Scheitert Afghanistan nach dem Abzug der Nato-Kampftruppen endgültig?

Nach einem Bericht der US-Aufsichtsbehörde ist die Zahl der Soldaten um 8,5 Prozent gesunken, Telepolis hat bei Bundeswehr und Politikern zu den Folgen der Nato-Mission nachgefragt

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Im Augenblick sind die USA stärker im Kampf gegen den Islamischen Staat in Syrien und im Irak engagiert als in Afghanistan. Während der Kampfeinsatz in Afghanistan Ende letzten Jahres offiziell abgeschlossen wurde, auch wenn US-Truppen weiterhin die afghanischen Soldaten bei Kampfeinsätzen unterstützen werden, wurden erneut amerikanische Truppen im Irak stationiert. Bei Beendigung des Kriegseinsatzes im Irak hatte der damalige Regierungschef al-Maliki, dessen diskriminierende Politik gegenüber den Sunniten zu deren Revolte und der Ausbreitung des IS auch im Irak wesentlichen beigetragen hatte, mit der US-Regierung keine Vereinbarung über die weitere Stationierung von Soldaten schließen wollen. Kernpunkt war damals, dass die US-Soldaten nicht der irakischen Gerichtsbarkeit unterstehen.

Der Beginn des Irak-Kriegs hatte schon 2003 dafür gesorgt, dass Afghanistan aus der Aufmerksamkeit fiel und sich die Taliban und andere bewaffnete Gruppen wieder stärker etablieren konnten. Erst der nach dem Vorbild der vorübergehenden Truppenaufstockung im Irak auch in Afghanistan Ende 2009 bis 2012 ausgeführte Surge vermochte die Aufständischen zurückzudrängen, die aber seit einiger Zeit ihre Aktivitäten verstärken und besonders gegen "Soft Targets" in den Städten vorgehen. Vermutlich haben die Aufständischen den Abzug der Truppen abgewartet, um im Frühjahr wie üblich mit einer Offensive zu beginnen, die größer sein und gefährlicher werden könnte wie die vorangegangenen. Wiederholt sich also die Geschichte, weil Multitasking bei Militär, der Politik und den Medien schwierig ist?

Dass eine vermutlich gefährliche Frühjahrsoffensive bevorsteht, dessen ist man sich auch bei der Isaf-Nachfolgemission Resolute Support gewiss. Zudem haben sich mit dem Abzug der Nato-Kampftruppen die Kämpfe zwischen Aufständischen und afghanischen Soldaten und Sicherheitskräften gehäuft, unter denen es entsprechend mehr Tote und Verletzte gegeben hat. Zwar meint der für den Afghanistan-Einsatz zuständige Kommandeur, US-General John Campbell, dass damit die Legitimation der sich als Befreiungskämpfer ausgebenden Taliban untergraben werden könnte, allerdings dürfte dies auch erklären, warum vor allem die Zahl der afghanischen Soldaten sinkt. Sie haben vermutlich Angst, da die Situation in Afghanistan instabil ist. Niemand weiß, ob sich die neue Regierung wird halten können, ob die afghanische Armee die Taliban und andere Kämpfer im Zaum zu halten vermag, so dass diese nicht größere Gebiete kontrollieren können, und ob der Zentralstaat sich gegenüber den Warlords und lokalen Machthabern durchsetzen kann.

Die primäre Aufgabe von Resolute Support ist die Ausbildung der afghanischen Sicherheitskräfte. Bild: Resolute Support

Vor kurzem hat der von US-Regierung eingesetzte Special Inspector General for Afghanistan Reconstruction (SIGAR) in einem Bericht gewarnt, dass die Truppenstärke der afghanischen Streitkräfte (ANA) schrumpft (attrition). Anstatt den 350.000 afghanische Soldaten und Polizisten, die derzeit nach Angaben etwa der Bundeswehr angeblich im Dienst seien, seien es nur noch 320.000, darunter gerade einmal 860 Frauen. Letztes Jahr hätten mehr als 15.000 Soldaten den Dienst verlassen, das seien 8,5 Prozent, so dass der Stand von 2011 wieder erreicht wurde. Auch die Zahl der Polizisten sei gesunken (Die Truppenstärke der afghanischen Streitkräfte schrumpft). US-General Campbell hatte letzte Woche in seinen Ausführungen vor dem Streitkräfteausschuss eingeräumt, dass es eine hohe Personalabgangsrate gibt. Das habe bereits Auswirkungen auf die Kampfbereitschaft: "Wenn die Rate anhält, wird es mit der Zeit Probleme für den Aufbau der Streitkräfte geben." Gründe seien vor allem schlechte Führung, hohes Einsatztempo, schlechtes Management und mangelhafte Betreuung der Soldaten und Polizisten.

Nachdem das Hauptziel der Nato-Mission Resolute Support mit großer Beteiligung von Deutschland, das 850 Soldaten stellt, der weitere Aufbau des afghanischen Militärs (Train, Advise, and Assist - TAA) ist, könnte das Schrumpfen der Personalstärke der afghanischen Sicherheitskräfte nicht nur die Mission, sondern den gesamten Nato-Einsatz und 13 Jahre Krieg in Frage stellen. Zwar war man zunächst angetreten, al-Qaida und Taliban in Afghanistan auszuschalten und einen demokratischen Rechtstaat aufzubauen, in dem insbesondere die Lage der Frauen gestärkt werden sollte, aber die Ansprüche wurden auch angesichts der verbreiteten Korruption in der islamischen Republik letztlich auf das Ziel reduziert, dass die mit vielen Milliarden Euro finanzierten Sicherheitskräfte die aufgebauten staatlichen Strukturen sichern und Afghanistan stabilisieren können sollen.

Den Sprecher der Bundeswehr für den Afghanistan-Einsatz bat Telepolis um die Beantwortung folgender Fragen: Wie beurteilt die Bundeswehr den SIGAR-Bericht? Warum steigt die Zahl der Soldaten, die sich absetzen? Bestehen Sorgen um die "Leistungsfähigkeit" der afghanischen Sicherheitskräfte? Welche Konsequenzen hat dies für Resolute Support und insbesondere für die Bundeswehr? Was beabsichtigt die Bundeswehr zu tun, um den Trend zu stoppen, falls es ihn gibt? Die Bundeswehr sieht offensichtlich keinen Anlass zur Sorge:

"Um die Thematik vollständig zu durchdringen, ist es unabdingbar Ihnen zu erörtern, wie der zitierte Begriff "Attrition" zu verstehen ist. Hierbei handelt es sich nämlich um die Gesamtheit des "unerwarteten", also aufgrund unerlaubter Abwesenheit, von Entlassungen, Gefallenen, Verstorbenen, die Ausbildung nicht Bestehenden, durch Erkrankung oder Verwundung arbeitsunfähigen Personals, sowie des "planmäßigen" Personalschwundes, also auch reguläres Dienstzeitende und Pensionierung. Vor diesem Hintergrund kann ich Ihnen mitteilen, dass in den ersten elf Monaten 2014 der monatliche durchschnittliche landesweite Personalschwund der afghanischen Armee und der afghanischen Nationalpolizei auf einem insgesamt vergleichbaren Niveau wie im Gesamtjahr 2013 lag.

Eine der Ursachen für den zeitweilig stärkeren Rückgang der IST-Stärke der afghanischen Armee im Jahr 2014 war nach hiesigen Erkenntnissen zufolge hauptsächlich die Rücknahme einer Regelung durch den afghanischen Generalstab, wonach die afghanische Armee von 2012 bis Februar 2014 15 % Rekruten über SOLL einstellen durfte. In der Folge sank die IST-Stärke der afghanischen Armee bis Oktober 2014 ab. Seit Oktober 2014 stiegen die Neueinstellungen wie auch die IST-Stärke der afghanischen Armee wieder an. Eine Trendumkehr ist damit erkennbar.

Die afghanischen Sicherheitskräfte sind insgesamt vor dem Hintergrund der stagnierenden Wirtschaft und der hohen Arbeitslosigkeit in Afghanistan unverändert ein attraktiver Arbeitgeber. Damit bleiben die afghanischen Sicherheitskräfte insgesamt weiterhin regenerationsfähig.

Die Bundeswehr engagiert sich im Rahmen der Mission "Resolute Support" in der Ausbildung, Beratung und Unterstützung der afghanischen Sicherheitskräfte auf höheren Führungsebenen sowie auf nationaler und institutioneller Ebene. Dies schließt die Ausbildung, Beratung und Unterstützung auch im Hinblick auf Regeneration, Personalmanagement und Führungsverhalten mit ein."

Das Argument, dass wegen der hohen Arbeitslosigkeit, also letztlich wegen der Armut, die Menschen Jobs bei den Sicherheitskräften attraktiv finden, ist sicherlich richtig. Allerdings bedeutet dies auch, dass 13 Jahre Krieg wenig an der Situation des Landes geändert haben und dass auch die gegnerischen Kräfte von den Taliban bis zu den Drogenbaronen oder Warlords damit rechnen können, willige Mitkämpfer gegen Bezahlung zu finden. Die Nato berichtete allerdings für Januar/Februar, dass aktuell bestehende Personalstärke von 350.000 Mann auch für 2015 nicht reduziert werden soll, wofür jährlich 5,1 Milliarden US-Dollar aufgebracht werden müssen. Später im Text ist sogar von "mehr als 350.000" Mann die Rede. Langfristig soll die Personalstärke auf 228.500 Mann mit einem jährlichen Budget von 4.1 Milliarden US-Dollar abgesenkt werden.

Kritischer als die Bundeswehr sieht die grüne Bundestagsabgeordnete Agnieszka Brugger, Sprecherin für Sicherheitspolitik und Abrüstung, die Situation:

Die hohe Desertationsrate bei den afghanischen Streitkräften ist sehr besorgniserregend und wirft die Frage auf, wie wirksam und nachhaltig das internationale Engagement ist. Das Verteidigungsministerium muss dringend klären, welche konkreten Gründe die hohe Rate an Deserteuren und welche Auswirkungen diese Entwicklung auf die Resolute Support Mission hat. Generell stellt sich bei Ausbildungsmissionen immer die Frage, wie groß die Gefahr des Missbrauches der erworbenen Fähigkeiten, der Ausrüstung und des Wissens durch die ausgebildeten Sicherheitskräfte ist. Im schlimmsten Fall können Ausbildungsmissionen trotz guter Absicht kontraproduktiv sein, wenn dadurch ungewollt Milizen gestärkt werden oder gar die Gegenseite Zulauf erhält.

Es ist deshalb ein umfassender Ansatz notwendig, der nicht nur die Ausbildung von Sicherheitskräften zum Ziel hat, sondern auch den ganzen Sicherheitssektor und insbesondere die Stärkung einer politischen Kontrolle in den Blick nimmt. Darüber hinaus ist es sehr wichtig, den strukturellen Aufbau und die Kultur der jeweilig auszubildenden Streitkräfte zu kennen und dementsprechend zu berücksichtigen. Es ist es ein großer Fehler, dass bisherige Ausbildungsmissionen kaum kritisch evaluiert werden, denn nur so lassen sich wichtige Lehren für die Zukunft ziehen.

Agnieszka Brugger

In seiner Stellungnahme gegenüber Telepolis ging der verteidigungspolitische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, Henning Otte, auf die möglichen Probleme der Mission "Resolute Support" nicht ein:

Mit dem Ende des Jahres 2014 endete der Kampfauftrag der Bundeswehr im Rahmen der ISAF-Mission. Viele Verbesserungen konnten in den vergangen 13 Jahren erreicht werden, aber Afghanistan hat noch einen langen Weg vor sich. Deutschland engagiert sich auch weiter in Afghanistan. Mit der Ausbildungsmission "Resolute Support" erhalten die afghanischen Streitkräfte weitere Ausbildung und Beratung.

Die Fortsetzung des Aufbaus von schlagkräftigen und gut ausgebildeten afghanischen Sicherheitskräften, ist für die Sicherheit und die damit einhergehende wirtschaftliche Entwicklung des Landes unabdingbar. Modernes Personalmanagement und Führungsverhalten gehören gleichermaßen zur Ausbildung, wie der Umgang mit der Waffe. So trägt Deutschland zielgerichtet zu besserer Ausbildung und Ausstattung und somit zur Ertüchtigung der afghanischen Streitkräfte bei.

Henning Otte

Rainer Arnold, der verteidigungspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, stellte gleichfalls nur fest: "Personell und materiell einsatzbereite afghanische Streit- und Polizeikräfte sind eine wesentliche Grundvoraussetzung für eine friedliche und prosperierende Region am Hindukusch."

Abgeordnete der Linkspartei haben es vorgezogen, nicht Stellung dazu zu nehmen.

Der neue US-Verteidigungsminister Ashton B. Carter hatte schon im Februar bei einem Besuch in Afghanistan erklärt, über die Geschwindigkeit des Truppenabzugs, das Ausmaß der Kampfeinsätze und die Dauer der US-Stützpunkte noch einmal nachzudenken. Die jetzt in Afghanistan stationierten 10.600 Soldaten sollen bis Ende des Jahres auf 5.500 heruntergefahren werden.

Kultur der Straflosigkeit

Aber auch die 13-jährige Präsenz der Nato-Truppen samt anderer Helfer aus dem Westen hat praktisch nichts an der Korruption verändert - und daran, dass die Afghanen teils auch deswegen dem von der Nato stabilisierten Staat skeptisch gegenüberstehen, weil sie einem System der Willkür ausgesetzt sind, das während der Regierungszeit von Karsai mitsamt der Einbindung von Warlords unter den Augen der Nato-Staaten gediehen ist.

Die Menschenrechtsorganisation hat in ihrem Bericht "Today We Shall All Die" anhand einiger krasser Fälle von Polizisten, Geheimdienstmitarbeiter oder Sicherheitskräften herausgearbeitet, dass auch schwerste Menschenrechtsverletzungen wie Massenexekutionen, Folter, Vergewaltigung oder willkürlichen Verhaftungen in Afghanistan in den letzten Jahren nicht geahndet wurden.:

Mehr als 13 Jahre nach dem Sturz der Taliban-Regierung, erleiden Afghanen weiterhin schwere Menschenrechtsverletzungen durch Regierungs- und Militärangehörige und ihre Mittäter. Die Täter werden kaum zur Rechenschaft gezogen und die Opfer können nur selten juristisch dagegen vorgehen. Diese Straflosigkeit beruht auf der Unfähigkeit oder dem NIchtwollen der afghanischen Regierung und ihrer Institutionen, ein schließlich Militär, Polizei und Gerichten, um die Machthaber und Milizen zu bekämpfen, die im Großteil des Landes operieren.

HRW

Trotz der neuen Regierung unter Präsident Ghani und Abdullah Abdullah warnt HRW, dass nach den Erfahrungen die afghanischen Sicherheitskräfte nach dem Abzug der meisten Nato-Truppen weiter von der Zusammenarbeit mit den Warlords und anderen Machthabern abhängen. Damit würden schwere Menschenrechtsverletzungen andauern und die Versprechungen der Allierten untergraben werden. Aufgefordert wird die Regierung, die Kultur der Straflosigkeit zu beenden, während die Unterstützerländer ihre Hilfe an Verbesserungen in der Strafverfolgung binden sollen.

Auch Philipp Münch von der Stiftung Wissenschaft und Politik geht in einem Beitrag deswegen davon aus, dass Resolute Support scheitern wird, zumal die neue Regierung, die aus zwei Lagern besteht, die Korruption weiter blühen lassen dürfte:

Die Sicherheitskräfte sind von einer politischen Ökonomie geprägt, die sich auf insbesondere zwei Aspekte zuspitzen lässt: Zum einen bereichern sich ihre Verantwortlichen an den zur Verfügung stehenden Mitteln, zum anderen sind sie unmittelbar in das politische Patronagesystem Afghanistans eingebettet. Signifikante Teile des Führungspersonals aller Teile der Sicherheitskräfte, also der Afghanischen Nationalarmee, der Afghanischen Nationalpolizei und des Geheimdienstes, veruntreuen größere Mengen der von den internationalen Unterstützern bereitgestellten Versorgungsgüter und des sonstigen Materials. Auch bereichern sie sich an den ebenfalls von Gebern finanzierten Gehältern ihrer teilweise nur auf dem Papier existierenden Untergebenen. All dies belegen etwa die regelmäßigen Berichte des Rechnungsprüfers des US-amerikanischen Afghanistan-Engagements, des Special Investigator General for Afghanistan Reconstruction (SIGAR).