"Jede Krise ist ein intellektueller Glücksfall"

EZB, Frankfurt, Sommer 2014; Bild: Simsalabimbam/CC BY-SA 3.0

Joseph Vogl über die Allianz zwischen Finanzinstitutionen und Politik

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Seit längerer Zeit ist das seltsame Phänomen zu beobachten, dass die Politik unter allen Umständen ihre eigene Entscheidungsmacht an nicht demokratisch legitimierte Institutionen weiter delegieren möchte und dies in zunehmenden Umfang auch tut. Die Politik betreibt Demokratieabbau mit demokratischen Mitteln. Nach den Ausführungen von Joseph Vogl in seinem Buch Der Souveränitätseffekt ist aber dieser Prozess weniger paradox, als man gemeinhin annehmen möchte, weil die Verstrickungen und das einander Zuarbeiten von Politik und Wirtschaft zumindest für den Historiker bereits seit dem Aufkommen der bürgerlichen Gesellschaft zu beobachten waren.

Mit der Finanzkrise wird dies nun auch für die Gegenwart offenbar und wir können gewissermaßen in Echtzeit nachvollziehen, wie sehr Finanzinstitutionen mit tatkräftiger Unterstützung der Politik bis in die Belange souveräner Staaten hinein regieren. Telepolis sprach mit dem Autor.

Herr Vogl, sind die Staaten die Crackhuren der Finanzmärkte?

Joseph Vogl: Nein. Moderne Staaten haben sich in enger Symbiose mit dem Finanzwesen entwickelt. Starke Staatsapparate und dynamische Kapitalmärkte sind parallel und in wechselseitiger Abhängigkeit entstanden. Daraus ist eine Verflechtung erwachsen, die man seit den 1980er Jahren vehement förderte und verstärkte.

Ausgehend von den USA und Großbritannien, dann auch in der Eurozone wurde eine transnationale Exekutive installiert, die aus staatlichen Institutionen wie Zentralbanken, internationalen Verträgen und Organisationen wie IWF, Privatunternehmen wie Ratingagenturen und mächtigen Investoren besteht. Auf diese Weise haben Politik und Finanz gemeinsam eine gleichsam souveräne Macht geschaffen, die nun direkt oder indirekt in die Fiskalpolitik der Nationalstaaten hineinregiert.

Was wissen wir seit der Finanzkrise, was wir vorher nur vermutet haben?

Joseph Vogl: Jede so genannte Krise ist ein intellektueller Glücksfall. In ihr treten Kräfte, Agenten und Machtressourcen hervor, die sonst eher dezent und im Verborgenen operieren. Im Notstand der Finanzkrise seit 2008 konnte man das gut beobachten: Informelle Gremien wie die Troika haben mit ebenso ungewöhnlichen wie informellen Mitteln die Regierungsgeschäfte übernommen und waren dabei ausschließlich durch die politischen und ökonomischen Zwangslagen legitimiert.

"Die Staatsfinanzierung wurde also durch den öffentlichen Kredit stabilisiert"

Sie schreiben von einer mit der Selbstbeschränkung der Politik einhergehenden "Apotheose der Finanz": Was ist darunter zu verstehen?

Joseph Vogl: Damit beziehe ich mich zunächst auf die Entstehung von kapitalistischen Musternationen wie die Niederlande und England im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert. Deren Aufstieg und Expansion wurde durch die konsequente Einbindung privater Financiers und Gläubiger in die Ausübung von Regierungspolitik garantiert. Das geschah einerseits durch international operierende Handelskompagnien, in denen sich Privatleute zu Aktiengesellschaften zusammenschlossen, die staatliche Privilegien und sogar souveräne Befugnisse wie Militärgewalt oder Gerichtsbarkeit erhielten. Erste kapitalistische Unternehmen also.

Andererseits wurde die Staatsfinanzierung durch Kredit, also durch den öffentlichen Kredit stabilisiert. Bestes Beispiel dafür war die Gründung der Bank von England 1694: Ein Konsortium von Staatsgläubigern hat damit über die Abtretung von Steuermonopolen erstmals und dauerhaft staatlich garantierte Einkünfte durch stabile Kreditzinsen erhalten.

"Die moderne Finanz hat sich als parademokratische Enklave entwickelt"

Wie wichtig wird in diesem Zusammenhang die Propagierung des Ausnahmezustands, das systematische Belügen der Bevölkerung und das Wirken klandestin operierender Machtzirkel?

Joseph Vogl: Ich glaube nicht, dass man es hier mit Lügen oder heimlichen Machenschaften zu tun hat. Man musste nur hinsehen. Der Kaiser war immer schon nackt. Was das Verhältnis von Staaten und Finanzwesen betrifft, waren zwei Dinge bemerkenswert: Erstens wurden mit den genannten Institutionen wie öffentlicher Kredit und Zentralbanken einstige Ausnahmezustände auf Dauer gestellt. Man musste Kriege und die damit verbundenen Militärapparate nun nicht mehr über Konfiszierung privaten Eigentums oder mit der Hoffnung auf gnädige Kredite reicher Handelshäuser finanzieren. Staatsfinanzierung und Staatsschuld wurden verstetigt.

Andererseits konnte das nur funktionieren, indem man die Bereiche der Finanz aus den Prozessen der Demokratisierung von Regierungen herausnahm. Etwas schematisch gesagt: Je demokratischer westliche Gesellschaften wurden, desto mehr wurde gerade das Finanzwesen, desto mehr wurde die Stellung der Zentralbanken dem Zugriff demokratisch gewählter Regierungen und Volksvertretungen entzogen. Die moderne Finanz hat sich als parademokratische Enklave entwickelt.

: Welche Rolle spielen in diesem Prozess Institutionen wie die EZB oder Maßnahmen wie der ESM?

Joseph Vogl: Sie gehören schlicht zu den jüngsten und schlagkräftigsten Exponenten dieser Entwicklung. Ihren Statuten nach ist die EZB weder den Regierungen und Parlamenten der Eurostaaten, noch dem Europaparlament oder anderen europäischen Institutionen gegenüber verantwortlich. Und der Europäische Stabilitätsmechanismus ESM, eine Zweckgesellschaft luxemburgischen Rechts, die über die Vergabe von Notkrediten entscheidet, ist mit seinen Organen völlig immun gegenüber legislativer und judikativer Kontrolle. In ihnen verkörpert sich eine souveräne Macht in Sachen Geld-, Finanz- und Kreditpolitik.

Inwieweit sind diese Formen politischer Machtabtretung mit dem Grundgesetz vereinbar?

Joseph Vogl: Das ist eine lange und komplizierte Geschichte. Sie war von heftigen Auseinandersetzungen über Artikel 88 des Grundgesetzes, der die Einrichtung der Bundesbank betraf, und über Artikel 107 des Maastrichter Vertrags von 1992, der den unabhängigen Status der EZB festschrieb, geprägt. Kurz oder vielleicht etwas verkürzt formuliert: Mit den Verfassungsänderungen seit den 1990er Jahren hat man die Abtretung souveräner Befugnisse an die Zentralbanken bis hin zur EZB im Grundgesetz verankert. Und zwar unwiderruflich - so umstritten das auch heute noch ist.

"Die neue Konfliktlinie wird zwischen dem Finanzwesen und dem Rest der Bevölkerung gezogen"

Lassen sich diese Prozesse als Formen von Klassenkämpfen beschreiben?

Joseph Vogl: Vielleicht lässt sich heute eine neue Form von Klassenkampf beobachten. Der betrifft aber weniger die Konflikte zwischen Unternehmen und Lohnabhängigen. Die neue Konfliktlinie wird vielmehr zwischen dem Finanzwesen, also international tätigen Investoren und dem Rest der Bevölkerung gezogen.

Gerade die Verwerfungen in der Eurozone haben gezeigt, dass gewählte Regierungen und Volkssouveränitäten hilflos oder ohnmächtig gegenüber den Diktaten des Finanzregimes sind. Reformpakete, Strukturanpassungsprogramme, Austeritätspolitik - mit allen diesen Maßnahmen regiert die globale Gläubigergemeinde in die einzelnen Volkswirtschaften hinein und kann dort über die Qualität von sozialen und öffentlichen Infrastrukturen, über Vorsorge- und Sicherungssysteme, über Steuer- und Beschäftigungspolitik bestimmen.

"Der europäische Generalkonsens in der Finanz- und Fiskalpolitik könnte kippen"

Wie beurteilen Sie dann in der gegenwärtigen Situation das Vorgehen der griechischen Regierung?

Joseph Vogl: Als Verzweiflungsakt. Abgesehen davon natürlich, dass es um die Abwendung oder den Aufschub des Staatsbankrotts geht, scheint mir die griechische Politik im Augenblick von zwei Spieleinsätzen bestimmt. Einerseits handelt es sich darum, die ökonomisch-technokratische Dimension von Schuldendienst und Kreditfinanzierung zu repolitisieren.

Im Grunde werden so konservative politische Werte wie Gemeinwohl, demokratische Kontrolle, Volkssouveränität gegen den Vollzug von so genannten Reformen aufgeboten, dies sich bislang als desaströs oder ruinös für die griechische Gesellschaft erwiesen haben.

Andererseits sind darin Durchhalteparolen erkennbar: Kann die griechische Regierung im Gerangel mit den "Institutionen" bis zu den Wahlen in Spanien im Herbst 2015 durchhalten, könnte der europäische Generalkonsens in der Finanz- und Fiskalpolitik kippen. Das wissen beide Seiten und das macht beide so nervös.

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