Über nordatlantische Politpraktiken im Vergleich zum "Putinismus"

Strukturelle Verfassungsfeindlichkeiten - von Staats wegen

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Was "Putinismus" ist, weiß spätestens seit der Mordtat an Nemzow ganz pauschal jeder deutsche Mediennutzer (wenn er nicht zu misstrauischen Fragen neigt): eine Verquickung staatlichen Handelns mit schwer durchschaubaren geheimdienstlichen und terroristischen Aktivitäten; korruptive Beziehungen zwischen Staat und privatwirtschaftlicher Oligarchie; staatlich geförderte Meinungsmache, zum Zwecke der Desinformation.

Um Missverständnisse zu vermeiden: Für all diese Vorwürfe gibt es mehr als genug Anlässe in der gegenwärtigen politischen Realität Russlands. Aber wer sein nachforschendes Interesse in dieser Hinsicht nur nach Osten richtet, versäumt Erkenntnismöglichkeiten in der Betrachtung westlicher, genauer: nordatlantischer Verhältnisse.

Die Staaten der Europäischen Union und die Vereinigten Staaten von Amerika verfügen über Verfassungen, die Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung verbürgen sollen. Verfassung bedeutet nicht unbedingt Verfassungswirklichkeit. Mit diesbezüglichen Diskrepanzen beschäftigt sich zum Beispiel hierzulande das Bundesverfassungsgericht am laufenden Bande. Wer sich reale politische Strukturen im nordatlantischen Raum anschaut und dabei von der Kritik am "Putinismus" zum Vergleich anregen lässt, gerät in Nachdenklichkeit.

Stichwort "Staat, geheime Dienste, Rechtsstaat": Was ist im deutschen Fall mit den (zurückhaltend formuliert) "Ungereimtheiten" beim Umgang mit der NSU, weshalb muss nach langen Jahren dem Oktoberfestattentat (1980) neu nachgegangen werden? Weshalb sind die Verbindungen der Geheimdieste mit der Roten-Armee-Fraktion und ähnlichen Gruppen nie systematisch offen gelegt worden? Wie passen überhaupt die extralegalen Befugnisse und Gewohnheiten des Verfassungsschutzes und anderer Geheimdienste in das Bild eines Rechtsstaates? "Gewaltenteilung" auf ganz andere Weise, als sie in den Lehrbüchern beschrieben wird? Und sind die Verdeckungskünste der Geheimdienste mit dem demokratischen Anspruch auf Transparenz vereinbar?

Oder ein Beispiel aus Italien: Wie kommt es, dass dem Mord an dem Politiker Aldo Moro (1978) jetzt wieder nachgeforscht werden muss? Und die USA - in Fülle sind in deren politischer Zeitgeschichte Mordversuche und Mordtaten von geheimen Auftragnehmern des Staates zu finden, jetzt auch, islamische Regionen betreffend, staatliche Hinrichtungen out of area per Drohne, außerhalb rechtsstaatlicher Verfahren.

Stichwort "Korruption": In den EU-Staaten, auch in Deutschland, und ebenso in den USA sind wirtschaftspolitische Entscheidungen des Staates aufs engste mit Praktiken einer Interessendurchsetzung der Chefmanager von Großunternehmen und Finanzfonds durchsetzt, auch wenn das Wort Oligarchen nur für andere Weltregionen gebräuchlich ist. Hier wird nicht Geld heimlich in die Hand gedrückt, es geht modern zu: Starjuristen oder "wissenschaftliche" Berater im Dienst der privaten Wirtschaft sind den Ministerien willkommen als "Architekten" von Reformen und Gesetzentwürfen. Einsichtige Minister und Spitzenpolitiker können mit späterer privatwirtschaftlicher Betätigung in Aufsichtsräten und Vorständen von Unternehmen rechnen. In den USA vollzieht sich diese Konnektion per ständigem "Drehtüreffekt", zwischen den Kommandohöhen des Staates und der Wirtschaft.

Stichwort "Meinungsmache, Desinformation": Im nordatlantischen Raum besteht Pressefreiheit. Eingeschränkt freilich dadurch, dass diese massenwirksam vor allem durch Großbesitz in Anspruch genommen werden kann, aber immerhin. Die staatlichen Instanzen pflegen in Demokratien keine Sprachregelungen für die Medien zu verordnen. Aber sie haben andere Möglichkeiten, Einfluss zu nehmen - durch "Einbettung" von Publizisten und Journalisten in staatliche Aktivitäten und vor allem in das kommunikative Netzwerk von staatsnahen "Experten"-Clubs, Stiftungen, Konferenzen etc. So wird"Mainstream" in Sachen Politik angezielt. Desinformation muss nicht mittels gefälschter Informationen betrieben werden, sie ist erreichbar durch Sortierung und Aussortierung von Nachrichten und Meinungen. Und Stigmatisierungen sind wichtig: Schon die Benennung "Verschwörungstheoretiker" kann genügen, um Kritiker vom Medienfeld zu verweisen.

Alles lupenrein rechtsstaatlich und demokratisch? So wie es die schönen Verfassungstexte verheißen?

Die nordatlantische politische Welt ist offenbar in der Entwicklung repressiver staatlicher Techniken weitaus moderner als der "Putinismus", was sich historisch ohne Mühe erklären lässt. Für viele Betroffene ist die weniger verdeckte, die "rückständige" Form staatlichen Handelns außerhalb demokratisch-rechtstaatlicher Normative zweifellos bedrängend. Das aber ist kein Grund, verfassungsfeindliche Strukturen in "westlichen" Verfassungsstaaten hinzunehmen oder gar nicht erst wahrzunehmen. Ein auf den "Putinismus" fixierter Blick wirkt als Ablenkung von einer zunehmend fragwürdigen Politpraxis in den Staaten des nordatlantischen Bündnisses.