Rojava macht Schule

Eziden (Jesiden) im Shengal wollen Autonomie. Die jüngere Generation stellt neue Fragen

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Die religiöse Minderheit der Eziden ist seit Jahrhunderten Verfolgung und Massakern ausgesetzt. Nun hat der Islamische Staat (IS) im letzten Jahr erneut Jagd auf diese einzigartige kurdische Minderheit gemacht. Die Medien berichteten darüber ausführlich, doch seit Wochen findet man kaum noch Beiträge über die aktuelle Lage in ihrem Kernsiedlungsgebiet. Im Folgenden wird die Entwicklung der letzten Wochen beleuchtet. Darüber hinaus wird den Lesern ein Einblick in diese alte Religion verschafft.

Im August 2014 überfiel der IS (Islamischer Staat) das Shengal-Gebiet in der irakischen Provinz Ninive und es drohte ein Völkermord an der dort lebenden ezidischen Bevölkerung. Zehntausende flohen in das Shengal-Gebirge, tausende wurden ermordet, Frauen und Kinder wurden verschleppt und versklavt. Nur mit Hilfe der HPG (Volksverteidigungseinheiten der PKK) und YPG/YPJ (Volksverteidigungseinheiten aus Rojava/Syrien) konnte ein Korridor geschaffen werden, der den Menschen in den Bergen die Flucht nach Rojava ermöglichte.

Die Peschmerga des irakisch-kurdischen Präsidenten Mesud Barsani, auf deren Schutz sich die Eziden verlassen hatten, zogen sich schon vor dem Angriff des IS zurück. Auch bei der zweiten Offensive des IS im Oktober 2014 sahen die Peschmergas tatenlos zu, wie der einzige, von YPG/YPJ und HPG erkämpfte Versorgungs- und Fluchtkorridor vom IS eingenommen wurde und die verbliebenen Zivilisten und Selbstverteidigungseinheiten eingekesselt wurden.

Ezidische Widerstandseinheiten gegründet

Diese Erfahrung, sich nicht selbst schützen und verteidigen zu können, führte in der Folge dazu, dass sich mit Unterstützung der YPG/YPJ und HPG ezidische Widerstandseinheiten bildeten, die YBŞ - "Yekîneyên Berxwedana Şengale". Zur gleichen Zeit gründete der lange in Deutschland lebende, ehemalige irakische Parlamentsabgeordnete Kasim Sheşo eine zweite Bürgerwehr, die Hêza Parastina Şingal (HPŞ), die das im Shengal-Gebirge liegende Heiligtum Sherfêdin gegen den IS verteidigte.

Yekîneyên Berxwedana Şingal, YBŞ. Foto: Gazilion/gemeinfrei

Zwischen YPG, einzelnen verbliebenen Peschmergas und HPŞ entflammte im Herbst 2014 ein Streit, welche Fahne nun denn in Sherfêdin als Zeichen der Rückeroberung gehisst werden dürfe. Der konnte aber schnell angesichts der stetigen Kämpfe aller Einheiten, von YPG/YPJ und HPG bis YBŞ und HPŞ, gegen die IS-Angriffe beigelegt werden. Die Kommandeure und Stammesführer beschlossen, die HPŞ werde zusammen mit der YBŞ die zukünftige Miliz der Eziden in Shengal stellen. Der Beschluss sieht außerdem vor, dass die Eziden in Shengal sich keiner politischen Partei oder Armee unterwerfen werden.

Hintergrund für diesen Beschluss ist, dass die Partei von Präsident Barsani, KDP, immer wieder versucht hatte, die Region Shengal politisch an die autonome Region Kurdistan zu binden. Laut ÊzîdîPress behauptete die regierungsnahe kurdische Nachrichtenagentur Rûdaw im Dezember 2014 gar, dass die ezidischen Kämpfer und Kämpferinnen nun offiziell dem Peschmerga-Ministerium unterstünden.

"Die KDP und die Eziden sind untrennbare Teile des selben Körpers, und das gilt auch für die KDP und Sindschar", erklärte Präsident Barzani vor wenigen Wochen. Dem widersprachen die Kommandeure der HPŞ in einer Pressemitteilung und bezeichneten dies als "Lüge".

Eziden gründen als eigene politische Einheit den autonomen Kanton Shengal

Dies birgt politische Brisanz in sich. Der Status der Region Shengal innerhalb der Provinz Ninive des Irak war bisher schon zwischen der Zentralregierung des Iraks und der kurdischen Autonomieregion umstritten. Vor dem 4. August 2014 sollte laut Verfassung des Iraks, Artikel 140 geltend gemacht werden, der besagt, dass eine Volksabstimmung über die Zugehörigkeit entscheiden soll. Nun haben sich die Eziden für einen autonomen Kanton nach dem Vorbild der drei Kantone von Rojava in Nordsyrien entschieden (Das Modell Rojava).

Am 14.1.2015 (ein heiliger Tag für die Eziden) gründete sich am Fuße des Shengal-Gebirges der Rat der Eziden von Shengal, "Meclîsa Êzidiyên Şengalê". 200 Delegierte aus dem Newroz-Flüchtlingslager in Derik (Rojava), den Flüchtlingslagern aus dem kurdischen Autonomiegebiet und Flüchtlinge vom Shengal-Gebirge wählten einen 27-köpfigen Übergangsrat und einen 7-köpfigen Exekutivrat, der die Geschäfte führen soll. Hauptausschüsse wurden gegründet: Verteidigung, Diplomatie, Öffentlichkeitsarbeit, Finanzwirtschaft, Frauen und Jugendliche.

Tabula Peutingeriana, Karte des Gebiets von 1265; Ausschnitt; gemeinfrei

Vertreter der KCK (Union der Gemeinschaften Kurdistans), PUK (Patriotische Union Kurdistans), kommunistische Partei, TEV-DA (Demokratische Bewegung der Eziden), Partiya Êzîdîyen Peşveru (Partei der progressiven Eziden) und Tevgera Êzîdîya (Bewegung der Eziden) nahmen ebenfalls an der Versammlung teil und überbrachten Grußbotschaften.

Vertreter der kurdischen KDP nahmen nicht an der Versammlung teil, sondern warnten stattdessen die PKK davor, sich in Shengal einzumischen. Ziel der Konferenz war die politische Mobilisierung der in Shengal lebenden Bevölkerung, sowie die Schaffung von Selbstverteidigungseinheiten nach dem Vorbild von YPG/YPJ. Diese Aufgabe soll die ezidische Widerstandseinheit, die YBŞ, übernehmen. Ferner wurde vereinbart, den 3. August zum ‘Internationalen Shengal Tag’ auszurufen, das ist der Tag, wo die Eziden dem 73. Massaker in ihrer Geschichte ausgesetzt waren.

Die Verfolgung der Eziden

Der Überfall des IS im Shengal im Herbst 2014 mit der Vertreibung zehntausender Menschen, der Ermordung und Verschleppung tausender Männer, Frauen und Kinder, wird als der 73. Genozid (Ferman) seit ihres Bestehens bezeichnet.

Als Religionsgemeinschaft waren sie schon vor Jahrhunderten in den islamischen Dynastien Verfolgung ausgesetzt. Sie mussten und müssen sich entweder für die Konvertierung, die Flucht oder den Tod entscheiden. Im Osmanischen Reich waren sie nicht Teil des Millet-Systems und standen damit noch hinter den Christen und Juden in der sozialen Hierarchie, weil sie keine Buchreligion sind.

Der IS begründet seine Vernichtungsfeldzüge gegen die Eziden mit dem Koran, wonach - gleich welcher Auslegung oder Rechtsschule - die Eziden wegen des Fehlens einer heiligen Schrift nicht in die Kategorie der Schriftbesitzer fallen und somit keine Sonderrechte, sprich Duldung im Machtbereich des Islam, zugestanden werden. Sie sind praktisch vogelfrei.

Die Siedlungsgebiete der Eziden

Die Anzahl der Eziden wird auf ca. 800.000 geschätzt, mit Hauptsiedlungsgebiet im nördlichen Irak, in Nordsyrien und in der südöstlichen Türkei. Ihr Hauptanteil wird mit 160.000 bis 350.000 im Irak geschätzt, Hauptsiedlungsgebiete sind hier die Schaichan-Region nordöstlich von Mossul und im Shengal-Gebiet westlich von Mossul an der Grenze zu Syrien.

Heute leben die Eziden zerstreut in mehreren Ländern. In Deutschland leben ca. 60.000, im restlichen Europa ca. 65.000. In Syrien leben einige tausend Eziden, vorwiegend in Afrin und Qamishlo, wobei sich die Zahl aufgrund der aktuellen Lage im Shengal durch die Flüchtlinge massiv erhöht haben dürfte und in der Türkei leben nur noch wenige Hundert.

Muttersprache der Eziden ist das nordkurdische Kurmandschi. Das Hauptheiligtum des Ezidentums steht in Lalish, Nordirak/Südkurdistan, das derzeitige religiöse Oberhaupt ist Bavê Sheikh Kheto.

Die Religion der Eziden

Die jüngere religionsgeschichtliche Forschung bescheinigt dem Ezidentum einen eigenständigen Charakter ihrer Religion, die nach Ansicht der Eziden älter als das Christentum ist und sich aus dem altpersischen Mithras-Kult oder aus den Kulten der Meder entwickelt hat. Es ist eine kurdische, monotheistische, nicht auf der Heiligen Schrift beruhende und nicht missionierende Religion. Die Mitgliedschaft ergibt sich durch Geburt, dabei müssen beide Elternteile ezidischer Abstammung sein.

Der Glaube der Eziden wird hauptsächlich durch Lieder (Qewals) und Bräuche weitergegeben. Sie führen ihre Abstammung allein auf Adam, nicht auf Eva zurück. Eine Personifizierung des 'Bösen' als zweite Kraft neben Gott gibt es nicht, der Name 'Teufel', Schaitan (arab.) wird nicht ausgesprochen. Die Hölle als Ort ewiger Verdammnis kennen die Êzîden im Gegensatz zu Christen und Moslems nicht. Die wichtigste Figur im ezidischen Glauben ist die des 'Tausî Melek', dem Engel Pfau, den Gott mit 6 weiteren Engeln schuf. 1

Chermera-Tempel auf dem höchsten Gipfel der Sinjar-Berge. Bild: Danpanic77/CC BY-SA 3.0

Es gibt drei Erbklassen oder Kasten: die Scheiche und Pire (pers.: der Ältere) sind Geistliche, sie halten die Religion aufrecht, führen Zeremonien durch und schlichten bei Streitigkeiten. Die Scheiche haben innerhalb der Gemeinschaft auch administrative Pflichten und vertreten die Gemeinschaft nach innen und außen. Sie sind neben dem Mir, dem religiösen und weltlichen Oberhaupt der Eziden, und neben den Priestern und Priesterinnen von Lalisch die Hüter der Religion. Die Muriden (Laien) stellen die dritte und größte Kaste dar und teilen sich in Stämme auf, bei denen die Heirat untereinander erlaubt ist.

Die jüngere Generation und neue Fragen, die sich der Tradition stellen

Die jüngere Generation, vor allem in Europa, akzeptiert diese starren Heiratsregeln nicht mehr, was zu Konflikten innerhalb der Gemeinschaft führt. Auch die jüngsten Vergewaltigungen von Frauen durch den IS stellen eine große Herausforderung dar, werden doch nach ihren Regeln Frauen, die sexuelle Kontakte mit Andersgläubigen hatten, normalerweise aus der Gemeinschaft ausgeschlossen.

Es wird interessant zu verfolgen, wie damit umgegangen wird. Ehrenmorde sind auch in der ezidischen Comunity nicht unbekannt. Haben die jungen, politisch aktiven Eziden in ihren internationalen Vereinen Einfluss auf die Interpretation der ezidischen Religion? Wie wirkt sich die Tatsache, dass auch ezidische Frauen gegen den IS kämpfen, auf die traditionelle Frauenrolle der kurdischen Frau aus?

Politisch interessant wird sein, wie sich zukünftig die Kräfteverhältnisse in der Region Shengal entwickeln. Hält die Vereinbarung, alle Selbstverteidigungskräfte unter der Führung der YPŞ zu bündeln oder gibt es Konkurrenzen zwischen YBŞ und HPŞ?

Wird es einen Machtkampf zwischen der KDP von Präsident Barsani, der PKK und der irakischen Zentralregierung um die Vorherrschaft der Region Shengal geben? Wie wird die irakische Regierung auf die Autonomiebestrebungen der Eziden reagieren?

Reaktionen gibt es schon: ÊzîdiPress berichtete, dass die irakische Zentralregierung mehrere hundert ezidische Kämpfer bewaffnet hat. Der Oberkommandeur Shesho der HPŞ-Milizen hat in Gesprächen in Bagdad errreicht, dass die irakische Regierung die gesamten Kosten für Waffen und Ausrüstung der ezidischen Selbstverteidigungseinheiten trägt und ein Verwaltungsbüro für die HPŞ in Bagdad zur Verfügung gestellt wird. Dadurch kann die HPŞ-Einheit politisch und militärisch unabhängig agieren.