Warum zwischen dem Apfel und dem Apfelaroma ein Unterschied besteht

Mythen des (Internet)Journalismus - Teil 2

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Ist es das Gleiche, wenn ich einen Kommentar von "Zeit"-Herausgeber Josef Joffe über die Folterpraxis der USA ("Der Teufelspakt", Zeit 52/2014) in der gedruckten "Zeit" oder auf einem E-Reader lese?

Nein, würde Regis Debray dazu sagen. Der 75-jährige französische Intellektuelle hat ein bewegtes Leben hinter sich: Er studierte bei Louis Althusser, war Weggefährte von Che Guevara in Bolivien, Berater des französischen Präsidenten Francois Mitterand und schließlich Professor in Lyon. Dort begründete er auch seine "Mediologie", die Wissenschaft von der Materialität von Zeichen.

Im Mittelpunkt stehen dabei die Wege und Möglichkeiten der Kulturvermittlung über die Zeit hinweg: "Wenn der Mediologe auf jemand trifft, der mit dem Finger auf den Mond zeigt, dann betrachtet er nicht den Mond, sondern den Finger und die Geste des Zeigens."1

Es geht dabei weniger um die Inhalte der Medien als um das Spezifische ihrer Materialität und wie diese die Vermittlung der Inhalte beeinflusst. Debray erläutert den Anspruch der Mediologie anhand von Bildern. Da ist die technische Frage: Wie wird ein Bild hergestellt? Welche Vorlagen und Materialien sind dafür notwendig? Welcher Ausstellungsort und welche Ausbildung? Dann die symbolische Frage: Welcher Inhalt, welcher Sinn wird durch das Bild vermittelt? Schließlich das Politische: durch welchen Einfluss, unter welcher Aufsicht und zu welchen Zwecke wurde es geschaffen?

Diese drei Teilbereiche wirken wechselseitig aufeinander ein und verändert sich einer dieser Teilbereiche, so verändern sich auch die anderen beiden. Symbole und ihr Sinn bedürfen materieller Träger, um wirksam zu werden, so der Ansatz der Mediologie. Während die Geschichte der Philosophie deren Inhalte zum Thema hat, fragt die Mediologie danach, wie diese Inhalte weitergegeben werden und was das wiederum bedeutet - es geht eben um den Finger und nicht um den Mond.

Unschwer lässt sich nun erkennen, was mit der Idee des Journalismus als "Essenz" gemeint ist. Kulturübermittlung durch die Zeitung oder den E-Reader - bleibt Josef Joffe Josef Joffe? Einen ersten Hinweis auf Unterschiede gibt ein morphologischer Vergleich. In der Druckversion ist der Kommentar von Joffe auf der ersten Seite der "Zeit" erschienen und ist damit Teil eines komplexen Systems von Weltordnung. Denn wer meint, die Zeitung sei nur mit Nachrichten und Artikeln bedrucktes Papier, irrt. Sie ist vielmehr ein Analyseinstrument und ein kultureller Kompass, in dem Geschichte sich abgelagert hat. Ihre Struktur spiegelt das wieder. So steht in der Regel die Politik an erster Stelle und ist das wichtigste Ressort. Das hat historisch mit der Emanzipation des Bürgertums vom Adel zu tun. Denn anders als im absolutistischen Königreich bedurfte es in der Republik nun des Aushandelns von Politik - und dazu bedurfte es im Zeitalter der Nationalstaaten eines Mediums, eben der Zeitung. Sie ist so untrennbar mit dem Funktionieren einer Demokratie verbunden.

Der Ort der Veröffentlichung im dreidimensionalen Medium gedruckte Zeitung (also auf den verschiedenen Seiten) sagt also bereits etwas aus, was über den eigentlichen Inhalt hinausgeht: Was wichtig ist, gehört auf die Seite eins. Darüber hinaus bietet auch die räumliche Platzierung eines Artikels auf einer Seite Zusatzinformationen: Was oben steht ist wichtiger als das Untenstehende. Ähnliche Funktion hat auch die Schriftgröße der Überschrift oder die Spaltenzahl. So bietet die gedruckte Zeitung eine komplexe Ordnung der Welt an, gewichtet über die materielle Beschaffenheit der Symbole.

Demgegenüber geht die Version der Zeitung auf dem E-Reader all dieser Zusatzinformationen verloren und dem Leser bleibt im Wesentlichen die Essenz. Was in der gedruckten Zeitung aufgrund der Platzierung als Gewichtung erscheint, entfällt nun, die Artikel weisen hier den gleichen Rang auf. Auf Fingerdruck erscheint dann der Artikel selbst, die Überschriften haben dabei jeweils die gleiche Größe. Dieser Artikel ist dabei ein Solitär, er steht für sich alleine und ohne Bezug zu anderen Nachrichten.

Und in diesem solitären Dasein, in der Reduktion auf den bloßen lexikalischen Inhalt, vollzieht sich der Prozess einer Gleichschaltung von Welt: Alles ist im E-Reader von gleicher Bedeutung, sei es der Kommentar von Josef Joffe, ein Artikel über Timbuktu, das Kochrezept für Spaghetti Bolognese oder der Praxistest für neue Joggingschuhe. Der E-Reader nährt wie insgesamt das Internet die Illusion der Aufhebung von Strukturen der analogen Welt und gibt sich als der große Gleichmacher, dabei sich durch den Verweis auf die "Essenz", den "puren" Inhalt, die lexikalische Bedeutung noch rühmend.

In Wirklichkeit aber entsteht so ein aseptischer Raum der Beliebigkeit, in dem der Kontext und die so entstehenden Konnotationen, also die Einbettung in die stoffliche Wirklichkeit mit all ihren Wirkungszusammenhängen, verdampft wurden. Wer in einen Apfel beißt, trägt die unerschöpfliche Fülle der Wechselwirkungen von Spurenelementen, Vitaminen und Mineralien im Mund. Das Apfelaroma ist dagegen nur ein eindimensionaler Abklatsch. Und das gilt auch für Josef Joffe auf dem E-Reader.