Journalismuskritik

Initiative wählt Top Ten der vernachlässigten Nachrichten

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Der Journalismus ist in letzter Zeit irgendwie ins Gerede gekommen. In letzter Zeit? Nachgewiesene Fehler in der Ukraine-Berichterstattung der ARD oder der Syrien-Berichterstattung des ZDF legen nahe, dass irgendetwas mit der angemaßten Rolle etwa der öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten als objektive Berichterstatter nicht stimmt.

Auch der Kampfbegriff von der "Lügenpresse", der zurecht zum Unwort des Jahres gewählt worden ist, deutet darauf hin, dass bestimmte Bevölkerungskreise ihr Vertrauen in eine faire und sachliche Berichterstattung verloren haben. Die große Zahl an Medienwatchblogs, von denen der Bildblog oder die die medienkritische Internetseite von Ex-F.A.Z.-Mitarbeiter Stefan Niggemeier nur die bekanntesten sind, setzen die traditionellen Medien zusätzlich unter Druck und legen den Finger in die Wunde von mangelhaftem Fact-checking, trübseliger Recherche und teils tendenziöser Berichterstattung.

Das alles zusammen könnte darauf hindeuten, dass es strukturelle Probleme in der journalistischen Weltwahrnehmung gibt, die über die aktuellen Fehlleistungen hinausgehen. Diesen Strukturdefiziten des Journalismus nachzugehen, hat sich die Initiative Nachrichtenaufklärung (INA) e.V. zum Ziel gesetzt. Schon seit 1997 geht die INA den blinden Flecken der Medienlandschaft auf den Grund und sucht nach vergessenen News, unterdrückten Themen und ignorierten Geschichten. Aus dieser Melange wird einmal im Jahr eine Top Ten-Liste der vernachlässigten Nachrichten gewählt.

Dass der INA seit nunmehr 17 Jahren die Themen nicht ausgehen, zeugt schon davon, dass journalistische Nachrichtenselektion ein schwieriges, umkämpftes und vermintes Terrain darstellt. Die Gründe dafür, dass im Journalismus bestimmte Themen und Thematiken immer wieder hinten rüber fallen, sind vielfältig. Ein Grund besteht im journalistischen Rudelverhalten: Journalisten stürzen sich gerne auf immer die gleichen Themen. Als "Meute" hat die Fotografin und Filmemacherin Herlinde Koelbl schon vor einigen Jahren die Berliner Hauptstadtjournalisten beschreiben - immer im Tross, immer auf dieselben Protagonisten und Stimmen aus.

Ein weiterer Grund für nachrichtliche Vernachlässigung besteht in Themenkarrieren: Jede Geschichte und jede Thematik hat ihre Halbwertszeit und gilt irgendwann als "auserzählt". Danach mag der Bürgerkrieg in Syrien weitertoben, Ebola in Westafrika weiterwüten, die Medien haben aber dazu nichts mehr zu erzählen. Wieder ein anderer Grund besteht in der Unterkomplexität von Journalismus: Sachverhalte die zu kompliziert, zu technisch oder zu wissenschaftlich sind, haben es extrem schwer, von Journalisten erzählt zu werden. Die simple Personalisierung von Storys, krude Schwarz-weiß-Schemata und leichtfertige Gut-Böse-Unterscheidungen kommen journalistischem Storytelling einfach mehr entgegen.

Überwiegend Netz- und Datenthemen

Auch in diesem Jahr hat die INA darum aus einem Füllhorn von Themenvorschlägen, die jedermann und jedefrau auf der Website der Initiative einreichen kann, die Top Ten der vernachlässigten Nachrichten 2015 gewählt. Studentische Rechercheteams an Hochschulen und Universitäten in Hamburg, Bremen, Köln, Dortmund, Gelsenkirchen, Stuttgart und München haben übers Jahr Sachverhalte und Relevanz geprüft und sind in Medienanalysen der Vernachlässigung der Storys nachgegangen.

Eine 20-köpfige Jury aus Journalisten und Fachwissenschaftlern hat in der vergangenen Woche bei ihrem Jahrestreffen an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft (HMKW) in Köln das Ranking diskutiert und abgestimmt. Zu den Jurymitgliedern zählen als Journalisten Edith Dietrich (WDR), Hardy Prothmann (Rheinneckarblog), Petra Sorge (Cicero), Rita Vock (Deutschlandfunk) und Günter Wallraff (als er selbst). Zu den Wissenschaftlern zählen Peter Ludes von der Jacobs University Bremen, Horst Pöttker von der TU Dortmund und Jörg-Uwe Nieland von der Sporthochschule Köln. Für folgende Themen hat die Jury sich dieses Jahr entschieden:

  1. Verkaufte Links: Wie Medien ihre Glaubwürdigkeit untergraben
  2. Undurchsichtige Finanzen bei politischen Stiftungen
  3. Prekäre Verhältnisse in Ausbildungsberufen
  4. Fragwürdiger Umgang mit Patientendaten
  5. Weißes Papier, schmutziges Geschäft
  6. Überwachung in Skigebieten
  7. Arbeitsbedingungen von Strafvollzugsbeamten
  8. Facebook erforscht Künstliche Intelligenz
  9. Millionen-Grab Polizei-Software
  10. Moderne Rasterfahndung per Handy

Dass gleich sechs Themen, wie der Blog netzpolitik.org bemerkt, um Netz- und Datenthemen kreisen, ist vermutlich kein Zufall: Hier klafft die Lücke aus journalistischem Anspruch, häufig mangelhaftem technischem Know-How und der Komplexität des Themas besonders gerne auseinander.

Das Top 1-Thema etwa greift einen Sachverhalt auf, der aus nachvollziehbaren Gründen in Mainstreammedien nicht thematisiert wird: Dass nämlich genau diese Mainstreammedien in ihren redaktionellen Angeboten Werbelinks verkaufen, obwohl dies klar gegen das gesetzliche Trennungsgebot von Inhalt und Reklame verstößt. Aber auch die Story von der flächendeckenden Überwachung von Hobbysportlern in Skigebieten macht eine Malaise deutlich: Nämlich dass private Firmen (in diesem Fall der Hersteller von Einlasskontrollsystemen Skidata) ihre monopolistische Stellung zu unüberschaubaren Datensammlungen missbrauchen können. Das Millionengrab der Polizeisoftware "PIAV" (Polizeilicher Informations- und Analyseverband) zeigt, dass nicht nur der Journalismus, sondern auch staatliche Stellen an der Komplexität der Wirklichkeit verzweifeln können.

Der Fingerzeig auf die undurchsichtigen Finanzen bei politischen Stiftungen weist darauf hin, dass gerade Finanz- und Wirtschaftsthemen es häufig in der Berichterstattung sehr schwer haben, ein großes Publikum zu erreichen, obwohl sie relevant für große Teile der Bevölkerung sind. Die Stiftungen, wie die Konrad-Adenauer-Stiftung, die Hanns-Seidel-Stiftung und andere, beziehen nämlich einen großen Teil ihrer Einnahmen aus Steuermitteln, und das in exorbitanter Höhe. Fast eine halbe Milliarde Euro bekamen die sechs Stiftungen im vergangenen Jahr aus dem öffentlichen Haushalt. Warum, von wem und wofür ist völlig intransparent, was auch die NGO Transparency International beklagt.

Zwei Themen der Top Ten-Liste entstammen der Arbeitswelt. Denn auch dieses Berichterstattungsfeld erscheint fernab von Pilotenstreiks und ausfallenden Unterrichtsstunden von Lehrern erheblich medial unterbelichtet. Die soziale Situation von Lehrlingen in Deutschland wird eigentlich nur einmal im Jahr thematisiert, nämlich im Spätsommer, wenn wieder einmal Lehrlingsmangel moniert wird. Das aber stellt nur die Arbeitgebersicht dar. Die INA will dazu ermuntern, mal zu hinterfragen, warum denn für viele junge Leute ein Ausbildungsberuf unattraktiv ist, und hat ein Ranking der zwanzig schlechtestbezahlten Ausbildungsplätze erstellt.

Die Erfahrungen der INA aus den vergangenen Jahren lehren, dass auch die Top Ten-Themen von den Medien hauptsächlich als Kuriosität vermeldet werden. Dabei wünscht sich die Initiative, dass die Themen von Journalisten wirklich aufgegriffen und weiterberichtet werden. Dazu stellt die INA neben ausführlichen Juryberichten auch ihre Rechercheprotokolle zur Verfügung.

Um die mediale Berichterstattung auch selbst forcieren zu können, ist die Initiative dieses Jahr erstmalig eine Kooperation mit dem Deutschlandfunk eingegangen. Auf der Website des Senders ist zum Beispiel die Top Ten-Liste in einer Multimediapräsentation aufbereitet. Künftig möchten INA und Deutschlandfunk regelmäßig vernachlässigte Themen über das Radioprogramm verbreiten.

Hektor Haarkötter ist seit vergangenem Jahr geschäftsführender Vorstand der INA e.V. und Journalistikprofessor an der Hochschule für Medien, Kommunikation und Wirtschaft (HMKW) in Köln.