Russland: Provokation oder Eliminierung eines Oppositionellen?

Nach der Ermordung des Oppositionspolitikers Nemtsov gedeiht die Gerüchteküche

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Nach der kaltblütigen und ganz offensichtlich demonstrativ nahe des Kremls in aller Öffentlichkeit durchgeführten Ermordung des russischen Oppositionspolitiker Boris Y. Nemtsov (55) kocht allseits die Gerüchteküche. Angeblich wollte Putin-Kritiker Nemtsov, der in Begleitung einer jungen ukrainischen Frau war, nicht nur heute an einer Demonstration gegen Putin teilnehmen, die nun zu einem vermutlich anklagenden Trauermarsch verwandelt wurde. Genehmigt wurden 50.000 Teilnehmer. Nemtsov war angeblich willens, eine Schrift über die Verstrickung von Putin in den Krieg in der Ukraine veröffentlichen. Das klingt nach einem Drehbuch, das gerade in Argentinien inszeniert wurde, wo aber die Täter auch noch unbekannt sind.

Dass Nemtsov die Beteiligung von russischen Truppen am Krieg in der Ostukraine nachweisen wollte, berichtet das russische Magazin New Times. Zudem habe er Morddrohungen erhalten. Der wirtschaftsliberale, nach Westen orientierte Nemtsov unterstützte die Maidanbewegung sowie später ukrainische Regierung gegen die Separatisten und den Kreml und propagierte die Westbindung der Ukraine.

Man kann davon ausgehen, dass es sich um einen politischen Mord handelt. Schwieriger ist die Frage, wer die Auftraggeber waren. Die russische Regierung, sollte man meinen, hätte vermutlich andere Möglichkeiten, sich eines unbequemen Kritikers zu entledigen, als einen spektakulären Mord neben dem Kreml auszuführen, der die Aufmerksamkeit der Weltöffentlichkeit findet. Es sei denn, es würde eben darum gehen, mit diesem Mord innenpolitisch ein abschreckendes Signal zu setzen, dass jede Opposition brutal unterdrückt wird. Man wird sehen, wie der Mord aufgeklärt wird, aber auch schon, wie die heutige Protestveranstaltung, die zu einer Trauerkundgebung umfunktioniert wurde, ablaufen wird. Die ukrainische Begleiterin von Nemtsov wird befragt, aber die Aussagen bleiben bislang unter Verschluss.

Putin kondolierte der Mutter des Ermordeten und versprach, alles zu tun, um die Mörder zu finden und zu bestrafen. In dem Schreiben konstatierte er, dass Nemtsov "offen und anständig" seine politische Haltung vertreten hat. Am Tag zuvor hatte sich der Sicherheitsrat getroffen. Offenbar will das von Putin einberufene Untersuchungskomitee der Möglichkeit nachgehen, dass der Mord in Verbindung mit islamistischem Terrorismus steht, weil sich Nemtsov klar im Hinblick auf die Verurteilung des Anschlags auf Charlie Hebdon positioniert habe, was aber sehr unwahrscheinlich ist und eher nach einem Ablenkungsmanöver klingt. Dass der Mord mit dem Krieg in der Ukraine zusammenhängt, liegt hingegen schon näher.

In Regierungskreisen und Pro-Kreml-Kreisen vertritt man die These, dass der Anschlag eine Provokation sei, um Russland und die russische Regierung zu destabilisieren, was sowohl auf nationalistische russische Kreise als auch auf die Ukraine verweisen könnte. Auch Michail Gorbatschow neigt zu dieser Behauptung. Das geht so weit, dass Manche behaupten, Nemtsov sei von Anti-Putin-Kreisen getötet wurden, um einen Märtyrer zu schaffen.

Opposition und die ukrainische Regierung zeigen mit dem Finger hingegen auf den Kreml. Der ukrainische Präsident Poroschenko erklärte gestern, die ukrainischen Streitkräfte würden strikt das Minsker Abkommen umsetzen und die schweren Waffen zurückziehen, während die Separatisten nur schwindelten. Das russische Fernsehen habe nur einen vorgetäuschten Rückzug aufgenommen, danach wären die schweren Waffen wieder an die Front gebracht worden. Damit widerspricht Poroschenko aber auch dem Bericht der OSZE. Man ist im Propagandamodus.

Dafür spricht auch, dass Poroschenko ebenfalls bekundet, Nemtsov, der ein großer Freund der Ukraine und ein russischer Patriot gewesen sei, hätte Beweise für russische Truppen in der Ostukraine vorlegen wollen. Da Kiew aber beständig bereits solche Beweise vorlegt und von der Nato sekundiert wird, wäre die Frage, was nun so aufsehenerregend an den Beweisen sein sollte. Der ukrainische Präsident hält sich gleich wohl bedeckt und sagte nur, jemand habe Angst gehabt: "Boris hatte keine Angst, aber die Mörder. Sie töteten ihn."

Die unabhängige Zeitung Istwestia weist allerdings darauf hin, dass der ehemalige stellvertretende Regierungschef unter Jelzin auch kein armer Mensch war und vielfältige Beteiligungen an Unternehmen hatte. Gerüchte ranken sich um die junge Frau, die Nemtsov begleitet hat. Sie habe Wirtschaft studiert, aber auch als Model gearbeitet und sei im Geschäft als "Escort Service" gewesen. Es gebe auch Hinweise darauf, dass sie vor kurzem in der Schweiz abgetrieben habe. Der Mord könne eine Strafe dafür sein, dass er sie zur Abtreibung gezwungen habe. Kaum vorstellbar.