ganz bestimmt menschliche Bedürfnisse befriedigt, etwa nach Bildung, Gesundheit oder Schönheit, gilt als zweitrangig. Ist das nicht seltsam? Vermutlich steckt hinter dieser schiefen Sicht und hinter Schröders Opel-Irrtum der Fetischcharakter des Stahls, des Betons; das sind Dinge von scheinbar bleibendem Wert, die ein Gefühl von Sicherheit geben, wie es der Sozialpsychologe Erich Fromm in seinem Werk "Haben oder Sein" beschrieb.5

Wer in Europa Stahl platt walzt oder Betonklotze in die Gegend stellt, geht mit dem Selbstbewusstsein durchs Land, dass ohne ihn aller Wohlstand, alles Haben sofort verschwände. Wer in Europa bettlägerige Alte pflegt oder Kindern Lesen beibringt oder Frauen die Haare schneidet, hat das untergründige Gefühl, dass er oder sie eine Art Luxus produziert, der "irgendwie" auf Kosten eines Stahlarbeiters oder Betonbauers finanziert wird. Dabei ist eher das Gegenteil der Fall: Den zigtausendsten Betonklotz Niedersachsens würde wohl niemand vermissen. Altenheime, Schulen, Backereien, Gemüseläden und Friseursalons sind dagegen unersetzlich. Streiks in der deutschen Stahlindustrie hat es in den vergangenen vierzig Jahren schon mehrere gegeben; Auswirkungen auf das Alltagsleben der Deutschen hatten sie keine. Ein Streik der Lokführer dagegen hatte 2014 spürbare Auswirkungen; ein Streik der Altenpflegerinnen, der Bäckereiverkäuferinnen oder der Beleuchter im Fernsehen würde ebenfalls sofort viele Millionen Menschen betreffen.

Für Dienstleister gilt ein alter Sinn- und Singspruch der Arbeiterbewegung6 noch, leicht modernisiert:

Alle Glotzen bleiben leer, wenn du sagst: Ich mag nicht mehr.

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