Offene Rechnungen mit Berlin

Erstmals will eine griechische Regierung das Thema der Entschädigungen mit Deutschland klären. Berlin lehnt ab - und ignoriert Papiere von Bundestagsexperten

Der folgende Beitrag ist vor 2021 erschienen. Unsere Redaktion hat seither ein neues Leitbild und redaktionelle Standards. Weitere Informationen finden Sie hier.

In vielen Gebieten hat die griechische Regierung unter Ministerpräsident Alexis Tsipras mit dem Credo der vorherigen Staatsführungen gebrochen. Das betrifft nicht nur die Haltung zur neoliberalen Wirtschaftspolitik der Europäischen Kommission und der Bretton-Woods-Institutionen. Auch im Umgang mit der Geschichte wagt die neue Führung einen Paradigmenwechsel.

Erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs setzt eine Regierung in Athen das Thema der Kriegsschäden durch die deutsche Besatzung (1941-1945) ernsthaft auf die politische Agenda. In Berlin reagiert man stoisch: Alle Ansprüche Griechenlands seien abgegolten oder verjährt, hieß es in den vergangenen Wochen wiederholt von Regierungsseite. Doch auch wenn die Athener Führung es nicht leicht haben wird, ihre Forderungen durchzusetzen: Ganz so einfach kann die Bundesregierung die Ansprüche aus Griechenland nicht abweisen.

Gleich mehrfach haben hellenische Politiker das Thema in den vergangenen Wochen angesprochen. Bei seinem Besuch im Berlin Mitte Februar bekräftigte der griechische Außenminister Nikos Kotzias die Forderung seiner Regierung nach milliardenschweren Reparationszahlungen für Zerstörungen während des Zweiten Weltkrieges. Kotzias verwies auf eine entsprechende Rede von Tsipras. Bei der gemeinsamen Pressekonferenz lehnte sein Deutscher Amtskollege Frank-Walter Steinmeier jegliche Ansprüche aus Athen jedoch ab. Alle Reparationsfragen seien rechtlich abgeschlossen, so der Sozialdemokrat.

Dennoch legte Athens Sonderbotschafter Georgios Chatzimarkakis nun nach. Die deutsche Regierung solle mögliche Milliardenzahlungen für die begangenen Zerstörungen, Verbrechen und Erpressungen an eine zu gründende Förderbank nach Vorbild der deutschen Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) leisten, sagte der ehemalige FDP-Politiker. Chatzimarkakis, der die deutsche und griechische Staatsbürgerschaft hat, war Ende vergangenen Jahres von der damaligen konservativen Regierung zum Sonderbotschafter ernannt worden. Die neue Regierung hat ihn in diesem Amt belassen.

Bundesregierung lehnt alle Forderungen partout ab

Bei der Debatte über deutsche Wiedergutmachung gegenüber Griechenland geht es im Kern um drei rechtlich sehr unterschiedlich gelagerte Themen:

  1. Einen Zwangskredit, den die damalige griechische Kollaborationsregierung den deutschen Faschisten gewähren musste und der nie zurückgezahlt wurde;
  2. Reparationszahlungen für Zerstörungen von Dörfern, Städten und Infrastruktur auf dem Festland und griechischen Inseln, vor allem Kreta;
  3. Individuelle Ansprüche auf Entschädigung durch Opfer oder Nachkommen von Opfern der von den deutschen Besatzern begangenen Massaker.

In der öffentlichen Debatte geht es derzeit vor allem um den ersten Punkt: den Zwangskredit von 1942. Seit Jahren kursieren in Athen von Regierungsstellen in Auftrag gegebene Geheimpapiere, nach denen Deutschland für die erpressten 476 Millionen Reichsmark nach wie vor aufkommen müsse. Nach einem jüngsten, 160 Seiten umfassenden Papier des Finanzministeriums soll sich der akkumulierte Gegenwert auf rund elf Milliarden Euro belaufen. Das Gutachten wurde noch unter dem inzwischen abgewählten Andonis Samaras fertiggestellt. Die neue Regierung will es veröffentlichen. Entsprechende Anträge seien an die Regierung gestellt worden, heißt es aus Parlamentskreisen. Über Reparationen und individuelle Forderungen wurde bislang noch kaum gesprochen.

Die Bundesregierung lehnt alle etwaigen Forderungen der Griechen partout ab. Das Thema sei politisch und rechtlich abgeschlossen, heißt es von verschiedenen Amtsträgern und Sprechern, die offenbar einer internen Sprachregelung folgen. Bei Martin Schäfer, dem Sprecher des Auswärtigen Amtes, hörte sich das bei einer Kontroverse mit Journalisten bei der Bundespressekonferenz unlängst so an:

Ich kann mich da nur (…) in Sache und Wortwahl dem anschließen, was in den vergangenen Monaten und Jahren Herr Seibert für die Bundesregierung und jetzt gerade Martin Jäger für das Finanzministerium gesagt haben und was sicherlich auch ich schon zehnmal für das Auswärtige Amt gesagt habe: Für uns stellt sich diese Frage weder politisch noch juristisch.

"Kenntnisnahme" des Zwei-plus-Vier-Vertrages, kein Verzicht

Ganz so einfach ist die Sache jedoch nicht. Zunächst hatte die damalige griechische Führung bei der Londoner Konferenz über Auslandsschulden Deutschlands 1953 zugestimmt, die eigenen Forderungen "bis zu der endgültigen Regelung der Reparationsfrage" zurückzustellen. Verzichtet hat Athen damit nicht auf etwaige Ansprüche.

1960 dann verpflichtete sich die Bundesrepublik ihrerseits in einem Vertrag mit der griechischen Regierung zur Zahlung von 115 Millionen D-Mark als Entschädigung für griechische Bürger, die Verfolgung aus Gründen der ethischen oder religiösen Zugehörigkeit oder der Weltanschauung erlitten hatten. Der Vertragsgegenstand war also recht eingeschränkt, zudem kamen viele der Hilfen offenbar nicht an.

Spannend wurde es noch einmal 1990, als die Bundesrepublik, die DDR und die Siegermächte den Zwei-plus-Vier-Vertrag schlossen. Bundesregierung und Bundesgerichtshof argumentieren heute, dass mit dem Vertrag alle weiteren Ansprüche auf Reparationen ausgeschlossen seien. Deutschland kann auch die sogenannte Charta von Paris aus dem Jahr 1990 anführen. In diesem Dokument haben die damaligen KSZE-Staaten, also auch Griechenland, "mit großer Genugtuung" Kenntnis von Zwei-plus-Vier-Vertrag genommen. Bedeutet das einen Verzicht auf Reparationen, wie es in Berlin heißt?

Historische Erkenntnisse sprechen gegen die heutige Position. Der "Spiegel" berichtete unlängst unter Berufung auf Archivunterlagen, dass die damalige Bundesregierung unter Helmut Kohl 1990 bewusst den Terminus "Friedensvertrag" vermieden habe. Bei einem Friedensvertrag hätten die früheren Moratorien der Opferstaaten automatisch geendet und das Thema der Reparationen hätte die wiedervereinigte Bundesrepublik belastet. Kohls Unterhändler ersannen daher den Begriff "Zwei-plus-Vier-Vertrag" - und hielten Griechenland bewusst fern vom Verhandlungstisch. Vor diesem Hintergrund klingt es mehr als unglaubwürdig, wenn Berlin heute vermeintlich empört vorbringt, die Griechen hätten sich ja vorher melden müssen.

Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags

Etwas Klarheit in der Sache bieten zwei Gutachten des Wissenschaftlichen Dienstes des Bundestags aus dem Jahr 2013. Die Papiere über den deutschen Zwangskredit von 1942 einerseits und die Frage der Reparationen andererseits waren über ein Jahr lang als Verschlusssache eingestuft und sind erst auf mehrfaches Drängen der Opposition freigegeben worden. Dabei geben sie noch nicht einmal nur der griechischen Seite Recht.

Die 18-seitige Einschätzung zum Zwangskredit legt detailliert dar, dass die Summe sowohl als Teil der Reparationsforderungen als auch als Kredit mit einem "vertragsrechtlichen Darlehensrückzahlungsanspruch" behandelt werden kann. Die Herangehensweisen bergen erhebliche Unterschiede: Bei Reparationsansprüchen wäre Griechenland in Ermangelung einer vertraglichen Regelung nach 1945 auf den guten Willen Berlins angewiesen - und stünde damit auf verlorenem Posten. Ein nicht getilgtes Darlehen, zumal unter Zwang entstanden, könnte in Deutschland zivilrechtlich eingeklagt werden.

Eine Verjährung der griechischen Ansprüche - sowohl in Bezug auf die Zwangsanleihe also auch mit Blick auf mögliche Reparationsansprüche - scheint ebenfalls nicht so eindeutig, wie dies von Vertretern der Bundesregierung dargestellt wird. In dem Kreditvertrag zwischen dem griechischen Kollaborationsregime und der faschistischen Führung in Berlin wird kein Datum für die Rückzahlung genannt. Angesichts des 1953 ausgesprochenen Moratoriums könnte der Zwei-plus-Vier-Vertrag als Zäsur betrachtet werden, ab der eine mutmaßlich rechtswirksame Verjährungsfrist hätte beginnen können.

Tatsächlich haben es die damaligen griechischen Regierungen verpasst, das Thema auf die politische Agenda zu packen. Allerdings ist die Frage der Reparationen immer wieder von griechischen Politikern öffentlich angesprochen worden, so dass Berlin davon Kenntnis erhalten musste. Und: Im November 1995 hat die damalige griechische Regierung dem Auswärtigen Amt eine Verbalnote zukommen lassen, in der das Thema angesprochen wurde.

Politischer Wille in Athen nun vorhanden

Auch bei dem Thema der staatlichen Reparationszahlungen und sonstigen kriegsbedingten Forderungen beruft sich die Bundesregierung heute auf den Zwei-plus-Vier-Vertrag. Auch hier ist die Situation aber nicht eindeutig. Denn das Thema der Reparationen für Staaten, die von dem Deutschen Reich als Rechtsvorgänger des wiedervereinigten Deutschland überfallen und verwüstet worden waren, waren in diesem Vertrag gar nicht angesprochen worden. Zudem war Griechenland an der Ausarbeitung nicht beteiligt und hat den Kontrakt nicht unterschrieben.

Die rückwirkende Kenntnisnahme des Vertrags zwischen den beiden deutschen Staaten und den Siegermächten in der "Charta von Paris für ein neues Europa" als Schlussakte des KSZE-Sondergipfels Ende November 1990 muss - so urteilt der Wissenschaftliche Dienst des Bundestags - nicht zwangsweise als Verzicht auf Reparationen angesehen werden. Die Kenntnisnahme mit "großer Genugtuung" könne sich auch auf die deutsche Einheit und den damit einhergehenden Verzicht auf die ehemaligen deutschen Ostgebiete beziehen. Auch einen Präzedenzfall für die Verjährung von Ansprüchen gibt es im Völkerrecht nicht. Alleine die Verzögerung bei der Einforderung kann (und wird) Griechenland negativ ausgelegt werden.

Nun aber liegt das Thema auf dem Tisch, auch wenn die neue griechische Regierung die Frage der Kriegsschäden effektiv erst 70 Jahre nach Kriegsende, 62 Jahre nach Abschluss des Londoner Abkommens und 25 Jahre nach Unterzeichnung des Zwei-plus-vier-Vertrags anspricht. Damit besteht in Griechenland erstmals der politische Wille, für historische Gerechtigkeit zu sorgen. Nachdem im Jahr 2000 ein Anwalt von Opfern des Massakers im Dorf Distomo im Sommer 1944 das Goethe-Institut in Athen und andere deutsche Liegenschaften vermessen ließ, um individuelle Entschädigungsansprüche durchzusetzen, scheiterte das bis dahin weit gediehene Verfahren an der Blockade des damaligen griechischen Justizministers. Der politische Wille zumindest ist in Athen inzwischen vorhanden.