Lieber Minsk als Friedenstruppen

Kiew stößt mit seinem Vorschlag auf Ablehnung, ungewiss ist bei allen Parteien, wie es weiter gehen soll

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Der ukrainische Präsident Poroschenko will die militärische Niederlage, die er schönzureden sucht, mit einem Vorschlag wettmachen, der eigentlich erst einmal ganz vernünftig klingt, auch wenn er über das Minsker Abkommen hinausgeht. Er schlug nach einer Sitzung des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates eine vom UN-Sicherheitsrat mandatierte Friedensmission zur Sicherung des Waffenstillstands und zur Beobachtung der ukrainisch-russischen Grenze in der Ostukraine vor. Damit würde die OSZE, die nach dem Minsker Abkommen, für die Überwachung zuständig wäre, ausgeschaltet.

Zumindest bei Merkel und Hollande stieß der Vorschlag auf keine Begeisterung. In einem Vierer-Gespräch im "Normandie-Format" mit Putin und Poroschenko einigte man sich darauf, weiter am Minsker Abkommen festzuhalten. Die OSZE solle den Waffenstillstand und den Rückzug der schweren Waffen überwachen, so die Darstellung der Bundesregierung. Gefordert wurden keine Friedentruppen, sondern der ungehinderte Zugang der OSZE-Beobachter nach Debaltseve und zu den anderen kritischen Gebieten.

Poroschenko hatte vorgeschlagen, dass die Friedenstruppen vor allem aus der EU kommen sollen. Das beste "Format", das Wort setzt sich durch, sei eine Mission in der Art der EU-Polizeimission. Russische Soldaten seien nicht erwünscht, es gäbe bereits genügend russische Friedenstruppen in den "Volksrepubliken", kommentierte er ironisch. Offenbar stieß der Vorschlag bei Merkel und Hollande auf keine Begeisterung. Sie dürften wenig Interesse daran haben, Soldaten direkt in den Konflikt hineinzuschicken, selbst wenn die Mission vom UN-Sicherheitsrat mandatiert würde. Lieber setzt man auf weitere Finanzspritzen für den Pleitestaat. Da müssten aber auch Russland und China zustimmen. Vor allem würde dann Russland darauf dringen, auch mit eigenen Kräften an der Mission beteiligt zu sein, ansonsten dürfte Moskau die OSZE bevorzugen.

Angeblich haben sich mittlerweile alle ukrainischen Soldaten aus Debaltseve zurückgezogen. Kiew und die "Volksrepubliken" werfen sich weiterhin aber gegenseitig Verletzungen des Waffenstillstands vor. So behauptet die "Volksrepublik Donezk", ukrainische Truppen würden wieder Donezk beschießen. Die Führung beider "Volksrepubliken" erklärten gestern Abend, sie würden aus dem Minsker Abkommen aussteigen, wenn weiter Städte und Dörfer von ukrainischen Streitkräften beschossen würden. Sie selbst würden vermeiden, auf die "Provokationen" der anderen Seite zu reagieren.

Obgleich Poroschenko weiterhin von einem geordneten Rückzug aus Debaltseve spricht, handelte es sich offensichtlich um eine Flucht in letzter Minute. Wie viele Soldaten in dem Kessel geopfert wurden, weil sie standhalten sollten, ist noch unbekannt. Nach der New York Times waren die Soldaten, die es bis Artemivsk geschafft hatten, "demoralisiert und betrunken". Sie sollen auch herumgeschossen haben, um Alkohol in einem Restaurant zu erhalten, ohne dafür zu bezahlen. Um Artemivsk wurden neue Stellungen eingerichtet, aber es herrscht Angst, dass die Separatisten bzw. russische Soldaten, wie es heißt, weiter vorrücken könnten, um die Stadt und dann auch Slawjansk einzunehmen.

Im Augenblick gibt es auf allen Seiten ein Einhalten. Die Lage wird sondiert, um die nächsten Züge im geopolitischen Spiel zu planen und zu bewerten. Die militärische Karte ist zunächst einmal zugunsten der Separatisten und damit wohl auch im Interesse Russlands gezogen worden. Die US-Regierung wartet ab, die Nato drängt auf Aufrüstung, da angeblich in den "Volksrepubliken" zahlreiche russische Soldaten kämpfen sollen, die EU setzt unter der Führung von Merkel und Hollande weiter auf das Minsker Abkommen. Zwar wären jetzt nach der "Begradigung" der Frontlinie zugunsten der Separatisten ein Waffenstillstand und der Rückzug der schweren Waffen denkbar, aber wie es dann mit den weiteren Beschlüssen weiter gehen soll, ist völlig unklar.

Vermutlich würde sich die EU mit einem eingefrorenen Konflikt, also mit einer faktischen Autonomie der "Volksrepubliken" und der Annexion der Krim, abfinden, wenn die Nato zugunsten der osteuropäischen und baltischen Länder an der Grenze zu Russland aufrüstet. Man wird weiter Geld in die Ukraine stecken, um die ausbleibende militärische Unterstützung zu kompensieren, allerdings dürfte die Solidarität dann ein Ende finden, wenn wie jetzt aus Kosovo in Zukunft absehbar viele Ukrainer ihr Heil in der EU finden wollen. Solange Obama US-Präsident ist, dürfte auch Washington wenig Interesse haben, den Konflikt zu verschärfen, nachdem der Nahe Osten wieder zum Problem wurde. Und Moskau würde auch gut damit leben können, schließlich hätte man sich damit durchgesetzt. Mit einer solchen "Befriedung" könnte auch die Einbeziehung Russlands in die Lösung der Konflikte mit Iran, Syrien, Libyen etc. bessere Chancen haben. Unsicher ist freilich, ob die Separatisten nicht ihren gegenwärtigen Erfolg ausbauen wollen, um ihr Gebiet für die Bildung von "Neurussland" zu vergrößern, und ob Kiew nicht auf eine Eskalation setzt, um die USA und die EU hinter sich zu zwingen.

Aus einem distanzierten, leidenschaftslosen Blick könnten die irgendwann, irgendwie entstandenen Nationalstaaten, die meist keine sind, auch nicht sakrosankt sein. Warum sollte der Irak gewaltsam ein Land bleiben und nicht zerfallen? Warum wird den Kurden verwehrt, einen eigenen Staat zu bilden? Warum sollte die Krim nicht Russland gehören, vermutlich war dies auch ein Mehrheitswunsch der Bevölkerung, und warum sollten sich die "Volksrepubliken" nicht von der Westukraine abspalten dürfen? Staaten sind historisch geworden - und sie haben sich verändert. Warum sollen Menschen sterben, um eine Veränderung zu verhindern? Die Bewohner der "Volksrepubliken" wurden nicht frei und geheim befragt, was sie wollen. Wäre es nicht an der Zeit, ein solches Referendum abzuhalten, anstatt der fast religiös verklärten Ideologie der Nation zu folgen?