Private Initiativen gegen den Notstand auf dem Mittelmeer

Aus GO 46 wird die Sea Watch. Bild: Ruben Neugebauer/Jib collective/Seawatch

Derzeit sind so viele Menschen auf der Flucht wie seit dem 2. Weltkrieg nicht mehr. Dass Tausende auf dem Mittelmeer ertrinken, nehmen Privatleute und Aktivisten nicht mehr hin

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Vergangenes Jahr hatte die italienische Regierung mithilfe der Marine mehr als 140.000 Geflüchtete auf dem Mittelmeer aufgegriffen und aufs Festland gebracht. Italien betonte stets, dass es sich dabei eigentlich um ein europäisches Problem handele, mithin die EU Hilfe leisten müsse. Zwar erhielt Italien finanzielle Unterstützung bei der Unterbringung der Migranten, die italienische Seenotrettungsoperation "Mare Nostrum" wollten die übrigen 27 Mitgliedstaaten aber nicht weiterführen (Wegschauen, statt Flüchtlinge retten).

Mittlerweile hat die EU-Grenzagentur Frontex ihre Operation "Triton" gestartet, die aber mit einem weit bescheideneren Budget ausgestattet ist. Während Italien für "Mare Nostrum" monatlich rund neun Millionen Euro ausgab, verfügt "Triton" lediglich über maximal 2,8 Millionen Euro. Auch das Einsatzgebiet wurde auf italienische Hoheitsgewässer verkleinert.

Die Mitgliedstaaten Europäischen Union warten also lieber ab, welche Flüchtlinge es überhaupt noch bis an italienische Küsten schaffen. Deshalb sind mittlerweile private und politische Initiativen zur Seenotrettung entstanden. Eine davon ist "Sea-Watch". Telepolis hat mit Harald Höppner, einem der Initiatoren, gesprochen.

Mit dem Projekt "Sea Watch" verfolgt ihr den Aufbau einer zivilen Seenotrettung auf dem Mittelmeer und kritisiert die Europäische Union, dass diese dazu "nicht willens" sei. Was passiert derzeit vor europäischen Küsten?

Harald Höppner: Wir leben in einer Zeit multipler Krisen, noch selten war an so vielen Orten gleichzeitig Krieg wie im Moment, hinzu kommen die Folgen von Klimawandel, Armut, Hunger, die jährlich viele tausend Menschen in die lebensgefährliche Flucht über das Mittelmeer treiben. Aufgrund der restriktiven Einreisebestimmungen der Europäischen Union können sich diese Menschen nicht einfach ein Fährticket kaufen um von ihrem Grundrecht auf Asyl Gebrauch zu machen. Viele wagen dennoch die Überfahrt, oft in viel zu kleinen, seeuntauglichen und meist völlig überladenen Booten, darunter alte Menschen und Kinder. Mehrere tausend Menschen sind an der Seegrenze um Europa bereits ertrunken. Für diese Toten trägt die Europäische Gemeinschaft die mit Verantwortung, wir wollen bei diesem Sterben nicht mehr tatenlos zuschauen.

In atemberaubender Geschwindigkeit habt ihr die Idee von "Sea-Watch" umgesetzt und sogar schon ein Schiff, 1.000 Schwimmwesten und 50 Rettungsringe gekauft...

Im Moment wird das Schiff in Hamburg für seinen Einsatz bei der Ersthilfe in Seenot geratener Geflüchteter aufgerüstet. Diese Woche haben wir den Hauptmasten bekommen, er dient nicht nur als Träger für Kommunikationstechnik, er macht das Schiff auch stabiler bei Wellengang und hilft beim Bewegen von Deckslasten, zum Beispiel unserem Beiboot, mit dem wir uns Booten mit Geflüchteten annähern können.

Harald Höppner. Bild: Ruben Neugebauer/Jib collective/Seawatch

Wann und wie soll es losgehen?

Harald Höppner: Unser Projekt erfährt in letzter Zeit viel Unterstützung, es gibt viele Menschen, die die EU-Grenzpolitik wie wir unerträglich finden und auf verschiedene Art helfen. Wegen der vielen Helfer kommen wir mit dem Umbau und den Planungen gut voran und sind zuversichtlich, dass wir Ende März in Richtung Malta auslaufen können. Der Hilfseinsatz im Zielgebiet startet dann voraussichtlich im Mai

Wie muss man sich das vorstellen, wenn ihr Geflüchtete auf dem Mittelmeer antrefft? Um Menschen in Seenot aufzunehmen, ist euer Schiff doch viel zu klein?

Harald Höppner: Das ist richtig, das Schiff ist zu klein, um eine große Anzahl Geflüchteter aufzunehmen, allerdings wird die "Sea-Watch" nicht nur mit Schwimmwesten, sondern auch mit aufblasbaren Rettungsinseln ausgestattet werden. Diese Teile kann man sich im Prinzip wie eine Art Hüpfburg vorstellen, eine schwimmende Plattform, die den Geflüchteten einen Schutz vor dem Ertrinken bietet, bis professionelle Hilfe eintrifft....

… die von euch verständigt wird?

Harald Höppner: Natürlich. Denn eigentlich ist es die Aufgabe der Seenotrettungsbehörden vor Ort, Schiffbrüchige zu retten, die werden allerdings von der EU-Grenzagentur Frontex regelrecht daran gehindert. Klaus Rösler, der deutsche Direktor der Abteilung für Einsatzangelegenheiten bei Frontex, hat kürzlich die italienischen Behörden quasi dazu aufgerufen, die Seenotrettung einzuschränken. Rösler meinte, italienische Schiffe müssten nicht mehr in jener Zone des Mittelmeers operieren, in der die lybische Küstenwache zuständig ist. Dort hatte Italien aber mit der Aktion "Mare Nostrum" gute Arbeit geleistet. Das ist wichtig, denn der lybische Staat ist kaum noch existent und kümmert sich auch nicht um die Seenotrettung. Wir werden deshalb in erster Linie als schwimmendes Auge auf See fungieren und die professionelle Rettung einfordern.

Wer seid ihr eigentlich und woher kommt die Initiative? Wie finanziert ihr das Projekt?

Harald Höppner: Das Projekt "Sea-Watch" ist ursprünglich eine Initiative von 4 Familien aus dem Barnim in Brandenburg. Wir wollen nicht länger tatenlos zusehen, wie Menschen im Mittelmeer sterben, weil es für sie keinen legalen Weg nach Deutschland beziehungsweise Europa gibt, um hier ihr Recht auf Asyl in Anspruch zu nehmen. Dieser Initiatoren-Kreis hat auch die Mittel aufgebracht, um das Projekt zu starten, also für den Schiffskauf, die nötigen Umbauten und den Sprit für die ersten Monate auf See. Wenn sich das Projekt bewährt, möchten wir mit einer Crowdfunding-Kampagne den Weiterbetrieb finanzieren. Und zwar solange, wie die Situation auf dem Mittelmeer einen solchen Einsatz nötig macht.

Schon letztes Jahr hatte ein Millionärsehepaar aus Malta mit dem MOAS-Projekt das Mittelmeer mit einem hochseetauglichen Schiff und einer Drohne nach Geflüchteten in Seenot abgesucht und nach eigenen Angaben 4.000 Menschen gerettet. Das Projekt "Watch the Med!" aus europäischen und nordafrikanischen Aktivisten hat im Herbst ein Notruftelefon für Schiffe auf dem Mittelmeer eingerichtet und dokumentiert unterlassene Hilfeleistungen von Marine und Handelsschiffen. Arbeitet ihr mit den beiden Initiativen zusammen?

Harald Höppner: Natürlich arbeiten wir mit anderen Initiativen zusammen, die wie wir die unerträgliche Situation auf dem Mittelmeer verändern wollen, das geht gar nicht alleine. Wir stehen mit dem MOAS-Projekt in Kontakt und mit "Watch the Med!" arbeiten wir eng zusammen. Wir überlegen auch, die Notrufnummer von Watch the Med auf unser Schiff zu malen, um sie bekannter zu machen. Außerdem kooperieren wir mit den Menschenrechtsorganisationen Borderline Europe, Human Rights at Sea und vielen mehr.

Wie kann es weiter gehen?

Harald Höppner: Wir haben lediglich ein kleines Schiff, mit dem wir versuchen, unseren Teil zu leisten und so viele Menschen wie möglich durch unsere Anwesenheit zu retten und die Informationslücke zwischen Bootsflüchtlingen und Zivilgesellschaft zu schließen. Am Ende sind aber die gesamte europäische Zivilgesellschaft und die Europäische Union gefragt, den Notstand auf dem Mittelmeer zu beenden. Bis dahin bleiben wir vor Ort und freuen uns über Unterstützung.