Maidan-Gedenkfeier und ein angeblich von Russland geplanter Anschlag

Gauck wollte mit seiner Teilnahme ein "Zeichen der Solidarität mit der ukrainischen Demokratiebewegung setzen"

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Bundespräsident Joachim Gauck ließ es sich nicht nehmen, gestern am "Marsch der Würde", der Gedenkveranstaltung anlässlich des Jahres Jahrestags der Maidan-Morde, teilzunehmen. Gauck wollte ein "Zeichen der Solidarität mit der ukrainischen Demokratiebewegung setzen". Die Morde führten dazu, dass aufgrund der Maidan-Aktivisten das mit Hilfe Deutschlands, Frankreichs und Polens zustande gekommene Abkommen mit Janukowitsch und den Oppositionsparteien gebrochen und dieser gestürzt wurde. Vertreten waren ansonsten Regierungsmitglieder aus den baltischen Staaten, aus Polen, der Slowakei, Georgien und Moldawien sowie der Präsident des EU-Rats, der Pole Donald Tusk. Geehrt wurden die gewissermaßen heiliggesprochenen "Himmlischen Hundert".

Staatschefs und Präsidenten auf dem "Marsch der Würde". Screenshot aus dem Video

Auffallend ist, dass meist nur von den getöteten Zivilisten und Maidan-Aktivisten, nicht aber von den ebenfalls getöteten Polizisten gesprochen wird. Zudem hat es die ukrainische Regierung noch nicht geschafft, die Morde aufzuklären. Gemeinhin wird erklärt, dass die Täter bei den Sondereinheiten zu finden seien, die auf Befehl von Janukowitsch gehandelt hätten. Hin und wieder wird auch kolportiert, weil alles Böse von Russland ausgehen muss, dass Moskau letztlich die Fäden gezogen habe. Das wird vom Vorsitzenden des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats Turtschninow auch als angeblich bewiesen dargestellt.

Von den einst inhaftierten Berkut- und SBU-Mitarbeitern, die unter dem vor wenigen Tagen abgesetzten Generalstaatsanwalt Vitaliy Yarema belangt wurden, sollen nur zwei niedrige Offiziere verurteilt worden sein, ein höherer Berkut-Offizier wurde auf Kaution freigelassen und ist seitdem verschwunden.

Viele Indizien sprechen dafür, dass Schüsse auch von anderen Parteien gekommen sein müssen, möglicherweise aus den Reihen der bewaffneten so genannten "Selbstverteidigungskräfte", die später die Reihen der Nationalgarde und der Miliz füllten (Blutbad am Maidan: Wer waren die Todesschützen?, Kamen die Scharfschützen aus der Opposition?). Dem ist die ukrainische Justiz nicht nachgegangen. Das ist auch kaum verwunderlich, denn die Maidan-Morde bilden den Gründungsmythos der "Revolution der Würde" und des gepflegten Schwarz-Weiß-Bilds von den Guten und den Bösen. Dabei hatte zwar auch die Janukowitsch-Regierung überlegt, gegen die Aufständischen mit einer Antiterroroperation vorzugehen, dies aber verworfen, während die neue Regierung in Kiew gegen den Antimaidan in der Ostukraine sehr schnell eine militärische Antiterroroperation eingeleitet hat, Kritik aus dem Westen hat hier praktisch nicht dazu gehört.

Verwunderlich ist die mangelnde Aufklärung auch deswegen nicht, weil die "Selbstverteidigungskräfte" des Maidan ihre Interessen auch in der neuen Regierung durchsetzen konnten. So wurde der "Kommandeur des Maidan" Andreji Parubij (Mitbegründer der faschistischen Sozial-Nationalen Partei der Ukraine und mit Jazenjuk dann bei der Vaterlandspartei) zum mächtigen Vorsitzenden des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates ernannt. Der militante Kommandeur der Spezialeinheiten des Maidan, Wolodymyr Parasiuk, war maßgeblich für das Ultimatum an Janukowitsch und ist jetzt Abgeordneter.

Beide arbeiteten eng mit Jarosch, dem Chef des Rechten Sektors zusammen, deren Mitglieder meist bewaffnet waren. Erster Generalstaatsanwalt nach dem Sturz von Janukowitsch wurde Oleh Machnizkyj von der rechten Swoboda-Partei. Auch er versuchte bereits, die Morde alleine auf Janukowitsch oder die Russen zurückzuführen (Die Freunde des Westens: Swoboda-Abgeordnete in Aktion). Poroschenko entließ ihn zwar im Juni aus dem Amt, machte ihn aber zu einem seiner Berater, was er bis Anfang Februar blieb.

Anschlag in Charkow

Überschattet wurde die Gedenken an die Toten in der Ukraine nicht nur von obskuren Antimaidan-Kundgebungen in Russland, die ideologisch gegensätzlich ausgerichtet waren und an denen die Teilnehmer teils bezahlt wurden, durch einen Anschlag auf eine Gedenkfeier in Charkow, wo es letztes Jahr auch zu Auseinandersetzungen zwischen Maidan- und Antimaidan-Anhängern gekommen war ("Rechter Sektor" mordet im ostukrainischen Charkow). Im Vorfeld war bereits erwartet worden, dass es zu Störversuchen und Anschlägen kommen könnte. Es ist bislang der Höhepunkt einer zunehmenden Welle von Anschlägen in der Ostukraine. Auch in Odessa war eine Bombe gefunden worden, die aber die Polizei entschärfen konnte.

Anschlagsopfer in Charkow. Bild: Innenministerum

Bei dem Sprengstoffanschlag wurden 3 Menschen, darunter ein Polizist, getötet und 15, darunter 5 Polizisten, verletzt. Da es bei dem Marsch, der mit einer Trauerfeier für die im Krieg gefallenen ukrainischen Soldaten enden sollte und an dem einige hundert Menschen teilgenommen haben, zu Verzögerungen gekommen war, konnte die Bombe mit Zeitzünder nicht so großen Schaden verursachen, da sie explodierte, bevor der Zug angekommen war.

Der Vorsitzende des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrats Turtschninow erklärte schnell, dass man die Verantwortlichen bereits festgenommen habe. Man habe bei ihnen Waffen und einen Raketenwerfer gefunden, sie seien in Russland ausgebildet worden. Das beweise, so Turtschninow, dass der Anschlag von denselben Kräften ausgeführt wurde, die hinter der Aggression im Osten der Ukraine stehen. Es sei eine Antiterroroperation in diesem Gebiet gestartet worden. Unklar bleibt, wie die mutmaßlichen Täter so schnell identifiziert werden konnten und welche Beweise für ihre Verantwortung sprechen. Angeblich planten die Festgenommenen mit einem Flammenwerfer russischer Provenienz einen Anschlag auf einen Club, in dem sich Soldaten treffen, so der SBU, sowie weitere Anschläge etwa auf ein Einkaufszentrum.

Die Separatisten verbreiten die Ansicht, Innenminister Avakov hätte den Anschlag als False-flag-Operation inszeniert, um die Stadt zum Gebiet einer Antiterroroperation zu erklären.

Rückzug schwerer Waffen angekündigt

Die Situation im Kriegsgebiet ist weiterhin instabil. Während aus der Ukraine von Angriffen auf Mariupol berichtet wird, bezichtigen die Separatisten die ukrainischen Streitkräfte, erneut Wohngebiete in Donezk zu beschießen. Angeblich wollen beide Seiten nun die schweren Waffen zurückziehen, den Abzug soll die OSZE überwachen. Der Leiter der Beobachtermission äußerte allerdings Skepsis. Um den Rückzug beobachten zu können, müssten sie wissen, welche schweren Waffen beide Seiten haben, wo sie sich jetzt befinden und wohin sie abgezogen werden sollen. Ein Gefangenenaustausch hat bereits stattgefunden, 140 ukrainische Soldaten wurden gegen 52 Separatisten ausgetauscht.

Michael Bociurkiw, der Leiter der OSZE-Beobachtermission, wiederholte gestern, dass die Beobachter während der Kämpfe nicht nach Debaltseve wegen der Separatisten gekommen seien: "Die Separatisten gaben uns keine Sicherheitsgarantien für Debaltseve, was bedeutet, dass sie uns blockiert haben." Das ist freilich Auslegungssache. Am Samstag konnten die Beobachter erstmals Debaltseve besuchen, nachdem die Separatisten eine Sicherheitsgarantie geleistet hätten. Die Beobachter seien an den Checkpoints beider Seiten aufgehalten worden: "Wir brauchen sicheren Zugang." Debaltseve sei eine "Katastrophe". Es gebe kein unbeschädigtes Haus. Russische Medien berichten, es seien noch einige hundert ukrainische Soldaten eingekesselt.

ATO-Sprecher Lysenko berichtete von Erfolgen, nachdem die Rede von großen Verlusten der ukrainischen Truppen in Debaltseve war. Man habe in dem Gebiet seit Beginn des Jahres 2.911 Separatisten getötet, behauptete er am Samstag, und mehr als 40 Panzer und 30 Raketenwerfer zerstört. Seit 15. Februar, seit dem Waffenstillstand, habe man 868 Separatisten in dem Gebiet "neutralisiert". Das klingt wenig nach Einhaltung der Waffenruhe, sollte es denn stimmen.

Die britische Sunday Times lässt einen ehemaligen britischen "Elitesoldaten" von der Unzulänglichkeit der ukrainischen Streitkräfte erzählen. Der 40-Jährige habe in Afghanistan und im Nahen Osten gedient und die Armee verlassen, um ukrainische Soldaten für den Kampf gegen sie Separatisten zu trainieren. Die Niederlagen der ukrainischen Streitkräfte, etwa in Debaltseve, sei auf mangelnde Führung, Ausbildung und Disziplin zurückzuführen. Meist handele es sich um Freiwillige oder Eingezogene. 60 Prozent der Gefallenen seien Opfer der eigenen Streitkräfte (friendly fire) und der Unfähigkeit, mit Waffen richtig umzugehen.